Elefanten: Eine unerwartete Reise
Im März 2020 machten sich 16 Asiatische Elefanten in der Provinz Yunnan ganz im Süden Chinas aus ihrem angestammten Naturreservat auf zu einer Wanderung, die sie in Richtung Norden bis an die Ränder der 500 Kilometer entfernten Millionenstadt Kunming führte.
Auf ihrer Reise liefen sie durch Dörfer und Städte, fraßen sich durch Plantagen, verwüsteten Häuser und Gärten und richteten dabei einen Schaden in Millionenhöhe an. Mehr als 400 »Zwischenfälle« dokumentierten offizielle Stellen.
Dass bei den zahlreichen Begegnungen keine Menschen zu Schaden gekommen sind – und auch keine Elefanten –, liegt an dem gigantischen Betreuerstab, von dem die Herde begleitet worden ist: Mit knapp 1000 Drohneneinsätzen wurde der genaue Standort der Tiere verfolgt. Dadurch konnte die Bevölkerung in den nahe gelegenen Siedlungen gewarnt werden. Nach staatlichen chinesischen Medienberichten haben 150 000 Menschen ihre Häuser wegen der Elefanten zumindest kurzzeitig geräumt.
Ein gigantischer mobiler Schutzraum
25 000 Polizisten und 15 000 Fahrzeuge haben am Ende dabei geholfen, ein Zusammentreffen von Menschen und Tieren zu verhindern und die Herde schließlich wieder nach Süden laufen zu lassen. Als die Herde Richtung Kunming losmarschiert, versperren quer gestellte Lkw ihnen den Weg. Mit Zuckerrohr und Ananas und noch mehr Lastern wurden die Elefanten schließlich wieder in südliche Richtung geleitet und gelockt und irgendwann auch über die einzige geeignete Brücke, die zwischen ihnen und ihrem angestammten Naturreservat liegt.
Die Drohnen lieferten nebenbei auch intime Einblicke in das Leben der Herde: Man sieht, wie ein erwachsener Elefant einem Jungtier hilft, das in den Straßengraben gefallen ist – zwei Kälber wurden unterwegs geboren. Man sieht, wie die Tiere im Schlamm baden, gierig aus einem Wasserreservoir trinken oder über einen schmalen Berggrat wandern. Ein Bild, das um die Welt ging, zeigt mehrere Tiere der Herde, die flach ausgestreckt auf dem Boden liegen und schlafen.
Für Elefanten ist das ein eher ungewöhnliches Verhalten: Die Tiere sind so schwer, dass sie bei Gefahr Mühe hätten, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Im Liegen sind auch Herz und Lungen großen Belastungen ausgesetzt. Deshalb schlafen erwachsene Tiere meistens im Stehen. Die Aufnahmen, die für viele Betrachter herzergreifend niedlich sind, könnten daher auch Ausdruck des großen Stresses sein, dem die Elefanten ausgesetzt sind: Die dicht besiedelte Welt mit Autos, Straßen, Menschen und viel Lärm überfordert die Tiere so, dass sie nicht anders können, als völlig erschöpft zu Boden zu sinken.
Eine unerwartete Reise
Das an der Grenze zu Myanmar und Laos liegende Biosphärenreservat Xishuangbanna, aus dem die Gruppe im März 2020 aufgebrochen ist, besteht aus fünf voneinander getrennten Schutzgebieten. Die Kernzone ist immerhin mehr als 100 000 Hektar groß. Das ganze Gebiet umfasst rund 240 000 Hektar, ist vergleichsweise dünn besiedelt und besteht unter anderem aus tropischem Regenwald, Bambuswald, Busch- und Grasland.
Es ist das erste Mal, dass eine Elefantengruppe sich auf einen so weiten Weg gemacht hat. »Dieses Verhalten ist schon sehr ungewöhnlich«, sagt der Elefanten-Experte Ahimsa Campos-Arceiz, der im Xishuangbanna Tropical Botanical Garden arbeitet, direkt in dem Gebiet, aus dem die wandernde Elefantenherde aufgebrochen ist. Es stellt sich deshalb die Frage, warum die Herde überhaupt zu ihrer Wanderung aufgebrochen ist.
»Ich vermute, dass die Elefanten das Naturschutzgebiet verlassen haben, weil die Nahrung dort knapp wurde«, sagt Campos-Arceiz. Dafür spricht, dass im Frühjahr 2020 noch eine zweite Elefantengruppe aufbrach. Sie erlangte jedoch nur lokale Berühmtheit, weil sie in der Region um den Park blieb – und dort unter anderem den Botanischen Garten heimsuchte, in dem Campos-Arceiz arbeitet.
Auf der Flucht vor dem Hunger
Aus Sicht des Experten hat die mögliche Nahrungsknappheit auch mit dem besseren Schutz der Tiere zu tun: In den 1990er Jahren gab es nur noch rund 170 Elefanten in China. Seither wächst die Population wieder. Aktuell sind es etwa 300 Tiere. Sie alle leben in dem Reservat im Süden der Provinz Yunnan. »Dort konkurrieren heute also mehr Tiere um Nahrung als früher«, sagt Campos-Arceiz.
Hinzu kommt, dass die Naturreservate, in denen die Tiere leben, heute besser vor Eingriffen geschützt sind als früher. Das führt dazu, dass die Flächen mit geschlossenem Wald wieder zunehmen und es weniger Flächen mit Gräsern und Pionierpflanzen gibt – der bevorzugten Nahrung der Elefanten. Weil im Frühjahr 2020 in der Region auch noch die schlimmste Dürre seit 50 Jahren herrschte, verschärfte sich die Nahrungsknappheit noch weiter.
»Wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, werden die Menschen sie nicht in ihrer Nähe tolerieren«Ahimsa Campos-Arceiz
Die Wanderung dauerte auch deshalb so lange, weil es kein Ziel gab, an dem die Herde hätte ankommen können. Auslöser war ja die Suche nach besseren Lebensbedingungen. Weil die nirgends zu finden waren, zogen die Tiere rastlos immer weiter.
Ein Elefantenreservat mit Kantine
Um solche Wanderungen in Zukunft zu verhindern, werden sich also die Bedingungen in den Schutzgebieten ändern müssen. »Die Nahrungsgrundlage in den Gebieten, wo die Elefanten leben, muss wieder besser werden«, sagt Campos-Arceiz. Zum Teil, indem man die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte umdreht und mehr Grasland und offene Flächen entstehen lässt.
In der Nähe der Stadt Pu'er wurde bereits eine Art Kantine für wilde Elefanten eingerichtet: Auf einer Fläche von 80 Hektar wachsen Mais und Kochbananen, bei denen sich die großen Tiere bedienen können. Durch solche Ablenkfütterungen nimmt auch der Druck auf die umliegenden Dörfer deutlich ab.
Für einen effektiven Schutz der Elefanten ist es aber unerlässlich, dass umgekehrt auch die Menschen vor ihnen geschützt sind. »Früher kam es immer wieder zu tödlichen Zusammenstößen mit Elefanten. Wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, werden die Menschen sie nicht in ihrer Nähe tolerieren«, sagt Ahimsa Campos-Arceiz.
Wenn die Tiere sich aber nur ab und zu über einen Teil der Ernte hermachen – und die Verluste dann durch die Regierung kompensiert werden –, kann das Zusammenleben klappen. Einige Dörfer, die in der Vergangenheit besonders häufig von Elefanten heimgesucht wurden, sind bereits mit stabilen Zäunen vor Übergriffen gesichert worden. Solche Maßnahmen helfen dabei, Konflikte zwischen Mensch und Tier zu entschärfen.
Was von der Show bleibt
Auch der Ökologe und Tropenforscher William Laurance, der sich als Professor an der australischen James Cook University mit den Folgen intensiver Landnutzung und fragmentierter Lebensräume beschäftigt, hat das Schicksal der Elefanten in China verfolgt. Mit gemischten Gefühlen: »Die Anteilnahme an der Wanderung der Elefanten in China und in der ganzen Welt hat gezeigt, dass solche hoffnungsvollen Geschichten helfen können, das Interesse an einer intakten Natur zu stärken.«
»Solche Bemühungen sind lobenswert, führen aber in die falsche Richtung«William Laurance
Das aufwändige Management der Herde habe ihn durchaus beeindruckt. Für den Schutz der chinesischen Elefanten müssten allerdings andere Schwerpunkte gesetzt werden: »Solche Bemühungen sind lobenswert, führen jedoch in die falsche Richtung. Sie bekämpfen nur die Symptome, aber nicht die Ursachen, die Umweltzerstörung selbst«, sagt Laurance.
Es macht einen Unterschied, ob man sich in einer Ausnahmesituation effektiv und fürsorglich um ein paar Elefanten kümmert – und das in einer großen Medienkampagne herausstreicht. Oder ob man sich wirklich konsequent um Erhalt, Schutz und Ausbau noch bestehender Wildnisgebiete bemüht. Bei der auf stetes Wirtschaftswachstum ausgerichteten Politik Chinas haben Umwelt und Natur häufig nicht die oberste Priorität: »Chinas ›Neue Seidenstraße‹-Initiative, die neue Straßen, Dämme und andere Großprojekte fördert, beschleunigt die Zerstörung des Lebensraums der Elefanten und anderer Wildtiere«, sagt Laurance.
Wie viel Wildnis verträgt die Menschenwelt?
Der gewaltige Aufwand, mit dem die wandernden Elefanten betreut wurden, macht nur so lange Sinn, wie es noch Schutzgebiete gibt, in die die Tiere zurückkehren können. Weil die Wildnisgebiete weiter schrumpfen werden, wird die Nutzbarmachung nicht optimaler Lebensräume für den Natur- und Artenschutz in Zukunft wichtiger werden.
In Bezug auf Elefanten gibt es auch in anderen Ländern schon kreative Ansätze, wie Tiere und Menschen ein dichtes Nebeneinander aushalten können: Auf Sumatra helfen Elefanten-Patrouillen dabei, die wilden Elefanten vom Farmland fernzuhalten. Die Patrouillen bestehen aus ehemaligen wilden Problemelefanten, die eingefangen wurden, und ihren Führern. In Sambia und anderen afrikanischen Ländern werden hungrige Elefanten mit Hilfe von Bienen, Chilipflanzen und selbst gebastelten Stinkbomben von den Feldern ferngehalten.
Auch bei anderen Arten wird das Wildtiermanagement in Zukunft eine wichtigere Rolle spielen. Der Umgang mit den wandernden Elefanten kann da durchaus als Vorbild dienen, was eine Gesellschaft im Umgang mit der Natur alles aushalten kann: In China trampelt eine Elefantenherde ein Jahr lang durch Dörfer und Städte. Könnte es in Deutschland da nicht auch möglich sein, zum Beispiel ein paar Wisente im Rothaargebirge frei laufen zu lassen?!
(Anm. d. Red.: Der Artikel wurde am 01.02.2024 aktualisiert.)
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