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Artenvielfalt: Die Welt wird ärmer

Die Natur erbringt jedes Jahr Dienstleistungen im Wert von mehreren Billionen Euro. Doch ihre Kraft schwindet dramatisch. Wir leben mehr denn je von der Substanz.
Sojaernte in Mato Grosso

Die Welt ist dabei, den Zauber ihrer Vielfalt zu verlieren. Viele, gerade wohlhabende Staaten leben weit über ihre Verhältnisse und damit letztlich auf Kosten anderer. Nur noch ein Viertel aller Landflächen ist unberührt, überall auf der Welt geht die Biodiversität zurück, und die Natur ist immer weniger in der Lage, die Funktionen im Leben der Menschen zu erfüllen, auf die diese sich – zunehmend gedankenlos – verlassen. Wahrlich, es ist kein freundliches Bild, das die Forscher da zeichnen, sondern ein ziemlich düsteres, mit bedrückenden Ergebnissen und höchstens einem Hauch zartrosa Hoffnung.

Die schonungslose Analyse stammt vom internationalen Wissenschaftlergremium IPBES, dem Weltrat für Biodiversität und Ökosystem-Dienstleistungen. Der sperrige Name der erst 2012 gegründeten Organisation mit 129 Mitgliedsstaaten mag dazu beitragen, dass sie eher unbekannt ist und im Schatten des ähnlich strukturierten Weltklimarats IPCC steht. Gerade in Deutschland war das Medienecho auf die Berichte der Umweltforscher im Vergleich zum englischsprachigen Raum besonders gering.

Zudem, das hat der Vorsitzende Robert Watson beobachtet, klingen Biodiversität und Ökosystem-Dienstleistungen für viele Menschen wie ein verstaubtes, akademisches Thema. Er widerspricht sogleich: »Nichts könnte der Wahrheit ferner liegen. Sie sind das Fundament unserer Ernährung, von sauberem Wasser und Energie. Sie bilden das Herz nicht nur unseres Überlebens, sondern auch der Kulturen, Identitäten und der Freude am Leben.« Eine Natur im Gleichgewicht liefert eben nicht nur die Lebensgrundlagen, sondern schützt auch vor Unwettern und Fluten, beseitigt viele Abfallstoffe und ermöglicht Erlebnisse wie einen Waldspaziergang oder das Beobachten friedlich grasender Nashörner.

Der IPBES hat seit dem 17. März 2018 bei einer Konferenz in Medellin, Kolumbien gleich fünf neue Berichte fertig gestellt. Als Erstes hat das Gremium davon wie üblich jeweils eine Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger veröffentlicht, die, wie in dem Gremium und beim IPCC üblich, mit Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten abgestimmt wurden. Sie bilden damit eine gemeinsame Einschätzung, hinter die die beteiligten Staaten nicht mehr zurückkönnen. Der Preis für dieses Vorgehen ist freilich, dass in der letzten Sitzung manche Formulierung weichgespült wird. Erst in den vollen Berichten, die demnächst erscheinen, haben die Forscher allein die Hoheit über den Inhalt.

Einer der fünf Berichte behandelt die Degeneration und den Verlust von ertragfähigen Landflächen, die ausgelaugt werden oder sogar zu Wüsten verkommen. Die vier anderen widmen sich den Regionen Europa und Zentralasien, Asien und Pazifik, den Amerikas sowie Afrika und analysieren dort den Zustand der Umwelt. Die wachsende Bevölkerung, der zunehmende Wohlstand, Monokulturen in der Landwirtschaft und der Verlust von traditionellem Wissen setzen besonders der biologischen Vielfalt stark zu. Der Klimawandel wiederum verstärkt die anderen Einflussfaktoren und wird teilweise selbst von ihnen angetrieben.

Immense Dienstleistung der Natur

All diese Prozesse nagen am Reichtum, den die Natur bereitstellt. Ihre Dienstleistungen sind zum Beispiel in Amerika 24 Billionen US-Dollar (19 Billionen Euro) pro Jahr wert – das entspricht laut IPBES dem konventionell ermittelten Wirtschaftsprodukt der Region. Auf Brasilien entfallen 6,8, auf die USA 5,3 Billionen US-Dollar. Doch 65 Prozent dieser Dienstleistungen gehen tendenziell zurück, stellt das Forschergremium fest – 21 Prozent davon sogar stark. Einen solchen Detailreichtum indes enthalten die übrigen Berichte nicht. In Asien und Afrika scheitert die Kalkulation an der mangelhaften Datenbasis. Über Europa und Zentralasien immerhin gibt es die Angabe, dass schon Teile des Ökosystems 10,8 Billionen Dollar pro Jahr wert sind, aber auf eine belastbare Gesamtsumme konnten sich die Forscher dem Vernehmen nach nicht einigen.

Trotz seines natürlichen Wohlstands führt Europa so viel Nahrungs- und Futtermittel ein, dass es eine zusätzliche Fläche in der Größe Deutschlands bräuchte, um alles selbst zu produzieren. Diese Felder, Wälder und Weiden liegen jedoch auf anderen Kontinenten. »Das finde ich persönlich eines der gravierendsten Ergebnisse unserer Studie«, sagt Jennifer Hauck vom Umweltforschungszentrum Halle-Leipzig und der Beratungsfirma CoKnow, die am Europa-Report mitgearbeitet hat. »Damit trägt unser aller Handeln indirekt nicht nur zum Verlust der Arten vor unserer Haustüre bei, sondern weltweit. Vor allem wir Westeuropäer hinterlassen enorme Fußabdrücke in verschiedenen Teilen der Welt.«

Diese Fußabdrücke haben die Forscher im Fall von Europa und Zentralasien sogar quantifiziert, und zwar in Form von Anbauflächen. Insgesamt stehen hier für jeden Menschen 2,9 Hektar Biokapazität zur Verfügung, er verbraucht aber Güter von 4,6 Hektar – ist also sozusagen mit 1,7 Hektar im Soll. In Deutschland liegt die Differenz noch höher, zwischen 2,4 und 4,6 Hektar. Die USA, so kann man dem Amerika-Bericht entnehmen, kommen auf minus fünf Hektar.

Diese Defizit-Angabe ist keine reine Rechengröße, wie der IPBES feststellt, denn die fehlende Kapazität kann drastische Folgen haben, wenn eine Nation nicht das Geld hat, einfach alles zuzukaufen, was sie braucht. In manchen Ländern Zentral- und Osteuropas sowie Zentralasiens bedrohen die massiven Exporte von Ländereien, die inzwischen Besitzer in Westeuropa oder woanders haben, bereits die Nahrungsmittelsicherheit. Das heißt, dort wird die Fläche genutzt, um die Bedürfnisse der reichen Westeuropäer zu decken, und für die Einheimischen bleibt nicht genug übrig. Vor solchem "Land-Grabbing" durch fremde Investoren warnen auch die Autoren des Afrika-Berichts.

Wald stirbt für Fleisch

Brasilien gehört ebenfalls zu den Ländern, die Ackerflächen für die Bedürfnisse der reichen Länder im Norden bereitstellen. Das Land ist dem IPBES eine der wenigen detaillierten Erwähnungen wert – sonst, sagen beteiligte Forscher, habe der Platz in den etwa 40-seitigen Zusammenfassungen nicht für viele Beispiele gereicht, und man habe auch nicht einzelne Staaten herausstellen und in ein schlechtes Licht rücken wollen. Doch in Brasilien schreitet der Verlust von Naturflächen besonders rapide voran. So hat sich die Ackerfläche im Nordosten des Landes zwischen 2003 und 2013 von 1,2 auf 2,5 Millionen Hektar verdoppelt. Drei Viertel der Felder wurden aus intakten so genannten Cerrados geschnitten. Solche Ökosysteme stehen weit weniger im Fokus der Öffentlichkeit als der Amazonasregenwald, der inzwischen leidlich geschützt wird, sind aber auch wichtig. Doch in Brasilien kommt es häufig vor, dass über zig Kilometer entlang einer Überlandstraße innerhalb weniger Jahre aus ursprünglichem Wald gewaltige Sojafelder oder Eukalyptusplantagen werden, ohne dass sich die jeweilige Staatsregierung groß dafür interessiert oder Einfluss nehmen könnte.

Solche Abholzung und Umnutzung ist oft der erste Schritt zu einer Degeneration und dem eventuellen Verlust der Landflächen, stellt der fünfte der neuen Berichte fest. 1,5 Milliarden Hektar natürliches Ökosystem (410-mal die Fläche Deutschlands) waren bis 2014 bereits in Anbauflächen umgewandelt worden. Nur noch 25 Prozent der Erdoberfläche sind unberührt, und der Prozess geht beschleunigt weiter: 2050 dürften es bloß noch zehn Prozent sein, schätzen die Wissenschaftler.

Diese Prozesse kosteten die Staaten der Welt viel Geld, so der IPBES: Etwa zehn Prozent der Weltwirtschaftsleistung des Jahres 2010, das wären ungefähr sechs Billionen Dollar, gingen durch die Degeneration von Land verloren. Feuchtgebiete sind davon besonders stark betroffen, sagt der Italiener Luca Montanarella, der beim Bericht über Flächenverluste den Ko-Vorsitz hatte. Seit Beginn der modernen Zeit sind 87 Prozent umgewandelt worden, seit 1900 allein 54 Prozent. Europa hat seit 1970 die Hälfte seiner Feuchtgebiete verloren. Insgesamt gefährdet die Degeneration von Land die Lebensgrundlage von 3,2 Milliarden Menschen, so der IPBES-Bericht.

Umweltschützer zeigen sich anhand der vorgestellten Analysen entsetzt. »Die Zustandsberichte belegen, wie schlecht es um die Natur und die biologische Vielfalt auf unserem Planeten bestellt ist«, kommentiert der WWF-Experte Günter Mitlacher die Berichte. »Das Ergebnis ist nicht nur eine ökologische, sondern auch eine zutiefst menschliche Katastrophe.« Alice Jay, Sprecherin der internationalen Initiative Avaaz, ergänzt: »Die Menschheit legt die Kettensäge an den Baum des Lebens. Die Ausrottung von Arten tritt nun offiziell neben den Klimawandel als große Gefahr für die Zukunft.«

Welche Auswege gibt es?

Doch die IPBES-Forscher formulieren auch vage Auswege aus der Krise: Proaktive Entscheidungen in Umweltfragen, Umweltmanagement und Kooperation zwischen Staaten zeigten sich in den erstellten Zukunftsszenarien und -simulationen immer wieder als Erfolgsfaktoren. Es gebe außerdem erste ermutigende Trends bei Schutzgebieten und Waldbedeckung. In Asien etwa reißt vor allem der Nordosten des Kontinents, wo die Forstflächen seit 1990 um fast ein Viertel gewachsen sind, den Rest heraus. Irene Ring von der Technischen Universität Dresden, eine weitere Autorin des Europa-Reports, hebt zudem eine politische Idee Portugals hervor, das Gemeinden mit hohem Anteil an Schutzgebieten beim Finanzausgleich besserstellt. »Wir bräuchten allerdings speziell für Deutschland ein umfassendes, nationales Ökosystem-Assessment, das leider immer noch aussteht.«

Die Zahlen und Instrumente reichen jedoch bei Weitem nicht, so die Forscher des IPBES: »Es braucht eine weit reichende gesellschaftliche Transformation, die eine Änderung unserer Lebensstile einschließt«, sagt Jennifer Hauck. Die gleiche Botschaft hat Josef Settele, ebenfalls vom Umweltforschungszentrum, der als Ko-Vorsitzender einer Arbeitsgruppe bis zum Jahr 2019 einen zusammenfassenden globalen Bericht erstellen will. »Lösungen hängen vor allem an Lebensstilen, die insbesondere – aber nicht nur – in entwickelten Ländern vorherrschend sind und durch internationale Vernetzungen auch Konsequenzen weit außerhalb der jeweiligen Staaten haben.«

Sollte das nicht bald beginnen, enthalten die IPBES-Berichte eine ernste Warnung, die die Generalsekretärin Anne Larigauderie ausspricht: »Das Versagen der Politik, den Rückgang der Biodiversität und die Degeneration von Land zu stoppen, gefährdet ernsthaft die Chance jeder Region und fast jedes Landes, seine globalen Entwicklungsziele zu erreichen. Reiche, vielfältige Ökosystem sind unsere Versicherungspolice gegen unvorhergesehene Katastrophen.«

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