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Homo luzonensis: Eine neue Art Mensch

Die Menschheit bekommt einen neuen Verwandten. Der zwergenhafte »Luzon-Mensch« lebte vor 67 000 Jahren auf einer Philippinen-Insel. »Hobbits« waren offenbar häufiger als gedacht.
Blick in die Callao-Höhle

Seit vielen Millionen Jahren gilt: Wer nach Luzon will, muss das Meer überqueren. Auch in Zeiten, als der Meeresspiegel weit über 100 Meter tiefer lag als heute, trennte eine Wasserstraße die größte der philippinischen Inseln vom asiatischen Festland. Eine sich weitgehend isoliert entwickelnde Tier- und Pflanzenwelt gibt Zeugnis davon: Kaum jemand kam auf die Insel, kaum jemand kam von ihr herunter.

Eine der wenigen Ausnahmen: Anscheinend ist die Insel seit mindestens 700 000 Jahren von Menschen bewohnt. Lange bevor sich der moderne Homo sapiens in Afrika entwickelte, hatte jemand auf Luzon ein Nashorn mit Steinwerkzeugen zerlegt. Das zeigte ein Fund, den Wissenschaftler 2013 in der Provinz Kalinga machten. Wer war dieser Jemand, fragten sich die Ausgräber damals.

Einen Anhaltspunkt hatten sie bereits. In der Callao-Höhle, unweit ihres eigenen Fundplatzes, hatten andere Forscher 2007 einen merkwürdig kleinen Fußknochen entdeckt. Mit einem Alter von 67 000 Jahren hätte er theoretisch zu einem modernen Homo sapiens gehören können, doch anatomisch gesehen war das ausgeschlossen. Gehörte er vielleicht einem Nachfahren jener uralten Nashornmetzger?

Eine mögliche Antwort auf beide Fragen gibt es heute. Jene mysteriösen Bewohner der Insel Luzon waren aller Wahrscheinlichkeit eine eigene, bislang gänzlich unbekannte Menschenart – Menschen, die vielleicht vor vielen Jahrhunderttausenden auf die Insel kamen und hier einen eigenen Entwicklungspfad einschlugen: die »Luzon-Menschen«, der Homo luzonensis.

Zu diesem Schluss kommen jetzt Wissenschaftler um Florent Détroit vom Naturhistorischen Museum Paris und Armand Salvador Mijares von der University of the Philippines, die im Fachmagazin »Nature« gleich einen ganzen Schwung neuer Funde vorstellen. Zusätzlich zu dem Fußknochen, den ihr Team bereits 2007 entdeckte, gesellen sich insgesamt zwölf weitere Skelettteile aus der Callao-Höhle, darunter Fuß- und Handknochen, Zähne und ein Oberschenkelknochen. Weder DNA-Reste noch Teile des Gesichts sind erhalten. Doch was an Skelettbestandteilen vorliegt, unterscheidet sich so grundsätzlich von anderen frühmenschlichen Überresten, dass die Forscher überzeugt sind, es mit einer bislang unbekannten Art zu tun zu haben.

Garstige Hobbits widersetzen sich jeder Systematisierung

Seltsam bekannt müssen ihnen die winzigen Knöchelchen und Zähnchen doch vorgekommen sein. Denn in ihrer geringen Größe und Urtümlichkeit erinnern sie frappierend an das Skelett des frei nach J.R.R. Tolkien »Hobbit« genannten Homo floresiensis von der indonesischen Insel Flores. Auch diese frühen Menschen sind auf ihrem isolierten Eiland vermutlich über Jahrhunderttausende ohne Kontakt zu anderen Menschenpopulationen ihre eigenen evolutionären Wege gegangen. Beide erreichten nur rund einen Meter Körpergröße und hantierten – sofern man im Luzon-Menschen den Urheber des 700 000 Jahre alten Nashornschlachtplatzes sieht – mit einfachen Steinwerkzeugen. Vermutlich war das Gehirn des Luzon-Menschen auch nicht wesentlich größer als das des Flores-Menschen, dessen Hirnvolumen eher an einen Schimpansen erinnert.

© Nature
Die Funde der Callao-Höhle (englisch)
Video von »Nature« über die Funde des Homo luzonensis.

Im anatomischen Detail unterscheiden sich die beiden allerdings so sehr, dass sie sich nicht als Angehörige derselben Art auffassen lassen, schreiben die Forscher. Überhaupt können Détroit, Mijares und ihre Kollegen keine Lösung dafür anbieten, wie sich die beiden Funde in den Stammbaum des Menschen eingliedern lassen. Manche Skelettmerkmale passen sogar eher zu Homo sapiens als zu anderen möglichen Verwandten – was nun wirklich nicht sein kann, denn zu jener Zeit hatte es der moderne Mensch noch nicht bis nach Flores oder Luzon geschafft.

Noch pikanter ist jedoch, dass sie auch nicht zum einzigen anderen Kandidaten passen, den man nach Lage der Dinge als Vorfahren erwarten würde, zum Homo erectus.

Seitdem vor über 100 Jahren seine Fossilien in Asien gefunden wurden, darunter der berühmte »Java-Mensch« und der »Peking-Mensch«, galt als ausgemacht, dass es erst dieser aufrecht gehende und recht passable Werkzeuge herstellende, mithin fast schon »richtige« Mensch zu Wege brachte, seinen Heimatkontinent zu verlassen. Wer sonst wäre dazu in der Lage gewesen? Wer sonst könnte Meerengen überqueren?

Oberkieferzähne eines Luzon-Menschen | Die Oberkieferzähne von Homo luzonensis sind wesentlich kleiner als die von Australopithecus afarensis und Homo sapiens. Wissenschaftler fanden insgesamt 13 Skelettteile in der Callao-Höhle auf Luzon, der größten philippinischen Insel.

Doch die Anatomie von Flores- und Luzon-Mensch verweist in ein noch viel urtümlicheres Afrika. Viele Merkmale, die Détroit, Mijares und Kollegen an Homo luzonensis beobachteten und die man auch von Homo floresiensis kennt, erinnern nicht an Homo erectus, sondern an die diversen Australopithecus-Arten, die vor mehreren Millionen Jahren im Osten und Süden Afrikas lebten. Auch zu den robusten vormenschlichen Paranthropus-Arten gibt es Parallelen sowie zum Homo habilis. Gebogene Hand- und Fußknochen legen nahe, dass der neu entdeckte Luzon-Mensch sogar noch zumindest teilweise an das Klettern angepasst war.

Homo erectus nicht der einzige Weltenwanderer

Viele dieser archaischen Merkmale hatte Homo erectus längst verloren, als er aus Afrika auswanderte. Dass sie dann am anderen Ende der Welt bei seinen Nachfahren wieder auftauchen sollten, ist kaum glaubwürdig. Als die Fachwelt nur den Flores-Menschen kannte, ließ sich vielleicht noch argumentieren, der Hobbit sei ein evolutionärer Sonderfall, eine Art »Rückentwicklung«, wie sie auf isolierten Inseln nun einmal vorkommen mag. Dasselbe nun mit einer weiteren Art zu tun, die genau so weit aus dem anatomischen Rahmen fällt, hieße, den Zufall übermäßig in Anspruch zu nehmen, schreibt Matthew Tocheri von der Lakehead University im kanadischen Thunder Bay in einem Begleitkommentar zur aktuellen Veröffentlichung.

All das deutet darauf hin, dass ein weiterer früher Vertreter der Gattung Homo aus Afrika in die Welt aufbrach und Asien erreichte. Vielleicht sogar ein unbekannter Spross der Australopithecus-Linie. Seine Nachfahren scheinen dann in der Abgeschiedenheit der südostasiatischen Inselwelt bis in die jüngste Zeit überdauert zu haben – als Zeitgenossen des asiatischen Homo erectus, der Denisovaner und schließlich des anatomisch modernen Menschen. Und natürlich den Vertretern all jener Populationen, die noch auf ihre Entdeckung warten.

Um in die Ferne aufzubrechen und in neuen Umwelten zurechtzukommen – dafür brauchte es offenbar kein ausgesprochen modernes Verhalten, dafür brauchte es offenbar keinen Homo erectus. Für die Anthropologen heißt das, wieder einmal alte Deutungsmuster zu überdenken.

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