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Felsmalereien im Regenwald: Die Wiege der Götter

Tief im kolumbianischen Regenwald stießen Forscher auf tausende Malereien eines unbekannten Volks. Entstand hier die Götterwelt der späteren Hochkulturen Mittel- und Südamerikas?
Jahrtausendealte Kunst

Carlos Castaño Uribe befand sich mitten über dem Amazonasgebiet, als sein Pilot wegen eines Unwetters die vorgesehene Route ändern musste. Völlig unerwartet tauchte vor seinen Augen aus dem Regenwald ein bisher unbekanntes Tafelgebirge auf. Gebannt ließ er die Maschine Runde um Runde über den Bergen kreisen. Schon kurze Zeit später erklärte Castaño Uribe, damals Chef der kolumbianischen Nationalparkverwaltung, das Gebiet zum »Chiribiquete-Nationalpark«. Das war 1989.

Ein Jahr später kehrte er an der Spitze einer interdisziplinären Forschungsexpedition zurück – mit Helikoptern, denn auf dem Landweg sind die Berge praktisch nicht zu erreichen. Während die Biologen sich an endemischen Tierarten begeisterten und die Geologen die bizarr geformten, 1,6 Milliarden Jahre alten Felsen studierten, entdeckte Castaño Uribe die größte Fundstelle an prähistorischen Felsmalereien Amerikas.

Womöglich handelt es sich sogar um die größte der Welt. Denn bis jetzt konnte der Archäologe, heute wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Herencia Ambiental Caribe, nur einen kleinen Teil des mehr als 200 Kilometer langen und 50 Kilometer breiten Gebirges begehen. Er fand damals und bei späteren Expeditionen Hunderttausende von Felszeichnungen, verteilt auf Dutzende Felswänden.

Die mit Ocker gemalten Bilder sind zwischen einem Zentimeter und anderthalb Metern groß. Sie zeigen Menschen, viele davon mit Speerschleudern, einer eher ungewöhnlichen Waffe für Bewohner von dichtem Regenwald. Daneben finden sich Tiere, anthropomorphe Wesen, rätselhafte Symbole und geometrische Muster. Das am häufigsten abgebildete Tier ist der Jaguar. Castaño Uribe entdeckte auch zahlreiche Symbole und Wesen, die wir heutzutage als Kunstwerke in den südamerikanischen Museen bewundern oder aus den Kodizes der Maya kennen: zum Beispiel den anthropomorphen »Jaguarmann«, den »Stabgott« Wiraqucha oder die »Gefiederte Schlange« alias Quetzalcoatl, die Schöpfungsgottheit der Tolteken, Maya und Mexika, Letztere besser bekannt unter der Bezeichnung Azteken.

Verewigten sich hier schon die allerersten Amerikaner?

Wann diese Kunstwerke entstanden, lässt sich leider nicht ohne Weiteres ermitteln. Das Alter der Ockerfarbe an den Felswänden selbst kann nicht bestimmt werden. Doch mit Hilfe der Radiokohlenstoffmethode datierte Castaño Uribe Holzkohlereste aus insgesamt 50 Feuerstellen, die wahrscheinlich von den Schöpfern der Felsmalereien genutzt wurden. Darauf deuten Tierknochen, Samen essbarer Früchte sowie Ockerstückchen und mit Ocker gefärbte Steinfragmente hin, die die Forscher in den Feuerstellen fanden. Während die jüngste vor etwa 500 Jahren brannte, also etwa zu der Zeit, als die ersten Europäer in die Gegend kamen, datierte die älteste auf erstaunliche 19 500 Jahre. Damals sollten aber nach Meinung der meisten Forscher noch gar keine Menschen in Südamerika gelebt haben. Ist die Bestimmung falsch? Gut möglich, denn die Radiokohlenstoffmethode gilt noch immer als hochkomplex und fehleranfällig. Allerdings ermittelten Archäologen für Fundstellen in Chile und Brasilien sogar ein noch höheres Alter. Auch diese Datierungen sind umstritten. Doch womöglich gelangte der Mensch tatsächlich viel früher auf den amerikanischen Doppelkontinent als bislang angenommen. Die Malereien am Chiribiquete könnten zu Kronzeugen dieser frühen Wanderung werden.

Kriegshunde der Spanier? | Hielten die Maler hier ihre ersten Kontakte mit den Eindringlingen aus Europa fest? Die dargestellte Szene erinnert an einen Bericht der Konquistadoren, die mit ihren Kriegshunden Angst und Schrecken unter den Einheimischen verbreiteten. Ganz oben zerstückeln die bulligen Tiere einen oder mehrere Menschen, in der Bildmitte werden sie von den Indianern mit Gaben besänftigt.

Wie sich die Schöpfer der Bilder selbst nannten, weiß niemand. Trotz des gewaltigen Zeitraums von mehreren tausend Jahren bleiben die abgebildeten Motive im Wesentlichen die gleichen. Lediglich der Stil ändert sich von der ältesten zur jüngsten Phase. Das Verbreitungsgebiet der namenlosen Kultur, die Castaño Uribe nüchtern »Tradición Cultural Chiribiquete« nennt, ging weit über das Areal des heutigen Nationalparks hinaus. Seine Südgrenze bilden die felsigen Ufer des Río Caquetá, der in den Anden entspringt und später in den Amazonas mündet. Hier stießen die Forscher auf Steingravuren. Bis zu 5000 davon zählten sie bereits. Im Norden befindet sich der große Fundort »La Lindosa«, ein niedriger Gebirgsstock, der wie der Chiribiquete geologisch zu den Ausläufern des Berglands von Guayana gehört. Im Frühjahr 2017 wurden dort neue Felszeichnungen entdeckt. Und die Suche nach weiteren Fundstätten ist noch lange nicht abgeschlossen.

Ein Mythos der am Río Caquetá lebenden Uitoto-Indianer untermauert die frühe Datierung. Laut dieser Erzählung entstanden die Gravuren zu einer Zeit, in der »der Sonnengott alle Bäume verbrannte, so dass überall nur Gras wuchs«. Es ist eine Beschreibung der Vegetationsform, die im Amazonasbecken während und nach dem letzten eiszeitlichen Maximum, also vor gut 20 000 Jahren, vorherrschte. Damals war das Amazonasbecken in weiten Teilen kein Regenwald, sondern eine grasbewachsene Savanne.

Heute ist nicht nur der Chiribiquete eine menschenleere Region, auch am Mittellauf des Río Caquetá leben auf einer Länge von mehreren hundert Kilometern nicht mehr als 3000 Menschen meist indianischer Abstammung. Wie sah es dort in vorspanischer Zeit aus? Dicke und ausgedehnte Schichten von künstlicher Schwarzerde, so genannter »terra preta«, in der Nähe des Flusses legen nahe, dass die frühen Bewohner der Gegend intensiv Landwirtschaft betrieben. Dies wiederum deutet auf eine hohe Bevölkerungszahl hin, vielleicht gab es sogar urbane Zentren. Von »Städten« sprechen jedenfalls die Primärquellen, die Berichte der ersten Konquistadoren, die um 1540 in den Nordwesten Amazoniens gelangten.

Auch von einem besonders kriegerischen Stamm ist die Rede, dessen Waffen die Europäer erwähnenswert finden: Es sind Speerschleudern, wie wir sie in den Malereien finden. Haben sich Angehörige dieser Volksgruppe, die man heute Karijona nennt, an den Felswänden verewigt? Nach Berichten von Missionaren des 18. Jahrhunderts lebten tatsächlich Karijona auf den Tafelbergen und benutzten solche Waffen.

Wo der Schöpfergott Wiraqucha die Erde betrat

Auch der Anthropologe Fernando Urbina Rangel von der Universidad Nacional de Colombia in Bogotá erforscht die Felsbilder am Río Caquetá und bei La Lindosa. Dort hat er Malereien entdeckt, die das erste gewalttätige Zusammentreffen der Indios mit den Konquistadoren wiedergeben könnten. Sie zeigen im ersten Bild, wie ungewöhnliche Wesen – Urbina Rangel interpretiert sie als Kriegshunde, die die Spanier mit sich führten – eine Gruppe Indianer bedrohen.

Im zweiten Bild liegen diese zerstückelt vor den Hunden. Ein drittes Bild macht vor, wie man der neuen Bedrohung begegnet: Man ergibt sich und hält für die (Herren der) Hunde große Mengen Nahrung bereit. Dieses Vorgehen wird in den Berichten der Konquistadoren bestätigt. Die Eroberer waren bei ihren Expeditionen auf die Nahrungsvorräte der Indios angewiesen. Einer schreibt, man habe einige Indianer »vor den anderen Indios von den Hunden zerreißen lassen«, um Angst und Schrecken zu verbreiten.

Am Nabel der Welt | Über die Bedeutung vieler Symbole können die Forscher nur rätseln. Doch einige scheinen die Bilderwelten späterer Hochkulturen vorwegzunehmen. Das Chiribiquete-Gebirge könnte eine Art südamerikanisches Zentralheiligtum gewesen sein.

Der interessanteste Aspekt ist vielleicht die Wirkung der abgebildeten Motive auf spätere Kulturen in Süd- und Mittelamerika. Am Río Caquetá hat Urbina Rangel Abbildungen gefunden, die sich offenbar auf den Schöpfungsmythos der »serpiente ancestral« beziehen, der Urschlange, aus der die ersten Menschen entstanden. Es ist der Schöpfungsmythos vieler indianischer Gesellschaften am Amazonas und in Mittelamerika. Auch einen Einfluss auf eine der ersten Hochkulturen in den Anden erkennt Urbina Rangel: Die beeindruckenden Steinskulpturen der San-Agustín-Kultur (3300 v. Chr.–1500 n. Chr.) gehen wohl auf die Steingravuren vom Río Caquetá zurück und stehen in Bezug zur Mythenwelt der Uitoto.

Haben die Schöpfer der Malereien noch andernorts Spuren hinterlassen? Castaño Uribe weist darauf hin, dass die im Chiribiquete abgebildeten Motive die Götterwelt späterer Hochkulturen vorwegnehmen. Selbst die außergewöhnliche Topografie des Gebirges spiegele sich in goldenen Kunstwerken zur Verehrung des Sonnengotts wider: die Nord-Süd-Ausrichtung des Gebirges, seine "Teilung" durch die Äquatorlinie und eine geologische Besonderheit, vier gewaltige kreisrunde Karsteinbrüche in den Tafelbergen. Er glaubt, das Gebirge könne von den präkolumbischen Völkern für den mythischen Ort gehalten worden sein, an dem der Schöpfer- und Sonnengott Wiraqucha die Erde betreten hat. Weil die »Tradición Cultural Chiribiquete« bis zur Ankunft der Spanier fortbestand, könnten die Berge bis dahin ein wichtiges religiöses Zentrum gewesen sein, eine Art Jerusalem der amerikanischen Religionen. War es vielleicht die legendäre »Casa del Sol«, das »Haus der Sonne«, eines jener fantastischen Ziele, das die spanischen Konquistadoren suchten?

Die Erforschung dieses beeindruckenden Komplexes steht ganz am Anfang, lädt zu faszinierenden Hypothesen ein – und verspricht viele Überraschungen. Seit Kurzem weiß man, dass im Gebirge Gruppen von Indianern leben, die keinen Kontakt zur Zivilisation haben. Urbina Rangel und Castaño Uribe vermuten, dass es die letzten Nachfahren der sonst ausgestorbenen Karijona sind. Sie wurden beobachtet, wie sie Felswände mit Bildern bemalten.

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