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Esperanto: Eine Sprache, ein Europa?

Eine gemeinsame Sprache, die niemandes Muttersprache ist, könnte Europa zusammenbringen und gerechter machen. Ist das nur ein frommer Wunsch oder der Schlüssel zu wahrer Einheit?
Die blau gekachelte Ich-liebe-dich-Wand am Montmartre in Paris.
Am Montmartre in Paris befindet sich »le mur des je t'aime« – die Ich-liebe-dich-Wand. Darauf ist die Aussage »ich liebe dich« in ungefähr 250 Sprachen wiedergegeben.

Etsuo Miyoshi hat einen Traum: »Alle Menschen sollten sich miteinander unterhalten können«, sagt der ältere Herr und lächelt verträumt. »Wäre das nicht schön? Ich habe mich mein ganzes Leben lang nach so etwas gesehnt.« Zugleich habe er darunter gelitten, dass die Sprachenvielfalt der Welt so groß ist. Bis zu seinem Ruhestand war der heute 84-jährige Japaner Chef des Handschuhherstellers Swany. Beim Versuch der globalen Expansion stieß er immer wieder an Kommunikationsgrenzen.

Sein Problem: Englisch. »Ich habe es versucht. Aber für japanische Muttersprachler dauert Englischlernen viel länger als für Menschen aus dem westlichen Raum.« Denn Japanisch und Englisch haben hinsichtlich Vokabeln, Grammatik und Aussprache kaum Ähnlichkeiten. Wenn Miyoshi etwa gegenüber ausländischen Geschäftspartnern das englische Wort für Handschuh, »glove«, verwendete, klang das wie »gurabu«. »Die Leute verstanden mich nicht!« Nach einem Jahrzehnt erfolglosen Versuchens gab er auf.

Aber seinen Traum von einer Welt, in der alle miteinander sprechen können, hat Miyoshi nie aufgegeben. Vielmehr hat sich der Rentner über die vergangenen Jahre einen Namen als großer Sprachenidealist gemacht. Seit den 1990er Jahren ist er »Esperantist«: Sprecher und Aktivist der Plansprache Esperanto. Und das Projekt für seinen Lebensabend fasst der Japaner heute so zusammen: »Ich kämpfe dafür, dass Esperanto zur Weltsprache wird.«

Eine Zeitungsannonce für Esperanto

Der Ex-Manager ist so überzeugt von dieser Idee, dass er Millionen Euro dafür einsetzt – den Großteil seines Vermögens. Miyoshi, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist, reist um die Welt, hält Vorträge und preist die Vorzüge an, die Esperanto aus seiner Sicht hat: »Esperanto habe ich fünfmal schneller gelernt als Englisch. Nach zwei Jahren beherrschte ich es!« 2023 schaltete Miyoshi in Zeitungen aus Deutschland, Polen und Frankreich ganzseitige Inserate. In fettgedruckten Lettern forderte er Europa auf, Esperanto zu fördern: »EU: ja; Euro: ja, Esperanto?«

Die Idee, eine Weltsprache könnte die Menschen des ganzen Planeten verbinden, ist nicht neu. Und wohl keine andere Plansprache weckt diese Vorstellung so sehr wie Esperanto. Das vom jüdisch-polnischen Arzt Ludwik Zamenhof (1859–1917) entwickelte System folgte genau dieser Vision: Weil es so enorm einfach zu lernen sei, sollte sich Esperanto – was »Hoffender« bedeutet – in Windeseile zum praktischen Kommunikationsmedium für alle mausern.

Etsuo Miyoshi | Der ehemalige Firmenmanager ist »Esperantist«: Miyoshi fördert die Plansprache Esperanto. Dafür bezahlte er 2023 auch ganzseitige Anzeigen in deutschen Tageszeitungen.

Im Jahr 1887 veröffentlichte Zamenhof das erste Esperanto-Lehrbuch – zuerst auf Russisch, dann auf Polnisch, Französisch, Deutsch und Englisch. Dass die deutsche Ausgabe nur 931 Wortelemente enthielt, war Teil des Arguments: Weniger sollte mehr sein. Tatsächlich ist wohl kaum eine Sprache so simpel wie Esperanto. Substantive enden immer auf »o«, Adjektive auf »a« und Verben in ihrer Grundform auf »i«. Ein Großteil der Wörter ist romanischen Sprachen wie Französisch, Italienisch oder Spanisch entlehnt. Daher fällt es Menschen aus diesem Sprachraum leichter, Esperanto gut zu beherrschen. Aber durch seine Sprachstruktur bietet es mutmaßlich für jeden eine simple Alternative.

Falls Esperanto zur offiziellen Sprache würde

Nach seiner Anzeigenoffensive ist Miyoshi nun zum nächsten Schritt übergegangen: Er betreibt Lobbyismus bei Abgeordneten des EU-Parlaments. Vertretern und Vertreterinnen diverser Fraktionen schreibt er Briefe, fordert, Esperanto zur offiziellen EU-Sprache zu machen. »Europa ist die Hoffnung der Welt: Erstens ist die Sprache dort entstanden. Zweitens sind hier viele Staaten unter einem Dach vereint.« Würde Esperanto in Europa eine offizielle Sprache werden, ist Miyoshi überzeugt, wäre sie bald auch weltweit viel populärer, als sie es bislang ist.

»Es gibt mehr als 500 Plansprachen oder Plansprachenprojekte«, sagt der Historiker Bernhard Tuider, der das von der Österreichischen Nationalbibliothek verantwortete Esperanto-Museum in Wien sowie die Sammlung für Plansprachen betreut. »Viele haben den Projektstatus nie überschritten und nur ein kleiner Anteil hat eine Sprechergemeinschaft hervorgerufen.« Die größte Gemeinde vereint Esperanto: Schätzungen reichen von Zehntausenden bis zwei Millionen Menschen, die die Kunstsprache beherrschen.

Aber hätte ein Vorhaben wie jenes von Etsuo Miyoshi überhaupt Aussicht auf Erfolg? Und wäre es nützlich, Esperanto öffentlich zu fördern? In den Augen des Sprachwissenschaftlers Michele Gazzola von der University of Ulster könnte es die europäische Staatengemeinschaft zumindest gerechter machen. »Derzeit gibt es sehr viele Dokumente, die nicht in alle 24 EU-Sprachen übersetzt werden, obwohl sie für geschäftliche oder bürgerschaftliche Aktivitäten wichtig sein könnten. De facto ist Englisch die Hauptsprache der EU.«

Gesucht: eine Lingua franca für alle

Seit dem Brexit haben nur noch zwei Prozent der EU-Bürger Englisch als Muttersprache. »Diese Minderheit hat ein großes Privileg gegenüber allen anderen. Selbst Menschen aus den USA oder Australien haben es einfacher, EU-Dokumente zu lesen, als viele Menschen in der EU«, sagt Gazzola. Unter Nicht-Muttersprachlern könnten meist nur diejenigen mit höherem Bildungsniveau und besserem Einkommen solche Texte lesen und verstehen. So manifestiere sich soziale Ungleichheit.

Die regelmäßige Umfrage der Europäischen Union, das »Eurobarometer«, ergab im Mai 2024, dass sich nur 47 Prozent der EU-Bevölkerung in der Lage fühlen, eine Unterhaltung auf Englisch zu führen. In der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen sind es immerhin 70 Prozent. Der Gesamtanteil der Englischsprechenden hat sich seit 2012 jedoch nur um fünf Prozentpunkte erhöht. Und Gazzola betont: »Bei der Befragung geht es noch nicht einmal um die Kenntnis von Fachbegriffen.« Ausschließlich auf Englisch verfasste EU-Dokumente könnte wohl mehr als die Hälfte der EU-Bevölkerung nicht lesen.

Aber wäre eine Sprache wie Esperanto, die fast niemand beherrscht, denn die bessere Alternative? »Langfristig, wenn man die Sprache lehrt und die Menschen es lernen, schon«, sagt Gazzola. Forschungsergebnisse stützen diese These. Eine 2018 im Fachjournal »Language Problems and Language Planning« veröffentlichte Sammlung von Studien hat gezeigt, dass Grundschulkinder in England rascher Lernfortschritte in Esperanto machen als in Französisch – und alle Schülerinnen und Schüler ähnlich schnell vorankommen.

Erfolgserlebnisse erleichtern das Lernen

Mehrere Forschungsarbeiten haben zudem ergeben, dass Kinder, die Esperanto lernen, weniger Probleme haben, sich danach eine andere Sprache anzueignen. Ein Grund dafür aus Gazzolas Sicht: »Man hat in dieser Sprache früh Erfolgserlebnisse.« Demnach könnte die Förderung von Esperanto als Schulsprache selbst dann noch einen Nutzen haben, wenn die Plansprache danach von kaum jemandem im Alltag gesprochen wird.

All das ist nicht neu. Schon 1922 wurde im Völkerbund, der Vorgängerorganisation der Vereinten Nationen, der Bericht »Esperanto As An Auxiliary Language« (Esperanto als Hilfssprache) vorgestellt, in dem es heißt: »Esperanto hat sich als nützlich erwiesen, Fremdsprachen zu erlernen.« Wobei die Verfasser daraus und aus den Erfahrungen der weltweit rund 1500 Schulen und Instituten, an denen damals Esperanto gelehrt wurde, auch Folgendes ableiteten: »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es in allen Schulen der Welt gelehrt wird.«

Tatsächlich boomte Esperanto in seinen ersten Jahren, vor allem in der Arbeiterschicht, wo Fremdsprachenkenntnisse weniger verbreitet waren als im bürgerlichen Milieu. Nicht nur in Europa, auch in China und Japan gründeten sich Esperantovereine. Der Japaner Inazo Nitobe (1862–1933), einst stellvertretender Generalsekretär des Völkerbunds, drängte als Esperanto-Sprecher darauf, die Sprache in die Lehrpläne zu bekommen.

Allerdings gab es immer auch Gegner. Insbesondere Frankreichs Staatsvertreter sahen die Dominanz des Französischen bedroht. Die schwersten Rückschläge erlitt die Idee durch den Aufstieg des Faschismus: In Deutschland verboten die Nationalsozialisten diverse Esperanto-bezogene Aktivitäten. Später, während des Kalten Kriegs, hatte die Plansprache dann kaum noch Platz auf dem Kontinent: Der Westen hatte Englisch zu sprechen, der Osten Russisch.

Totgeglaubte leben länger

Doch tot ist Esperanto nicht. Wie Bernhard Tuider betont, existieren unzählige literarische Werke auf Esperanto. Zudem entwickle sich die Sprache weiter. »Sobald es eine neue gesellschaftliche Entwicklung gibt, braucht man ein neues Wort dafür. So heißt Blog ›blogo‹, ›blogi‹ heißt bloggen, ›la blogisto‹ ist der Blogger.« Dialekte bildeten sich dagegen bis heute nicht aus, anders als im 19. Jahrhundert vermutet. »Es liegt wohl daran, dass es von Beginn an eine niedergeschriebene Grammatik gab«, erklärt Tuider.

Durch Lern-Apps für Sprachen erfahre Esperanto derzeit sogar einen Aufschwung. Bis zu 300 000 Menschen würden sich jährlich als Einsteiger daran versuchen, heißt es seitens des Deutschen Esperanto-Bunds. Und dennoch schätzt Michele Gazzola die Chancen, dass sich die EU auf noch eine weitere offizielle Sprache einigen wird, als gering ein – immerhin gebe es schon 24 davon.

»Spanien versucht derzeit, Katalanisch zu fördern, weil die Regierung in Madrid auf Unterstützung aus dieser Region angewiesen ist«, führt der Sprachwissenschaftler aus. Noch sei unklar, ob andere Mitgliedsstaaten diesem Vorhaben, das einstimmig beschlossen werden müsste, zustimmen. »Im Moment gilt das als unwahrscheinlich.« Für Esperanto, das niemandes Muttersprache ist, sieht es wohl noch düsterer aus.

Esperanto bräuchte einen Paten

Eine Chance sieht Gazzola trotzdem: »Einige Sprachen, wie Katalanisch und Baskisch, haben derzeit quasi-offiziellen Status. Das bedeutet, dass Dokumente ins Katalanische und Baskische übersetzt werden können, die Kosten dafür aber Spanien tragen muss.« Ähnliches könnte für Esperanto in Angriff genommen werden. Polen, als Heimat von Ludwik Zamenhof, und Kroatien, als Land mit relativ vielen Esperantosprechenden, erklärten Esperanto 2014 und 2019 zu ihrem immateriellen Kulturerbe. »Das ist schon eine Art offizielle Unterstützung«, so Gazzola. Beide Staaten könnten daher für Esperanto einen quasi-offiziellen Status beantragen. Nur müssten sie dann auch für die Übersetzungskosten aufkommen. Was nach den Europawahlen vom Juni 2024 nicht einfacher geworden sein dürfte, als in beiden Ländern rechtsnationale Parteien große Stimmenanteile auf sich vereinen konnten.

Gazzola warnt ohnehin davor, allzu viele Hoffnungen in die völkerverbindende Kraft von Sprachen zu stecken. »Es gibt diese sehr alte Frage, die bis zu Aristoteles zurückreicht: Wenn du eine geeinte Gesellschaft willst, müssen die Menschen miteinander sprechen können?« Über die vergangenen 30 Jahre hat sich Englisch de facto zur EU-Sprache entwickelt. »Aber hat dies das Zugehörigkeitsgefühl der Menschen in England zur EU verbessert?«, sagt Gazzola. »Absolut nicht. Das hat der Brexit klar gezeigt.«

Auch von den EU-Politikern aus diversen Ländern, die der Esperantist Etsuo Miyoshi kontaktiert hat, kommen meist nur verhaltene Reaktionen. Von der EU-Kommission erhielt er zuletzt folgende Antwort: »Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass die EU nicht befugt ist, über die Sprachen zu entscheiden, die in den Mitgliedsstaaten gesprochen oder unterrichtet werden.« Und Mehrsprachigkeit unterstütze man ohnehin schon. Auch wenn die Mehrheit der EU bis heute kaum miteinander sprechen kann.

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