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Empathie: Mitgefühl geht durchs Gehirn

Wenn sich jemand weh tut, spüren wir den Schmerz meist auch selbst. Er ist regelrecht ansteckend. Was passiert beim empathischen Mitfühlen im Gehirn?
Eine Frau hält die Hand einer anderen.
Am Leid anderer nimmt eher teil, wer auch für den eigenen Schmerz sensibel ist.

Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit einer Kollegin in die Mittagspause. Unterwegs stößt Ihre Begleitung gegen eine Tür und reibt sich mit schmerzverzerrter Miene den Ellbogen. Als Sie das beobachten, zucken Sie zusammen und spüren selbst ein Kribbeln im Arm. Solche Situationen kennt fast jeder: Wir reagieren oft körperlich darauf, wenn ein Kind beim Spielen von der Schaukel fällt oder sich der Partner die Hand am heißen Herd verbrennt. Doch wie kommt es, dass wir fremden Schmerz unwillkürlich am eigenen Leib spüren? Und was geschieht dabei im Gehirn?

Schmerz hat eine lebenswichtige Warnfunktion. Was uns weh tut, wollen wir normalerweise rasch abstellen oder vermeiden, wir gehen der Ursache aus dem Weg und unser Körper schaltet regelrecht in einen Alarmzustand. Das neuronale Schmerznetzwerk, das dafür verantwortlich ist, gliedert sich grob in zwei Teile: Sensorische Areale liefern Informationen zur Qualität des Schmerzreizes, über Ursprung, Art und Dauer. Dies wird überwiegend im somatosensorischen Kortex, dem Thalamus sowie der hinteren Inselrinde verarbeitet (siehe »Schmerzempathie«).

Die emotionale Wirkung hingegen bestimmt, wie unangenehm der Schmerz erscheint und wie sehr wir ihm entrinnen wollen. Solche Empfindungen vermittelt unter anderem das limbische Netzwerk, zu dem der vordere und der mittlere zinguläre Kortex sowie die vordere Inselrinde zählen. Beide Netzwerke formen je nach Persönlichkeit, Kontext und Situation zusammen das individuelle Schmerzerleben. Die Folge: Ein und derselbe Mensch nimmt den gleichen Schmerzreiz nicht immer auf die gleiche Weise wahr, von verschiedenen Menschen ganz zu schweigen.

Drei Komponenten der Empathie

Unser Schmerzerleben wird im Alltag auch durch soziale Interaktionen beeinflusst. Die Empathie – also die Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen und deren Gefühle nachzuempfinden – prägt demnach nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen, sondern ebenso unser eigenes Erleben. Bei Empathie sind mehrere miteinander verflochtene Prozesse im Spiel:
1. das Beobachten einer fremden Emotion, ob real oder imaginiert,
2. das affektive Nachempfinden, das sich oft automatisch einstellt, und
3. die kognitive Perspektivenübernahme, durch die wir ein bestimmtes Empfinden einordnen und uns oder anderen zuschreiben. Mittels Letzterem grenzen wir uns zudem gegenüber anderen ab und schützen uns vor allzu starken (negativen) Gefühlen. Dies geschieht neuronal vor allem im Frontalhirn und in einer Zone am Übergang vom Schläfen- zum Scheitellappen.

Zwar herrscht in der Forschung keine Einigkeit über die genaue Definition von Empathie – als sicher gilt jedoch, dass sowohl emotionale wie kognitive Vorgänge dazugehören. Neurowissenschaftliche und psychologische Studien zur Schmerzempathie setzen zumeist physische Reize ein, weil sich diese in Experimenten leicht auslösen und kontrollieren lassen. Ein kurzer Elektroschock oder Hitzereiz am Unterarm ist für fast jeden auch bei Wiederholung schmerzhaft, ohne dass sich eine größere Gewöhnung einstellt. Zudem sind die neuronalen Grundlagen der körperlichen Schmerzwahrnehmung inzwischen gut erforscht.

Eine Hirngrafik mit verschiedenen farbig markierten Arealen.
Schmerzempathie | Forscher unterscheiden sensorische, emotionale und kognitive Anteile der Empathie, die in verschiedenen Hirnregionen angesiedelt sind.

Unsere Reaktionen auf den Schmerz anderer können verschieden ausfallen und verursachen bei uns eine Fülle emotionaler und sensorischer Empfindungen. Eine britische Forschergruppe um Thomas Grice-Jackson von der University of Sussex versuchte im Rahmen einer 2017 veröffentlichten Studie, Personen nach ihrer Schmerzempathie zu kategorisieren. Dazu präsentierte sie den Probanden kurze Videos, in denen sich jemand etwa mit einem Hammer versehentlich auf den Finger schlug oder eine Spritze ins Auge bekam. Rund jeder Dritte der mehr als 500 Studienteilnehmenden spürte den beobachteten Schmerz mehr oder weniger direkt: Bei etwa zwölf Prozent löste das Zusehen ein generell unangenehmes Gefühl aus, während beinahe 20 Prozent über Missempfindungen im gleichen Körperteil berichteten.

Diese besonders sensiblen Menschen unterschieden weniger zwischen eigenem und fremdem Schmerz, was mit verstärkter neuronaler Reaktion der somatosensorischen Hirnrinde einherging. Die übrigen zwei Drittel der Stichprobe dagegen hatten zwar durchaus Mitgefühl mit den Pechvögeln in den Videos, spürten aber keinerlei körperliche Pein.

Mehrere Studien mittels bildgebender Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) oder der Elektroenzephalografie (EEG) ergaben, dass ähnliche Hirnbereiche aktiv sind, egal ob wir Schmerz selbst empfinden oder ihn bei anderen beobachten. Bei diesen Methoden wird die neuronale Aktivität gemessen, während Versuchspersonen Schmerz spüren, ausgelöst etwa durch elektrische oder thermische Reize. Manchmal beobachten Versuchsteilnehmende auch nur, wie jemand anderes schmerzhafte Reize erhält.

Es sind ähnliche Hirnbereiche aktiv, wenn wir Schmerz empfinden oder beobachten

Hierbei feuern wahrscheinlich Spiegelneurone im präfrontalen Kortex, die sowohl beim Ausführen als auch beim bloßen Beobachten motorischer Handlungen aktiviert werden. Ihre Existenz ist bei Tieren nachgewiesen; vermutlich sind sie beim Menschen ebenfalls an der Emotionsansteckung beteiligt. Empathie für beobachteten Schmerz wird somit von ähnlichen Hirnregionen verarbeitet wie jenen, die am eigenen Schmerzerleben beteiligt sind.

Solche Ergebnisse bestätigen die Theorie der geteilten Repräsentationen. Ihr zufolge aktiviert das Nachempfinden von Emotionen anderer Personen neurophysiologische Prozesse, die ebenso bei eigenen Emotionen involviert werden. Wenn man jemanden sieht, der sich den Ellbogen anschlägt, aktiviert das folglich Hirnregionen, die auch bei einer Verletzung des eigenen Ellbogens anspringen würden. Die Emotionsverarbeitung wird also »reaktiviert«, um das fremde Empfinden zu simulieren. Dadurch lässt es sich körperlich besser nachempfinden und einordnen.

Korrelation ist keine Kausalität

Viele Studien ergeben jedoch nur korrelative Zusammenhänge zwischen dem Auftreten von Empathie und der begleitenden Hirnaktivität. Das beweist genau genommen nicht, dass hier wie dort dieselben mentalen Prozesse greifen und die gleichen Nervenzellen aktiv sind. Da beim Menschen, anders als im Tierversuch, Ableitungen aus einzelnen Neuronen nicht möglich sind, muss man auf anderen Wegen zu Aussagen über die Ursache-Wirkungs-Beziehung kommen.

Ein Forschungsteam um Markus Rütgen und Claus Lamm von der Universität Wien hatte dazu 2015 eine clevere Idee: Wenn eigener Schmerz und Schmerzempathie auf den gleichen Mechanismen im Gehirn beruhen, sollte die experimentelle Veränderung der gefühlten Pein auch das empathische Mitempfinden beeinflussen. Die Autoren nutzten hierbei das Phänomen der Placebo-Analgesie, bei dem Schmerz mit Hilfe eines Scheinmedikaments, etwa einer Zuckerpille, gelindert wird.

Während eine Hälfte der Versuchsteilnehmer glaubte, ein Schmerzmittel einzunehmen (es enthielt in Wahrheit keinen Wirkstoff), bekam die andere keinerlei Behandlung. Placeboeffekte beruhen auf der Erwartung sowie auf erlernten Reaktionen und führen bei der Placebo-Analgesie zur Ausschüttung körpereigener Opioide: So genannte Endorphine dämpfen hier die Schmerzwahrnehmung, ähnlich wie bei Einnahme eines echten Präparats.

Im Experiment bekamen je zwei Versuchspersonen – eine mit, die andere ohne Placebo – abwechselnd schmerzhafte Stromstöße verabreicht. Zudem wurden das Schmerzempfinden und die Hirnaktivität mittels fMRT gemessen. Ergebnis: Diejenigen mit Placebo litten im Vergleich zur Kontrollgruppe nicht nur selbst weniger Schmerzen, sie zeigten zugleich reduzierte Empathie für den Schmerz des anderen. Das affektive Netzwerk, das für Schmerz und Empathie zuständig ist, war in der Placebogruppe sowohl bei eigenem als auch bei empathischem Schmerz vermindert aktiviert, anders als in der Kontrollgruppe ohne Placebo. Das galt vor allem für den vorderen zingulären Kortex und die vordere Inselrinde, beides Teile des affektiven Schmerznetzwerks.

Ähnliche Ergebnisse erhielt man ein paar Jahre später bei der Gabe des bekannten Schmerzmittels Paracetamol an Probanden der National Institutes of Health in Bethesda. Diese Befunde wurden einige Zeit danach von der ersten Forschungsgruppe erweitert: Die Forschenden zeigten, dass die verringerte Empathie durch Schmerzmittel-Placebos nicht nur bei Schmerz auftritt, sondern sich mitunter ebenfalls auf andere negative Emotionen wie Ekel beim Berühren von Maden oder Schnecken überträgt.

Mit Placebo litt die Person selbst weniger, zeigte aber auch reduzierte Empathie

In einer weiteren Untersuchung konnten meine Kollegen und ich zeigen, dass das Mitempfinden mit Fremden vor allem durch den affektiven und weniger durch den sensorischen Teil des Empathienetzwerks vermittelt wird. In der Studie lenkte ein Schmerzgel-Placebo auf der Hand der Probanden den Fokus auf den Ort des Schmerzes und damit auf sensorische Aspekte von Empathie, führte aber nicht zu spezifisch verringerter Empathie für den Schmerz an diesem Körperteil.

Generelle Empathie statt Körperempfinden

Das Empfinden von Empathie beruht möglicherweise eher auf dem generellen unangenehmen Gefühl, das wir bei jemandem beobachten, statt auf der genauen Stelle im Körper, wo dieses ausgelöst wird. Man empfindet Empathie mit der Person, nicht konkret mit deren rechtem Ellbogen.

Doch welche Konsequenzen hat das für unseren sozialen Umgang? Sind empathischere Menschen etwa hilfsbereiter? Frühere Forschung wies darauf hin, dass Empathie das helfende (»prosoziale«) Verhalten wie Zuspruch oder Hilfsbereitschaft fördert. Andererseits fördern empathisch mitempfundene Emotionen eine Neigung zum Rückzug und schützen damit die Betroffenen selbst vor negativen Gefühlen.

Unsere Forschungsgruppe der Universität Wien ging noch einen Schritt weiter und untersuchte, inwiefern das eigene Schmerzverarbeitungssystem kausal notwendig für Hilfeverhalten ist. Gründen empathische Reaktionen und daraus resultierende Hilfsbereitschaft auf der Fähigkeit, selbst Schmerz zu empfinden? In einem Versuch haben wir Testpersonen mit einer Situation konfrontiert, in der sie glaubten, jemand anderem würden schmerzhafte Elektroschocks verabreicht. Sie hatten selbst die Möglichkeit, die Zahl dieser Reize zu steuern, indem sie ein Kraftmessgerät zusammendrückten. Das kostete allerdings eine Menge Energie. Während des Versuchs erhielt die Hälfte der Probanden wieder ein vermeintliches Schmerzmittel, die andere Hälfte nichts.

Wie sich zeigte, war die Placebogruppe im Durchschnitt weniger bereit, die Zahl der Stromstöße, die der andere erhielt, durch ihre eigene Anstrengung zu reduzieren. Und wenn Menschen sich entschieden, dem anderen zu helfen, drückten diejenigen in der Placebogruppe das Kraftmessgerät weniger stark zusammen als die in der Kontrollgruppe. Der Effekt hing davon ab, wie viel Empathie die Versuchsperson für denjenigen empfand, der die schmerzhaften Reize erhielt. Ergo: Das Placebo reduzierte den eigenen Schmerz, was wiederum die Empathie der Person beeinflusste und ihr Hilfeverhalten einschränkte.

Soziale Fähigkeiten sind eine Grundlage gesellschaftlichen Zusammenhalts

Bereits die Annahme, ein Schmerzmittel zu erhalten, hat demnach Folgen für unsere Empathie. Das ist von großer Tragweite, denn soziale Fähigkeiten sind eine wichtige Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die geschilderte Forschung wirft somit eine Reihe von Fragen auf: Sind Menschen, die regelmäßig Schmerzmittel nehmen, wie etwa Opiatsüchtige, weniger empathisch? Beeinflussen Erkrankungen wie chronische Schmerzen oder angeborene Schmerzunempfindlichkeit die Fähigkeit zum Mitfühlen? Können Personen mit akutem oder chronischem Schmerz das Leid anderer besser oder schlechter nachempfinden? Wie können medizinische Fachkräfte oder Pflegende, die mit Schmerz konfrontiert sind, ihre Emotionen so regulieren, dass sie selbst nicht überlastet werden? Und inwiefern gelten Befunde aus der Schmerzforschung auch für positive Emotionen, etwa Freude über die Beförderung einer Kollegin?

All das gilt es in Zukunft weiter zu erforschen. Fest steht aber schon jetzt: Die empathische Wahrnehmung fremder Schmerzen ist mit eigenem Schmerzerleben verknüpft. Wir fühlen eher mit, wenn wir uns in andere hineinversetzen und unser Emotionssystem anspringt. Stößt sich die Kollegin das nächste Mal den Ellbogen, wissen Sie nun also, warum Sie mitfühlen.

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  • Quellen

Grice-Jackson, T. et al.: Common and distinct neural mechanisms associated with the conscious experience of vicarious pain. Cortex 94, 2017

Hartmann, H. et al.: Placebo analgesia reduces costly prosocial helping to lower another person’s pain. Psychological Science 33, 2022

Hartmann, H. et al.: Another’s pain in my brain: No evidence that placebo analgesia affects the sensory-discriminative component in empathy for pain. NeuroImage 224, 2021

Lamm, C. et al.: Imaging empathy and prosocial emotions. Neuroscience Letters 693, 2019

Rütgen, M. et al.: Placebo analgesia and its opioidergic regulation suggest that empathy for pain is grounded in self pain. PNAS 112, 2015

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