Klebstoffe: Die Superhaftkraft der Napfschnecke
Superhelden haben meist eine unscheinbare Fassade. Spiderman gibt den Schuljungen Peter Parker, Superman den schüchternen Clark Kent – und Patella vulgata bleibt als Gemeine Napfschnecke inkognito. Der Name soll zeigen, wie gewöhnlich die Art ist. Doch das wird dem auf Felsen nahe dem Ufer lebenden Tier nicht gerecht. Seine Zähne fertigt es aus dem härtesten uns bekannten Biomaterial. Außerdem produziert es einen neu entdeckten Sekundenkleber, der in Medizin und Industrie Begehrlichkeiten weckt.
Dessen Haftkraft lässt sich im Schneckenhabitat der felsigen Brandungszonen leicht beobachten. Schon bei der kleinsten Irritation, aber auch bei Ebbe hängen die Tiere unverrückbar am Untergrund fest. Auch für diese Studie mussten sie vom Team um Victor Kang von der University of Cambridge vorsichtig vom Stein gemeißelt werden. Ein Mysterium, bei dem mehr als ein Jahrhundert lang eine Saugwirkung oder Kontraktion des muskulösen Schneckenfußes vermutet wurde. Jetzt weiß man es besser: Für die bombenfeste Anheftung sorgt ein Klebeschleim.
Klebstoffe fast komplett aus Wasser
Er ist eine weitere Waffe im Schleimarsenal der Schnecke. Andere Organismen im Wasser und auch an Land sind ähnlich gut ausgestattet, und die marinen Vertreter vom Seestern bis zur Muschel sind besonders kreative Kleber. All diese Adhäsive sind meist biologische Schleime und bestehen zu mindestens 90 Prozent aus Wasser. Sie sind Hydrogele, in denen unter anderem Proteine und komplexe Zucker das Wasser fest binden. Diese Hydrogele unterscheiden sich von Art zu Art in ihren Funktionen, die maßgeschneidert sind für den Bedarf der betreffenden Spezies.
Da sind auf der einen Seite sesshafte Tiere wie Muscheln oder Seepocken, deren frei schwimmende Larven an einem passenden Standort dauerhaft festkleben und sich dort in die ausgewachsene Form umwandeln. Auf der anderen Seite erlaubt der reversible Seesternkleber den vielen hundert Füßen der Tiere, sich im schnellen Wechsel anzuheften und abzulösen. Nachgiebig ist er trotzdem nicht: »Seesterne verlieren ihre Füße, wenn sie mit Gewalt vom Untergrund abgelöst werden«, sagt Birgit Lengerer von der Universität Innsbruck, die an den Tieren forscht, aber auch an der aktuellen Schneckenstudie beteiligt war. »Der Fuß an sich ist schwächer als der Kleber.«
Napfschnecken fallen als vorübergehende Dauerkleber im Takt der Gezeiten zwischen diese Extreme. Anders als Muscheln oder Seepocken filtern sie keine Nahrungspartikel aus dem Wasser, sondern weiden aktiv mikrobielle Schleime und Mikroalgen vom Gestein ab. Dabei legen sie beträchtliche Distanzen zurück und haften in der Bewegung mit einem recht schwachen Kriechschleim. In ihrem Habitat müssen sie aber auch starken Wellen, Fressfeinden sowie der Austrocknung bei Ebbe in einer jeweils eigenen Felskuhle widerstehen – dank Sekundenkleber.
Auch das schwächste dieser marinen Bioadhäsive funktioniert zuverlässig auf feuchtem, nassem und vielleicht auch trockenem Untergrund, und er klebt in veränderliche Milieus sowie auf unreinen Oberflächen. Das ist ein Kunststück, das künstliche Klebstoffe kaum oder gar nicht bewerkstelligen, von extrem giftigen Ausnahmen einmal abgesehen. Warum also nicht von marinen Vorbildern die eine oder andere Anregung für eine neue Generation unbedenklicher und biologisch abbaubarer Klebstoffe holen?
Bedarf vor allem in der Medizin
Tatsächlich ist das Interesse an derartigen Adhäsiven in den letzten Jahren stark gestiegen. In der Forschung geht es vorerst auch um eine möglichst große Auswahl, um Besonderheiten sowie Gemeinsamkeiten der natürlichen Klebstoffe zu entschlüsseln. Wie viele andere biologische Schleime sind diese Adhäsive aber häufig komplexe Systeme, deren Funktionen von der Wechselwirkung ihrer Bestandteile abhängen. Für eine genaue Analyse fehlen hier oft noch die geeigneten Methoden, und einzelne Labore stoßen schnell an ihre Fachgrenzen.
»Die Vorteile ungiftiger und biologisch abbaubarer Klebstoffe müssten einen höheren Preis aufwiegen«Birgit Lengerer
Methodisch schwer zugänglich sind beispielsweise die Glykane. Das sind hochkomplexe Zuckerketten, die in vielen Hydrogelen essenziell sind, aber vorerst nur von wenigen Forschergruppen untersucht werden können. Interdisziplinäre Konferenzen können hier helfen und wissenschaftliche Kooperationen stiften, wie etwa beim Napfschnecken-Projekt. »Da sind ganz unterschiedliche Forscher zusammengekommen, unter anderem Materialwissenschaftler, Biologen, Chemiker, aber auch Zahntechniker oder Leute aus der Industrie«, so Lengerer.
Das Interesse an Bioklebern ist weit verbreitet. Doch die kostengünstige Herstellung bleibt gerade bei technischen Anwendungen ein entscheidender Faktor. »Die Vorteile ungiftiger und biologisch abbaubarer Klebstoffe müssten einen höheren Preis aufwiegen«, sagt Lengerer. »Denn es gibt ja bereits günstige Kleber, die aber leider fast alle toxisch sind.« So auch in der Holzindustrie, bei der unter anderem bei der Herstellung von Spanplatten viel geklebt werde, wobei giftige Substanzen in den Boden und die Luft gelangen könnten.
Der bislang größte Bedarf besteht aber in der Medizin, die ohnehin auf ungiftige Produkte angewiesen ist. »Mit einem gut verträglichen Bioklebstoff, der sich bei Bedarf auch wieder entfernen lässt, müsste beispielsweise bei Operationen nicht mehr genäht werden«, so Lengerer. Solche Kleber könnten ebenso für Pflaster verwendet werden oder als Medium für die gezielte Freigabe von Wirkstoffen im Körper. Grundsätzlich sei die Bereitschaft in der Biomedizin sogar recht hoch, Geld in die Entwicklung sicherer Verfahren zu investieren.
Ein Fachgebiet auf dem Sprung
Und es gibt bereits erste bioinspirierte Kleber. Sie wurden unter anderem in Anlehnung an die Adhäsive mariner Würmer, Muscheln oder auch terrestrischer Nacktschnecken entwickelt, die sich damit so fest verankern, dass sie nicht einmal von Vögeln weggepickt werden können. An die maßgeschneiderten Funktionen ihrer biologischen Vorbilder reichen diese Produkte dennoch nicht heran. Ein Grund dafür mag sein, dass marine Klebstoffe bislang nicht bis ins Detail entschlüsselt werden konnten. Die Napfschnecken-Studie leistet hier Pionierarbeit, indem sie die essenziellen Proteine und Zucker des Klebeschleims vollständig katalogisierte.
Von den 171 Proteinen wurde dann ein gutes Dutzend ganz genau unter die Lupe genommen. Die Moleküle entpuppten sich zur Überraschung der Forscher als alte Bekannte. Sie finden sich in sehr ähnlicher Form auch in anderen temporären Klebstoffen bei Seesternen, Seeigeln, Plattwürmern und weiteren marinen Organismen. Selbst evolutionär weit entfernte Tiergruppen haben das Rad in puncto Klebstoff wohl nicht neu erfunden: Das Grundprinzip und die Schlüsselelemente der reversiblen Anheftung sind möglicherweise über lange Zeiträume in der Evolution konserviert.
Das könnte von Vorteil für die Forschung sein, die am exakten Nachbau der komplexen Bioadhäsive scheitert. »Deshalb schauen wir uns jetzt unterschiedliche Organismen im Detail an«, sagt Lengerer. »Wir hoffen, auf diese Weise die grundlegenden Prinzipien gut genug zu verstehen, um sie vereinfachen und dann auch übernehmen zu können.« Vielleicht lassen sich damit die verbleibenden Superklebekräfte der Napfschnecke aufklären. Noch ist nämlich unklar, wie sie ihren Haftschleim so blitzschnell produziert – und ebenso flink wieder auflösen kann.
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