Downshifting: Weniger Arbeit, mehr vom Leben
Gefrühstückt hat sie nie. Dafür hätte Annika Juds ihren Nachtschlaf abkürzen müssen, und der war ihr wichtiger als ein voller Magen. Nach dem Aufstehen saß die Anwältin bald an ihrem Schreibtisch in einer Großkanzlei. Juds arbeitete von morgens um 8.30 bis 22 Uhr, oft ohne Mittagspause, manchmal auch des Nachts oder am Wochenende. Private Verabredungen unter der Woche? Fehlanzeige. Sie wusste ja nie, ob sie das Büro pünktlich würde verlassen können. Auch in ihrem Hawaii-Urlaub hing Juds wie selbstverständlich am Laptop. Ein Jahr wollte sie das ursprünglich nach ihrem Jurastudium machen, doch dann wurden es zehn. Juds wechselte die Kanzlei und machte weiter Karriere. Es sah alles danach aus, als würde sie bald Partnerin werden und so ihre Laufbahn krönen – da hörte sie auf.
Die Entscheidung, die berufliche Tätigkeit zu reduzieren oder aufzugeben und dafür Einkommens- oder Statusverluste hinzunehmen, wird in der Soziologie »Downshifting« genannt. Die Soziologin Julia Gruhlich erforscht das Phänomen an der Georg-August-Universität Göttingen. Sie hat im Rahmen einer Studie mit mehr als 20 Downshiftern gesprochen und dabei festgestellt, dass das Phänomen in der gesamten Gesellschaft gleichermaßen vertreten ist – unabhängig von Alter, Geschlecht oder finanzieller Situation. »Man findet da zum Beispiel nicht nur die Superreichen. Das machen tatsächlich auch Leute, die sich danach in ihrem Lebensstil stark einschränken müssen«, sagt sie. Diese Beobachtung deckt sich mit Studien aus Australien, Großbritannien oder den USA. Unklar ist allerdings, wie viele Beschäftigte sich im Lauf ihrer Karriere für ein Downshifting entscheiden: Mal sprechen Forscher von fast 19, mal von knapp 25 oder sogar von annähernd 30 Prozent.
Auch Annika Juds gehört zu den Downshiftern. Um die Gründe für ihre berufliche Entscheidung zu erklären, kehrt sie an den Anfang ihrer Karriere zurück: Als sie nach ihrem Studienabschluss mit Prädikatsexamen in der Großkanzlei anfing, tat sie das aus Neugier. Über die Kanzlei hieß es an Juds' Uni: eine Menge Egos, sehr männlich, hoher Druck, keine Freizeit, aber massig Geld. Das wollte sie sich mal anschauen – und es gefiel ihr. »Die Menschen, die dort arbeiten, sind alle sehr clever, und die Lernkurve ist enorm«, erzählt Juds. »Aber klar, dieser ganze Leistungsdruck, der ist nicht wirklich charming. Man hat immer das Gefühl, jemand sagt: ›Spring!‹ Und du fragst: ›Wie hoch?‹«
Dennoch blieb sie dabei – bis es plötzlich nicht mehr weiterging. Als sich abzeichnete, dass sie bei ihrem Arbeitgeber in absehbarer Zeit doch nicht zur Partnerin aufsteigen würde, kündigte sie und räumte sich drei Monate Zeit ein, um über ihre nächsten beruflichen Schritte nachzudenken.
Die drei wichtigsten Gründe für Downshifting
Die Soziologin Julia Gruhlich kennt Fälle wie diesen. Ihrer Studie zufolge lassen sich die Gründe für ein Downshifting in drei Kategorien unterteilen: Manche treten aus Selbstfürsorge beruflich kürzer, weil sie physisch oder psychisch belastet sind. Andere wählen diesen Weg aus Fürsorge für andere: wegen Kindern, die betreut, oder Angehörigen, die gepflegt werden müssen. Eine dritte Gruppe entscheidet sich für ein Downshifting, weil ihr bei ihrer Tätigkeit der Sinn oder die Perspektive fehlt. Letzteres tritt meist in Kombination mit einem der anderen Gründe auf. »Downshifter sind also nicht nur die Manager, die jetzt zum Yogalehrer werden, weil sie erschöpft sind und etwas Sinnvolleres tun wollen«, berichtet Gruhlich.
Ruth Hellwig zum Beispiel ist PR-Assistentin. Lange Zeit hat sie ein Leben ohne echte Pausen geführt: Früher arbeitete sie am Theater. Auf dem Papier waren das 40 Stunden die Woche, in der Praxis jedoch viel mehr. Erreichbar war Hellwig immer. Arbeitszeit und Freizeit seien einfach miteinander verschwommen, weil die Kollegen auch noch weit nach Feierabend zusammensaßen. Urlaub habe es fast nur in den Spielzeitpausen des Theaters gegeben. »Irgendwann hat es mir zu viel Raum eingenommen. Ich habe das erst relativ spät gemerkt, als Menschen in meinem Umfeld schon sagten: ›Es kann doch nicht sein, dass du immer dran sein musst.‹«
Hellwig tauschte ihren Theater-Job gegen eine zeitlich klarer strukturierte 40-Stunden-Stelle. Dann wurde sie schwanger. Sie wusste, dass sie nach der Geburt ihres Kindes nicht mehr in Vollzeit würde arbeiten wollen. Als ihr Vertrag in ihrer Elternzeit auslief und nicht verlängert wurde, suchte sie nach einer neuen Tätigkeit und fand sie in der Medienbranche. Zunächst stieg sie mit 70 Prozent ein, arbeitete aber oft mehr. Daher schlug sie schon nach kurzer Zeit vor, auf 50 Prozent zu reduzieren und eine weitere Person einzustellen, um sich die auf Vollzeit angelegte Tätigkeit zu teilen.
»Downshifting ist immer ein Ausweichen«Julia Gruhlich, Soziologin
Wie bei Ruth Hellwig oder Annika Juds kommt die Entscheidung zum Downshifting selten plötzlich. Die Soziologin Julia Gruhlich sagt: »Oft ist das ein Weg der kleinen Schritte, bei dem am Anfang noch gar nicht klar ist, wohin es am Ende geht. Der Prozess kann sich über Jahre entwickeln.« Wer bei der Arbeit auf Probleme treffe, beiße oft erst mal die Zähne zusammen und mache einfach weiter. Downshifting wird zunächst gar nicht erwogen. Das liege vor allem daran, erklärt Gruhlich, dass Teilzeitarbeit oft als »Frauenthema« behandelt und nicht im gleichen Maß wertgeschätzt werde wie Vollzeitarbeit. Irgendwann stießen Betroffene dann aber möglicherweise doch an eine Grenze – aus Überlastung, nach der Geburt eines Kindes oder weil sie sich die Sinnfrage stellen. Und dann erkennen sie, dass sich etwas ändern muss.
»Ich glaube, Downshifting ist immer ein Ausweichen. Die Person findet keine andere Lösung für ein gravierendes Problem, das sie erlebt«, sagt Gruhlich. Weil eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich eine Ausnahme darstellt, versuchen Betroffene zunächst also häufig, die Bedingungen an ihre Bedürfnisse anzupassen und die Arbeitszeit oder die Verantwortung zu reduzieren. Führt das nicht zu einer Verbesserung ihrer Situation, erwägen Betroffene gegebenenfalls eine Kündigung.
Was nach dem Downshifting passiert
In den drei Monaten, die sich Annika Juds nach ihrer Kündigung als Bedenkzeit einräumte, malte sie viel – vor allem Frauenporträts in kräftigen, bunten Farben. Eine Freundin schlug ihr vor, die Bilder auszustellen. »Und seitdem geht es ab«, erzählt Juds. Aus drei Monaten Auszeit wurden sechs – und dann neun. »Du wachst ja nicht auf und denkst: ›Heute ist ein geiler Tag, um Künstlerin zu werden.‹ Sondern das sind kleine Schritte.« Und plötzlich verkaufte sie ihre Kunst international. Sie erstellte einen Businessplan, bildete sich fort und konnte irgendwann ihre laufenden Kosten decken. Heute verdient sie gut und arbeitet fast so viel wie früher – allerdings selbstbestimmter.
Auch Ruth Hellwigs Gehalt auf ihrer 50-Prozent-Stelle ist noch gut – gut genug, dass es der Familie zusammen mit dem Gehalt ihres Mannes für das Leben reicht, das sie leben wollen. In ihrem Ehevertrag hat das Paar sogar Regelungen für die Altersvorsorge oder den Fall einer Trennung getroffen, so dass Hellwig durch ihre Arbeitszeitreduktion keine finanziellen Einbußen entstehen. Und wenn es trotzdem mal knapp werden sollte, kann sie ihren Beschäftigungsumfang jederzeit aufstocken. »Ich bin mir total bewusst, wie viele Privilegien wir dadurch haben«, sagt Hellwig. Und so steht ihr genug Zeit für die kleinen Dinge, wie sie es nennt, zur Verfügung. Morgens bringt sie ihr Kind zur Schule, ist eine der ersten im Büro und arbeitet knapp fünf Stunden. Dann widmet sie sich Einkäufen und Haushalt, ehe sie ihr Kind wieder abholt und den Nachmittag mit ihm verbringt. Freitags hat Hellwig frei, trifft sich mit einer Freundin oder erledigt, was für den Familienalltag zu tun ist.
Sie ärgert sich darüber, dass die Erwerbsarbeit mehr geschätzt wird als die Arbeit im eigenen Haushalt. »Ich möchte mir weder meine Einkäufe noch meine Wäsche machen oder meine Toilette putzen lassen. Das erledige ich selbst.« Und sie sei dankbar, dass sie das machen könne, ohne sich davon zusätzlich stressen lassen zu müssen. »Aber natürlich ist das keine Heldengeschichte«, sagt Hellwig. Anerkennung bekomme man dafür, sich bis an den Rand des Gesunden zwischen Beruf und Familie aufzureiben. Nicht dafür, Grenzen zu setzen, damit das nicht passiert.
»Downshifter bekommen zu spüren, dass sie in einer Gesellschaft leben, die sich sehr stark an Vollzeitarbeit orientiert«Julia Gruhlich, Soziologin
Diese Erfahrung deckt sich mit Julia Gruhlichs Erkenntnissen aus der Forschung. »Downshifter bekommen zu spüren, dass sie in einer Gesellschaft leben, die sich sehr stark an Vollzeitarbeit orientiert.« Wer sich für ein Downshifting entscheide, fürchte daher meist die Reaktionen des Umfelds: Betroffene sähen sich einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt und hätten oft das Bedürfnis, ihre Entscheidung zu erklären.
Wenn Ruth Hellwig sich im Büro auf den Heimweg macht, wünschen ihr die Kollegen, die ihre Arbeitszeiten nicht kennen, häufig eine schöne Mittagspause. Andere sagen: »Oh, wow, du darfst schon nach Hause gehen!« Hellwig muss sich dann vor Augen führen, dass sie auf einen beträchtlichen Teil eines Vollzeitgehalts verzichtet, um mehr freie Zeit zu haben. »Ich kriege das ja nicht geschenkt«, sagt sie. »Im Prinzip zahle ich ein halbes Gehalt dafür.« Grundsätzlich findet sie, dass sich niemand dazu genötigt sehen sollte, sich dafür zu rechtfertigen, wie er seine Lebenszeit verbringt – auch wenn es ihr selbst manchmal schwerfällt, sich von diesem Druck frei zu machen.
Das Pro und Kontra abwägen
Wem das nicht gelingt, der findet beispielsweise bei Virgilia Jansen-Preilowski Hilfe. Die Psychologin ist selbst Downshifterin – mit einer reduzierten Arbeitswoche und einem kleinen Kind zu Hause – und promoviert an der Universität Bielefeld zu neuen Arbeitsformen, berät daneben Unternehmen und coacht Einzelpersonen. Sie macht deutlich, dass rein rechtlich die Arbeitgeber in der Verantwortung sind, für das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter zu sorgen. Sie empfiehlt Firmen oft, ihren Beschäftigten eine Arbeitszeitverkürzung wie zum Beispiel eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich anzubieten, um für Bewerber interessanter zu werden und eine Überlastung der Mitarbeiter zu vermeiden. Studien legen nahe, dass Arbeitnehmer in diesem Modell gesünder, zufriedener und mindestens vergleichbar produktiv arbeiten.
»Gleichzeitig«, mahnt Jansen-Preilowski, »trägt natürlich auch jeder eine Verantwortung, für sich zu gucken, dass es ihm gut geht.« In ihren Einzelcoachings trifft sie häufig auf Menschen, die schon einen langen Leidensweg hinter sich haben. Von den ersten Anzeichen für Unzufriedenheit oder Überlastung bis zu dem Moment, in dem sie sich im Rahmen eines Coachings aktiv Hilfe holen, vergehen etwa zwei Jahre, berichtet die Psychologin. Sie versucht dann gemeinsam mit den Klienten eine Lösung für ihre berufliche Notsituation zu finden. Bei einigen steht am Ende des etwa sechsmonatigen Entwicklungsprozesses die Entscheidung für ein Downshifting.
Wer nicht die nötigen Ressourcen für ein Coaching hat, dem empfiehlt Jansen-Preilowski die Argumente für und gegen eine Arbeitszeitreduktion abzuwägen und hierbei auch die aktuelle finanzielle Situation sowie die zukünftige Rente einzukalkulieren. »Die finanziellen Einbußen sind ein Kriterium, das die Entscheidung für oder gegen das Downshifting maßgeblich beeinflussen kann«, sagt sie. Kommt ein Downshifting in Frage, empfiehlt sie, die Umsetzung konkret zu planen und Argumente für die Verhandlung mit den Vorgesetzten vorzubereiten. Wie soll das Downshifting genau aussehen: Geht es um eine Reduktion der Stundenanzahl am Tag oder der Arbeitstage pro Woche? Ist es möglich, die eigenen Arbeitsprozesse zu optimieren und in weniger Zeit zu bewältigen? Damit haben Arbeitnehmer Jansen-Preilowski zufolge die besten Aussichten, ihr Ziel umzusetzen. Und es lohnt sich, findet sie: Die Klienten, die sich für ein Downshifting entschieden haben, seien heute zufriedener, gelassener und hätten mehr Energie.
Auch Annika Juds ist mit ihrer Entscheidung zum Karrierewechsel glücklich: »Best move ever«, sagt sie heute mit einem Grinsen im Gesicht. Ihre anfänglichen Zweifel beschäftigen sie nicht mehr. Denn jetzt hat sie endlich Zeit zum Frühstücken – und das tut sie auch jeden Morgen.
Themenwoche »Führung«
Wer will eigentlich Chef oder Chefin werden? Warum haben manche Menschen Angst davor, Karriere zu machen? Und weshalb geben andere ihren Posten wieder auf? Diese und weitere Fragen beantwortet die Themenwoche »Führung« anhand von aktueller Forschung. Dazu erklären Fachleute, wie man erfolgreich führt – und warum das vermeintlich gesicherte Wissen über Führungsstile auch nur eine Illusion sein könnte.
- Führungsmotivation: To boss or not to boss
- Führungskompetenz: »Was gut ist für die Beziehung, ist auch gut für die Leistung«
- Selbstsabotage: Aus Angst vor dem Erfolg
- Führungsstile: »Die klassische Forschung erzeugt Illusionen«
- Downshifting: Weniger Arbeit, mehr vom Leben
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.