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Dunkle Materie: Letzte große Chance für WIMPs

Seit Jahrzehnten suchen Physiker nach WIMPs, Kandidaten für Dunkle Materie. Nun will man es noch mal wissen und den Teilchen mit neuen Detektoren kein Versteck lassen. Theoretisch.
Mit dem Experiment XENON1T jagen Forscherinnen und Forscher nach dunkler Materie. Zu sehen ist die TPC-Kammer nach der Montage in einem Reinraum.

Die letzte Chance, sich zu offenbaren, steht bevor. Jahrzehntelang hieß es, schwach wechselwirkende massive Teilchen (WIMPs) seien die stärksten Anwärter auf Dunkle Materie – jene geheimnisvolle Substanz, welche 85 Prozent der Masse des Universums ausmacht. Mehrere Experimente haben jedoch keine Beweise für WIMPs gefunden. Das bedeutet, falls sie existieren, sind ihre Eigenschaften anders als ursprünglich vorhergesagt. Jetzt drängen Physikerinnen und Forscher darauf, eine letzte Generation von hochempfindlichen Detektoren zu bauen, die den Teilchen keinen Platz zum Verstecken lässt. Oder gar eine große, »ultimative« Maschine.

Physiker haben lange vorhergesagt, dass eine unsichtbare Substanz, die zwar Masse hat, aber nicht mit Licht wechselwirkt, das Universum durchdringt. Die Gravitationseffekte der Dunklen Materie würden erklären, warum rotierende Galaxien sich nicht selbst zerreißen, und ebenso das ungleichmäßige Muster, das im Mikrowellen-Nachglühen des frühen Universums zu sehen ist. WIMPs wurden in den 1980er Jahren zu einem bevorzugten Kandidaten für die Dunkle Materie. Man sagt ihnen typischerweise voraus, dass sie bis 1000-mal schwerer als Protonen sind und mit Materie nur gering wechselwirken. Zum Beispiel durch die schwache Kernkraft, die für den radioaktiven Zerfall verantwortlich ist, oder etwas noch Schwächeres.

WIMP-Forschung bis zur Grenze

In den kommenden Monaten sollen drei bestehende unterirdische Detektoren – in den Vereinigten Staaten, Italien und China – in Betrieb gehen, die in unterkühlten Xenon-Behältern nach Teilchen Dunkler Materie suchen. Jene Detektoren werden mit einer über ein Jahrzehnt verfeinerten Methode nach verräterischen Lichtblitzen Ausschau halten, wenn die Kerne aus ihrer Wechselwirkung mit Teilchen aus Dunkler Materie zurückschnellen.

»Es wäre irgendwie verrückt, diese Lücke nicht zu schließen«
Laura Baudis, Physikerin

Physiker hoffen, dass diese Experimente – oder konkurrierende WIMP-Detektoren, die Materialien wie Germanium und Argon verwenden – den ersten direkten Nachweis von Dunkler Materie ermöglichen werden. Für den Fall, dass das nicht gelingt, entwerfen Xenon-Forscher bereits neue WIMP-Detektoren. Solche Experimente wären wahrscheinlich die letzte Generation ihrer Art, weil sie so empfindlich wären, dass sie den »Neutrino-Floor« erreichen würden. Damit ist eine natürliche Grenze gemeint, jenseits derer Dunkle Materie so wenig mit Xenon-Kernen wechselwirken würde, dass ihr Nachweis durch Neutrinos getrübt würde, die kaum mit Materie wechselwirken, aber in Billionen von Sekunden auf die Erde herabregnen. »Es wäre irgendwie verrückt, diese Lücke nicht zu schließen«, sagt Laura Baudis, Physikerin an der Universität Zürich. »Künftige Generationen könnten uns fragen: ›Warum haben Sie das nicht getan?‹«

Am weitesten fortgeschritten ist ein geplantes Experiment namens DARWIN. Der Detektor, der geschätzt 100 bis 150 Millionen Euro kostet, wird von der internationalen XENON-Kollaboration entwickelt, die eines der drei in diesem Jahr anlaufenden Experimente betreibt: einen sechs Tonnen schweren Detektor namens XENONnT in den Laboratori Nazionali del Gran Sasso in der Nähe von Rom. DARWIN würde fast das Zehnfache dieser Xenon-Menge enthalten. Die Mitglieder der Kollaboration haben Zuschüsse von mehreren Förderorganisationen erhalten, um die Technologie zu entwickeln, einschließlich präziser Nachweismethoden, sagt Baudis, die führendes Mitglied von XENON und Kosprecherin von DARWIN ist.

Ziel ist ein »großes, globales Xenon-Experiment«

Das Projekt steht auch auf der nationalen Roadmap der Schweiz für die zukünftige wissenschaftliche Infrastruktur, und das deutsche Forschungsministerium hat Förderung für auf DARWIN bezogene Forschung ausgeschrieben. Beides deutet darauf hin, dass die Nationen in Zukunft wahrscheinlich weitere Gelder beisteuern werden. Und obwohl DARWIN noch kein offizielles Zuhause hat, könnte es bei Gran Sasso landen. Im April haben die Laboratori Nazionali del Gran Sasso die Kollaboration formell aufgefordert, bis Ende 2021 einen konzeptionellen Designbericht vorzulegen. »Das sagt uns sehr deutlich, dass die Labore sehr daran interessiert sind, ein solches Experiment zu beherbergen«, sagt der Kosprecher Marc Schumann, ein Physiker an der Universität Freiburg. Das Team hofft, spätestens 2026 Daten zu sammeln.

Obwohl DARWIN derzeit von der XENON-Kollaboration geleitet wird, hofft Baudis, dass chinesische Kollegen, die in diesem Jahr ein Experiment mit dem Namen PandaX-4t starten, mit ihnen einen einzigen »ultimativen« Detektor bauen werden. In Frage kommt zudem das Team, das an dem Xenon-Experiment Lux-Zeppelin in den USA beteiligt ist. Beide Gruppen hatten erwogen, Experimente zu bauen, die sie auf den Neutrino-Floor bringen würden, aber »das Ziel ist ein großes, globales xenonbasiertes Experiment mit Dunkler Materie«, sagt Baudis.

Die Physiker haben vielleicht keine andere Wahl, als sich wegen der schieren Menge des benötigten Xenons zusammenzuschließen. Das Edelgas ist wegen des energieintensiven Prozesses, der für seine Gewinnung aus der Luft erforderlich ist, und wegen der konkurrierenden Nachfrage der Elektronik-, Beleuchtungs- und Raumfahrtindustrie nur schwer in großen Mengen zu erhalten. Ein Kilogramm kann mehr als 2500 US-Dollar kosten. Die 50 Tonnen von DARWIN würden der weltweiten Jahresproduktion von etwa 70 Tonnen nahe kommen. Das bedeutet, dass – selbst wenn alle drei bestehenden Detektoren ihre 25 Tonnen zusammenlegen – man für ein zukünftiges Experiment den Rest über mehrere Jahre hinweg in Chargen benötigt. »Wir müssen dafür schon jetzt sehr sorgfältig planen«, sagt Baudis.

Forscher, die mit Argon nach Dunkler Materie suchen, hoffen ebenfalls, einen Detektor zu bauen, der den Neutrino-Floor erreicht. Ein 300-Tonnen-Experiment mit dem Namen ARGO könnte zirka im Jahr 2029 in Betrieb gehen und jedes von DARWIN gesehene Signal bestätigen.

Warum WIMPs?

WIMPs standen im Mittelpunkt von Dutzenden von Experimenten, weil es einen starken theoretischen Grund für ihre Existenz gibt. Sie erklären nicht nur, warum sich Galaxien so zu bewegen scheinen, wie sie sich bewegen; ihre Existenz passt auch zu Theorien in der Teilchenphysik. Eine Gruppe von Theorien, die als Supersymmetrie bekannt ist und in den 1970er Jahren entwickelt wurde, um Löcher im Standardmodell für fundamentale Teilchen und ihre Wechselwirkungen zu füllen, sagt ein WIMP-ähnliches Teilchen voraus. Und wenn Teilchenphysiker das frühe Universum modellieren, stellen sie fest, dass Teilchen mit WIMP-ähnlichen Eigenschaften die heiße Suppe der Wechselwirkungen gerade so zahlreich überleben würden, dass sie mit der heute beobachteten Fülle an Dunkler Materie mithalten könnten.

Aber null Ergebnisse – von direkten Detektoren für Dunkle Materie und von Teilchenbeschleunigern wie dem Large Hadron Collider – bedeuten: Wenn WIMPs existieren, muss entweder die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit Materie wechselwirken, oder ihre Masse am unteren Ende der anfänglichen Vorhersagen liegen. Das Versagen beim Nachweis von WIMPs hat die Physikgemeinde dazu veranlasst, »innezuhalten und über ihren Status nachzudenken«, sagt Tien-Tien Yu, Physiker an der University of Oregon in Eugene. Viele in der Gemeinschaft, darunter Yu, suchen jetzt nach anderen Kandidaten für Dunkle Materie, auch mit Hilfe kleinerer, günstigerer Experimente.

Dennoch bleiben WIMPs theoretisch attraktiv genug, um die jahrzehntelange Jagd fortzusetzen, sagt Yu. Und das DARWIN-Team betont, dass sein hoch empfindlicher Detektor unzählige Einsatzmöglichkeiten hätte; einschließlich der Beantwortung drängender Fragen der Neutrinophysik, sagt Baudis. Ein Rätsel, zu dessen Lösung DARWIN beitragen könnte, ist die Frage, ob Neutrinos auch ihr eigenes Antiteilchen sind.

Egal ob ein einzelnes Experiment oder viele, »ich würde sehr viel Geld darauf wetten, dass ein DARWIN-ähnlicher Detektor gebaut wird«, sagt Marc Schumann.

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