Kosmologie: Die neue Messlatte
Die Astronomische Einheit beträgt exakt 149 597 870 700 Meter: der mittlere Abstand zwischen Erde und Sonne. Das hat die Internationale Astronomische Union (IAU) Ende August auf ihrer 28. Generalversammlung in Peking beschlossen. Die Neudefinition der Maßeinheit löst eine seit 1976 geltende Regelung ab. Das Hauptproblem der alten Definition war ihre zeitliche Variabilität – aber als fixierte Größe verliert die Astronomische Einheit nun ihren historischen Bezug.
Denn geschichtlich betrachtet hatte die Astronomische Einheit ein wichtige Rolle: Sie war eine relative Einheit, ein Maßstab, mit dem sich relative Abstände im Sonnensystem sehr genau angeben ließen – auch wenn die absoluten Abstände bis in die Neuzeit hinein nur höchst ungenau bekannt waren. Schon in vorgeschichtlicher Zeit konnten aufmerksame Himmelsbeobachter die Regelmäßigkeiten der Bewegungen von Sonne, Mond und hellen Planeten erkennen, stetig verbesserte Winkelmessinstrumente lieferten immer genauere Daten der Planetenpositionen am Himmel. Aber aus diesen Daten ein räumliches Bild des Sonnensystems abzuleiten, war ein gewaltiger Kraftakt, denn die Entfernungen der Himmelskörper untereinander waren ebenso unbekannt wie der Abstand der Sonne von der Erde.
Aristarch von Samos als Pionier
Den ersten überlieferten Versuch, die Entfernung der Sonne von der Erde zu bestimmen, unternahm 280 v. Chr. Aristarch von Samos – mit einem Ergebnis von rund 7,5 Millionen Kilometern. Erst Johannes Kepler gelang es – 19 Jahrhunderte später! – anhand seiner Untersuchung der Marsbahn zu zeigen, dass der von Aristarch angegebene Wert um ein Vielfaches zu klein sein muss. Keplers große Leistung war es, aus den genauen Beobachtungsdaten insbesondere von Tycho Brahe ein maßstabsgerechtes Modell des Sonnensystems abzuleiten. Mit seinen berühmten drei Gesetzen beschreibt er die Bewegung der Planeten um die Sonne – aber diese Beschreibung ist relativer, nicht absoluter Natur. So setzt das dritte keplersche Gesetz die Größe der Planetenbahnen zueinander ins Verhältnis, die absoluten Größen bleiben dabei jedoch unbekannt. Es war also naheliegend, die Bahn der Erde als Maßstab für das Sonnensystem zu verwenden. Lange Zeit war es üblich, ein Zehntel der großen Halbachse der Erdbahn als Einheit zu nutzen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bürgerte sich dann langsam der Begriff "Astronomische Einheit" für die Länge der großen Halbachse der Erdbahn ein.
Unterdessen lieferten beispielsweise die Beobachtungen von Venusdurchgängen vor der Sonne sowie die Messung der Parallaxen von Mars und nahen Asteroiden immer genauere absolute Abstandswerte. Der große Durchbruch bei der Vermessung des Sonnensystems kam dann in den 1960er Jahren mit der Radartechnik, die eine genaue Messung der Laufzeit der Radiopulse von der Erde zu Planeten oder Asteroiden und zurück ermöglichte. Auf der Grundlage der ersten Ergebnisse dieser neuen Methode akzeptierte die Generalversammlung der IAU 1964 einen Wert von 149 600 000 Kilometern für die Astronomische Einheit.
Genauer, als die Natur erlaubt
Doch mit diesem ersten Versuch, die Astronomische Einheit endgültig festzulegen, begannen neue Probleme. Denn die Messungen wurden nun genauer als die Natur selbst: Die Bahn der Erde ist nicht konstant, sondern sie wird durch den gravitativen Einfluss der anderen Planeten, insbesondere Jupiter, gestört. Konstant wäre die Erdbahn nur in einem idealen Zwei-Körper-System aus Sonne und Erde.
So versuchte sich die Internationale Astronomische Union 1976 mit einer neuen Definition auf Basis einer idealisierten Vorstellung: Die Astronomische Einheit ist danach der Radius der Kreisbahn eines Objekts vernachlässigbarer Masse um die Sonne, dessen Umlaufzeit ein Jahr beträgt. Um alle Störungen zu eliminieren, betrachteten die Astronomen also ein isoliertes System aus Sonne und Erde, ließen die Erde auf einer idealen Kreisbahn laufen und machten die Erde zu einem physikalischen Testteilchen mit vernachlässigbarer Masse. Problematisch war nun einzig die Festlegung des Jahres – das ja eigentlich schlicht die Umlaufzeit der Erde um die Sonne ist. Hier fügten die Himmelsforscher eine feste Zahl in die Definition ein, die dem mittleren siderischen Jahr der Erde entspricht – also der wahren Dauer eines Umlaufs der Erde um die Sonne: 2π/k, wobei k die gaußsche Gravitationskonstante ist, die zugleich auf den Wert k = 0,01720209895 fixiert wurde.
Diese weder Laien noch Astronomiestudenten leicht vermittelbare Definition des Jahres und die damit verbundene Fixierung der gaußschen Gravitationskonstanten ist die Schwachstelle der Definition von 1976. Die gaußsche Gravitationskonstante ist die Wurzel der newtonschen Gravitationskonstanten, aber nicht in den üblichen Standardeinheiten des SI-Systems ausgedrückt, sondern in Einheiten, die in der Astronomie üblich sind: Erdenjahre statt Sekunden, Astronomische Einheiten statt Meter und Sonnenmassen statt Kilogramm. So wird die Definition hier einerseits rekursiv, weil sie die Astronomische Einheit bereits enthält (dieser Rekursion entgeht sie durch die Fixierung des Werts von k), andererseits ist der Wert von k in diesen Einheiten eben keine Konstante, weil die Erdbahn und insbesondere auch die Masse der Sonne sich ändern.
Nun also ein neuer, radikaler Versuch, die Astronomische Einheit zu definieren, um diese Probleme zu beseitigen. Mit der Festlegung der Astronomischen Einheit auf einen festen Zahlenwert – der auf den besten Messwerten unter der vorherigen Definition basiert – ist nun tatsächlich jede Änderung auf Grund physikalischer Prozesse ausgeschlossen. Der Preis dafür ist, dass die Astronomische Einheit endgültig ihre Anbindung an die Bahn der Erde und damit ihren historischen Kontext verliert.
In der Begründung für die Neudefinition wird unter anderem darauf hingewiesen, dass bei der Genauigkeit heutiger Abstandsmessungen keine Notwendigkeit mehr für einen messungsunabhängigen Skalenfaktor, wie es die Astronomischen Einheit ursprünglich war, besteht. Vielleicht hätte man es dabei belassen sollen: dass nämlich die Astronomische Einheit eine historische Größe ist – und zwar dann wieder die große Halbachse der Erdbahn –, für die es heute keine sinnvolle Verwendung mehr gibt. Natürlich ist sie immer noch ein "bequemer" Maßstab, um Größenverhältnisse in Planetensystemen darzustellen, aber für solche Darstellungen bedarf es keiner auf zehn Dezimalstellen genauen Definition. Und für alle physikalisch exakten Angaben stehen den Astronomen entweder die SI-Einheiten – also Meter und Kilometer – oder die astronomisch üblichen Lichtjahre zur Verfügung.
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