Strukturbiologie: Die Stadt in der Zelle
Nur ein DNA-Knäuel mit einer Membran drumherum? Folgt man Forschern auf eine Expeditionen hinein in den Zellkern, weicht das etwas dürftige Bild schnell dem eines riesigen Schwammes oder gar einer labyrinthischen Stadt. Das Zuhause der Gene ist von Kanälen und verwinkelten Straßen durchzogen, die sich noch dazu ständig verändern. Dennoch entsteht allmählich eine dreidimensionale Karte des Nukleus.
Man nehme einen Faden, zwanzig Kilometer lang und etwas dünner als ein Haar, zerschneide ihn in ein paar Dutzend Stücke und bringe diese in einem Tennisball unter. Nun, das wird durch beharrliches Stopfen schon zu machen sein. Also weiter: Entwirre nun das Knäuel wieder und sortiere die einzelnen Abschnitte fein säuberlich. Das dürfte auch Leute mit Fingerspitzengefühl einige Nerven kosten. Menschliche Zellen lösen so ein Problem ganz routiniert und fehlerfrei in weniger als einer Stunde.
Das Verzwirbeln und Entzwirbeln ist natürlich kein Selbstzweck. Schließlich beherbegt das Chromatin zigtausend Gene, die auch abgelesen werden wollen. Ob das geschieht, hängt unter anderem davon ab, wie gut die DNA-Lesegeräte an eine Sequenz heran kommen. Und das gelingt viel besser in offenem Euchromatin als im kompakten Heterochromatin – die dort liegenden Gene sind sämtlich abgeschaltet. Es ähnelt ein wenig der Situation, wenn mit dem Auto im Gewirr immer enger werdender Altstadtgässchen irgendwann einfach kein Durchkommen mehr ist.
Nun wohnen zwar in jeder Zellkernstadt die gleichen Leute, aber wer davon wach ist und wer schläft, ist überall anders. Oder etwas wissenschaftlicher formuliert: Das Genom der allermeisten Zellen eines Körpers ist identisch, aber der bei jeder davon in Gebrauch befindliche Teil – das Profil der aktiven Gene – weicht jeweils sehr voneinander ab.
Deshalb liegen dieselben Gene in der einen Zelle in ruhigen Schlafstädten, in einer anderen aber im hektischen Geschäftsviertel. Damit verwirklicht jeder Zelltyp eine eigene Architektur im Kern, legt quasi einen individuellen Stadtplan an. So sind in einer Leberzelle andere DNA-Schleifen in Hetero- beziehungsweise Euchromatin platziert als in einem Neuron – und dadurch eben verschiedene Gene stillgelegt oder tätig.
Thomas Cremer von der Universität München und andere Strukturbiologen beobachteten in den vergangenen Jahren, dass Heterochromatin bevorzugt am Rande und aktives Chromatin mehr im Inneren des Zellkerns rangiert. Wie die Forscher entdeckten, wandern einzelne Gene im Zuge ihrer Aktivierung nach innen, andere umgekehrt beim Stilllegen nach außen.
Welche gravierenden Folgen es hat, wenn die Ordnung im Nukleus gestört ist, zeigt sich bei dem sehr seltenen Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom. Bei dieser Erbkrankheit verliert das Chromatin die Haftung an die Kernhülle. Die betroffenen Kinder vergreisen bereits in jungen Jahren und haben eine Lebenserwartung von kaum mehr als zehn Jahren.
Die Anordnung scheint demnach alles andere als zufällig zu sein. Hierfür spricht auch der frühere Befund, dass sich die Vorliebe einzelner Erbgutabschnitte für einen bestimmten Platz offenbar über Jahrmillionen gewahrt hat. So rangiert Chromosom Nummer 19 im menschlichen Lymphozytenkern eher innen, Nummer 18 dagegen weiter außen. Bei ganz anders organisierten Hühnerchromosomen fand man in Lymphozyten die Gene, die denen auf der humanen Nummer 19 entsprechen, ebenfalls auf Erbgutträgern im Zentrum, die von Nummer 18 im Randbereich.
Übrigens, der Name Chromosom hat nichts mit Faden, Erbgut oder Verdrillen zu tun. Es ist eine gelehrte griechische Wortbildung und heisst "Farbkörper", weil die ersten Mikroskopiker feststellten, wie kinderleicht sich die Kernsubstanz anfärben lässt. Diese Tradition nahm die Arbeitsgruppe von Thomas Cremer ganz wörtlich auf und kartierte die Positionen der "Farbkörper" mit einer Chromosome Painting genannten Methode.
Der Ausflug in das zentrale Zellorganell zeigt, wie dessen erst spärlich kartografierte dreidimensionale Ordnung bestimmt, welche Gene abgelesen werden und welche stumm bleiben. Um das Genom zu verstehen, scheint nicht nur die Kenntnis seiner Sequenz, sondern auch die seiner dynamischen Gestalt vonnöten.
So ist es bislang ein Rätsel, wie es den durch die verschlungene Zellkernstadt schwirrenden Proteinfaktoren gelingt, einzelne Gene aufzuspüren. „Ein ortsunkundiger Taxifahrer, vom Hauptbahnhof losgeschickt, ein bestimmtes Haus irgendwo in München zu finden, hätte eine ganz ähnliche Aufgabe“, veranschaulicht Cremer. Und dabei besäße der bedauernswerte Wagenlenker keinen Stadtplan als Hilfe. Ebenso wenig können die Eiweiße im Chromatin-Labyrinth einem Ariadnefaden folgen.
Das endlos lange Erbgutfadenknäuel, das die Zellen so virtuos handhaben, heißt Chromatin und ist nicht bloß nackte DNA. Denn die liegt im Zellkern in einer engen Liaison mit zahlreichen Proteinen vor, vornehmlich den Histonen. Um diese scheibenförmigen Eiweiße wickelt sich der Desoxyribonukleinzwirn derart, dass sich die Gestalt einer Perlenkette ergibt. Überdies dienen die Histone nicht nur als passives Gerüst, sondern empfangen Signale, woraufhin sich die Perlen zusammenziehen oder auseinandergleiten. Bei genauem Hinsehen zeigt sich Chromatin also als ein sehr dynamischer Stoff. Zellbiologen unterscheiden zwei Webarten: Eine stark verdrillte – das Heterochromatin und eine sehr lockere – das Euchromatin.
Das Verzwirbeln und Entzwirbeln ist natürlich kein Selbstzweck. Schließlich beherbegt das Chromatin zigtausend Gene, die auch abgelesen werden wollen. Ob das geschieht, hängt unter anderem davon ab, wie gut die DNA-Lesegeräte an eine Sequenz heran kommen. Und das gelingt viel besser in offenem Euchromatin als im kompakten Heterochromatin – die dort liegenden Gene sind sämtlich abgeschaltet. Es ähnelt ein wenig der Situation, wenn mit dem Auto im Gewirr immer enger werdender Altstadtgässchen irgendwann einfach kein Durchkommen mehr ist.
Nun wohnen zwar in jeder Zellkernstadt die gleichen Leute, aber wer davon wach ist und wer schläft, ist überall anders. Oder etwas wissenschaftlicher formuliert: Das Genom der allermeisten Zellen eines Körpers ist identisch, aber der bei jeder davon in Gebrauch befindliche Teil – das Profil der aktiven Gene – weicht jeweils sehr voneinander ab.
Deshalb liegen dieselben Gene in der einen Zelle in ruhigen Schlafstädten, in einer anderen aber im hektischen Geschäftsviertel. Damit verwirklicht jeder Zelltyp eine eigene Architektur im Kern, legt quasi einen individuellen Stadtplan an. So sind in einer Leberzelle andere DNA-Schleifen in Hetero- beziehungsweise Euchromatin platziert als in einem Neuron – und dadurch eben verschiedene Gene stillgelegt oder tätig.
Thomas Cremer von der Universität München und andere Strukturbiologen beobachteten in den vergangenen Jahren, dass Heterochromatin bevorzugt am Rande und aktives Chromatin mehr im Inneren des Zellkerns rangiert. Wie die Forscher entdeckten, wandern einzelne Gene im Zuge ihrer Aktivierung nach innen, andere umgekehrt beim Stilllegen nach außen.
Welche gravierenden Folgen es hat, wenn die Ordnung im Nukleus gestört ist, zeigt sich bei dem sehr seltenen Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom. Bei dieser Erbkrankheit verliert das Chromatin die Haftung an die Kernhülle. Die betroffenen Kinder vergreisen bereits in jungen Jahren und haben eine Lebenserwartung von kaum mehr als zehn Jahren.
In einer neuen Arbeit weist Thomas Cremer zusammen mit Münchner und Heidelberger Kollegen nach, dass es nicht nur Genen, sondern auch einzelnen Chromosomen keineswegs gleichgültig ist, wo sie sich im Zellkern befinden. Kleine Chromosomen halten sich bevorzugt in der Mitte des Kerns auf, große eher in der Peripherie. Das ist insofern überraschend, als Computerprogramme, welche die Verteilung nach geometrischen Gesetzen simulierten, ein umgekehrtes Belegungsmuster vorhergesagt hatten.
Die Anordnung scheint demnach alles andere als zufällig zu sein. Hierfür spricht auch der frühere Befund, dass sich die Vorliebe einzelner Erbgutabschnitte für einen bestimmten Platz offenbar über Jahrmillionen gewahrt hat. So rangiert Chromosom Nummer 19 im menschlichen Lymphozytenkern eher innen, Nummer 18 dagegen weiter außen. Bei ganz anders organisierten Hühnerchromosomen fand man in Lymphozyten die Gene, die denen auf der humanen Nummer 19 entsprechen, ebenfalls auf Erbgutträgern im Zentrum, die von Nummer 18 im Randbereich.
Übrigens, der Name Chromosom hat nichts mit Faden, Erbgut oder Verdrillen zu tun. Es ist eine gelehrte griechische Wortbildung und heisst "Farbkörper", weil die ersten Mikroskopiker feststellten, wie kinderleicht sich die Kernsubstanz anfärben lässt. Diese Tradition nahm die Arbeitsgruppe von Thomas Cremer ganz wörtlich auf und kartierte die Positionen der "Farbkörper" mit einer Chromosome Painting genannten Methode.
Durch Kombinieren verschiedener Fluoreszenzfarbstoffe lässt sich jedes Chromosom individuell kolorieren und daurch im Mikroskop verfolgen. Die 3-D-Analyse der bunten Zellkerne enthüllte, dass sich die zwei mal 23 Chromatinknäuel nicht mischen oder überlappen. Jedes Chromosom reserviert demnach ein Revier für sich. Für diesen Gebietsanspruch der Erbgutträger wurde bereits in den 1980er Jahren die Bezeichnung Chromosomen-Territorium vorgeschlagen. Wen sie zum Nachbarn haben, schien die von Cremers Team überwachten Chromosomen indes wenig zu kümmern: Immer wieder kamen Areale ganz verschiedener Färbung nebeneinander zu liegen.
In den Spalten zwischen den Chromosomen-Territorien liegt der Raum, in dem die Lesemaschinen, Signalmoleküle und RNA-Abschriften von Genen verkehren. Interchromatin-Kompartiment nennt Thomas Cremer dieses verzweigte System, das die Straßen, Tunnel und Gassen der Zellkernstadt bildet. Die optische Analyse der Chromosomen-Territorien selbst lässt diese als schwammartige Gebilde erscheinen. Daher ist es ohne weiteres denkbar, dass der Verkehr durch Poren und Kanäle auch ins Innere eines Schwammes vordringen kann. Jedenfalls dann, wenn das Chromatin im aufgesuchten Gebiet nicht zu stark verdichtet ist.
Der Ausflug in das zentrale Zellorganell zeigt, wie dessen erst spärlich kartografierte dreidimensionale Ordnung bestimmt, welche Gene abgelesen werden und welche stumm bleiben. Um das Genom zu verstehen, scheint nicht nur die Kenntnis seiner Sequenz, sondern auch die seiner dynamischen Gestalt vonnöten.
So ist es bislang ein Rätsel, wie es den durch die verschlungene Zellkernstadt schwirrenden Proteinfaktoren gelingt, einzelne Gene aufzuspüren. „Ein ortsunkundiger Taxifahrer, vom Hauptbahnhof losgeschickt, ein bestimmtes Haus irgendwo in München zu finden, hätte eine ganz ähnliche Aufgabe“, veranschaulicht Cremer. Und dabei besäße der bedauernswerte Wagenlenker keinen Stadtplan als Hilfe. Ebenso wenig können die Eiweiße im Chromatin-Labyrinth einem Ariadnefaden folgen.
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