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Raumfahrt: Europas verpasste Chance

Die Mitgliedstaaten der ESA machen mehr Geld für das Weltall locker. Die großen Probleme der europäischen Raumfahrt lassen sich so jedoch kaum lösen.
ESA-Ministerkonferenz 2019

Europa will zum Mond. Es will zum Mars. Es will weiterhin auf der Raumstation ISS forschen. Es will die Erde beobachten, Raketen starten, dem Weltall seine Geheimnisse entlocken. Europa will viel – und lässt sich das viel kosten: 14,4 Milliarden Euro haben die 22 Mitgliedstaaten der Europäischen Raumfahrtagentur ESA am Donnerstag bei ihrem Ministertreffen im spanischen Sevilla für die nächsten Jahre lockergemacht. Eine Rekordsumme, wie die ESA jubelt.

Doch Geld allein löst keine Probleme. Nicht, wenn die Ausgaben auf eine Vielzahl teils unterfinanzierter Projekte aufgeteilt werden. Und insbesondere nicht, wenn die Probleme struktureller und politischer Natur sind. Denn davon hat die ESA nach wie vor viele. Immerhin: Kleine Schritte, um die Probleme endlich anzupacken, wurden in Sevilla unternommen.

Keine Raketenwissenschaft, sondern komplizierter

Dort hat sich einmal mehr gezeigt: Die Budgetverhandlungen der ESA sind keine Raketenwissenschaft. Sie sind komplizierter. Manche der Programme, über die der Ministerrat entscheidet, sind verpflichtend, andere sind freiwillig. Manche müssen für drei Jahre finanziert werden, andere für fünf. Vor allem aber müssen die oftmals widerstrebenden Interessen von 22 Mitgliedstaaten unter einen Hut gebracht werden. Von Regierungen, die die Raumfahrt – bei aller Liebe zum Weltall – primär als Instrument der Wirtschaftspolitik sehen, und die sich vor allem eine Frage stellen: Wie können wir über die ESA genau jene Aufträge an Land ziehen, von denen die Raumfahrtindustrie in unserem Land am meisten profitiert?

Sevilla war hier keine Ausnahme. Im Gegenteil. Exemplarisch zeigt sich das einmal mehr am wahrscheinlich größten europäischen Sorgenkind: der Ariane-6-Rakete. Im Jahr 2014 beschlossen die ESA-Minister eine Nachfolgerin für ihre alte, teure, zu große und nicht mehr zeitgemäße Ariane 5 zu bauen. Frankreich hätte am liebsten eine Rakete mit Feststofftriebwerken gehabt, weil die französische Kompetenz auf diesem Bereich liegt. Deutschland, führend bei Wasserstoffantrieben, wollte eine Rakete mit – natürlich – Wasserstoffantrieb.

Ariane-6 | Die Ariane 6, Europas neue Trägerrakete, soll schwere Lasten ins All bringen. Sie ist auf dieser Darstellung mit vier Feststoffboostern ausgerüstet.

Herausgekommen ist ein typisch europäischer Kompromiss: Erste und zweite Brennstufe der Ariane 6 setzen auf Wasserstoff, ergänzt werden sie durch zwei oder vier Booster mit Festbrennstoffen. Es ist eine solide Rakete mit einigen Verbesserungen bei Technik und Produktion geworden, aber kein großer Wurf. Vor allem aber wurde sie hineinentwickelt in einen sich rasant wandelnden Raketenmarkt, der schon bald vom kalifornischen Unternehmen SpaceX dominiert werden sollte – mit Kampfpreisen von 56 Millionen Euro pro Start, mit billiger Massenfertigung, mit günstigem Kerosin als Treibstoff, mit einer wiederverwendbaren ersten Stufe. Die Ariane 6, deren Erststart nun für Ende 2020 angepeilt wird, ist und bleibt hingegen ein Wegwerfprodukt. Ein rund 80 Millionen Euro teures Wegwerfprodukt.

Die Antwort in Sevilla? Ein beherztes Weiter-so. Etwa zwei Milliarden Euro werden in den nächsten drei Jahren für Europas Raketen ausgegeben. Das Geld soll unter anderem den Übergang von der Ariane 5 zur Ariane 6 erleichtern, aber auch die ersten 14 Starts der neuen Rakete nach ihrem Jungfernflug unterstützen – eine Subvention, die bislang beim Ariane-6-Programm als ausgeschlossen galt.

Mehr als 250 Millionen Euro sollen zudem in die Weiterentwicklung der bislang glücklosen Rakete fließen – unter anderem in ein neues Triebwerk namens Prometheus, das Methan statt Wasserstoff verbrennen kann. Auch wenn die ESA damit wirbt, dass einzelne Prometheus-Entwicklungen bereits in die Ariane 6 einfließen könnten, soll das Triebwerk als Ganzes erst Ende des nächsten Jahrzehnts abheben. Konkurrenten wie SpaceX und Blue Origin testen ihre Methantriebwerke derweil bereits auf dem Prüfstand.

Fragwürdige Weiterentwicklung einer zu teuren Rakete

All die Millionen für die Weiterentwicklung, sie sind letztlich Kosmetik, ein Konjunkturprogramm für die Industrie. Aber sie werden die Rakete kommerziell nicht retten. Sicherlich: Es gibt gute Gründe an der Ariane 6. Zum Beispiel den, dass sie einen eigenständigen Zugang Europas zum Weltall garantiert, wie Frankreich und Deutschland bereits im Vorfeld von Sevilla klargemacht hatten. In einer Welt, in der auf bisherige Verbündete immer weniger Verlass ist, ist das ein Argument, das man nicht ohne Weiteres vom Tisch wischen kann. Aber muss man die Ariane 6, von der niemand weiß, wie oft sie überhaupt fliegen wird, dafür noch teuer weiterentwickeln? Muss man dem schlechten Geld noch gutes hinterherwerfen?

Synchronlandung | Die beiden Booster von SpaceXs Falcon-Heavy-Rakete landen nach dem Start am 6. Februar 2018 unbeschadet nahe der Startrampe in Cape Canaveral – für viele Beobachter ein Moment, der in die Raumfahrtgeschichte eingehen wird.

Zumal die eigentlichen Probleme tiefer liegen: Eines der Grundprinzipien der ESA nennt sich Geo-Return. Jedes ESA-Mitgliedsland erhält Industrieaufträge für ein Programm in genau jenem Verhältnis zurück, in dem es sich zuvor an der Finanzierung des Vorhabens beteiligt hat. Vor allem die kleinen Mitgliedstaaten, die keine eigenen Projekte stemmen können, profitieren von dem System. Doch es ist ineffizient. So muss die ArianeGroup als Hauptauftragnehmerin für die Ariane 6 bei der Ausschreibung und Vergabe von Unteraufträgen darauf achten, dass unter den 600 beteiligten Firmen die Länderquoten erfüllt werden.

Bereits vergangenes Jahr klagte daher der damalige Chef der ArianeGroup, Alain Charmeau: »Von uns wird verlangt, Technologien in Ländern entwickeln zu lassen, in denen diese Technologien noch gar nicht existieren. Von uns wird verlangt, mit 13 europäischen Ländern zu kooperieren, weil das die ESA so will.« Charmeaus Fazit: »Es ist, als ob sie ihrem Champion im 100-Meter-Lauf ein 50 Kilogramm schweres Gewicht zusätzlich auf die Schultern packen würden. Es ist – verglichen mit der Konkurrenz – nicht dasselbe Rennen.«

Programm zur Restrukturierung

Langsam scheint das auch bei den ESA-Mitgliedsländern anzukommen. Die Industrie wurde in Sevilla aufgefordert, bis Mitte 2020 ein Programm zur Restrukturierung vorzulegen, das unter anderem auch die Schließung einzelner Standorte umfasst. Zudem will die ESA die Entwicklung kleiner, kommerzieller Raketen indirekt fördern – indem sie den neuen Unternehmen Testanlagen zur Verfügung stellt oder Missionen gezielt mit diesen Raketen starten lässt. Dafür sind allerdings nur 53 Millionen Euro eingeplant, keine Milliarden. »Es ist ein Signal«, sagt Daniel Neuenschwander, ESA-Direktor für Raumtransportsysteme. Mehr aber auch nicht.

Wie sehr die einzelnen Mitgliedsländer auf ihre eigenen Vorteile aus sind, wie sehr sie sich dabei verzetteln, zeigt sich bei Mond, Mars und Raumstation. Gut 550 Millionen Euro sollen für eine ambitionierte robotische Marsmission ausgegeben werden, die zusammen mit den Amerikanern erstmals Bodenproben vom Roten Planeten zur Erde bringen könnte. Etwa 900 Millionen Euro sind für die Internationale Raumstation ISS eingeplant, die weiterhin betrieben werden soll – schließlich war ihr Aufbau teuer genug. Aber selbst bei diesen beiden Vorhaben gehen die Meinungen bereits auseinander. Deutschland zum Beispiel trägt bei der ISS fast 50 Prozent der europäischen Kosten, lässt für den Mars mit 25 Millionen Euro aber nur weniger als fünf Prozent springen.

Damit nicht genug: Europa will auch beim so genannten Gateway mitmischen, einer neuen, zeitweise bewohnten Raumstation in der Nähe des Mondes, die die Amerikaner gemeinsam mit internationalen Partnern aufbauen wollen. Mehrere 100 Millionen Euro sollen dafür investiert werden. Das reicht, um mit dem Bau zweier Module zu beginnen. Um sie fertig zu stellen und zu starten, sind allerdings zwei weitere Finanzierungsrunden nötig. Sprich: Ministertreffen mit ihren dreijährigen Zyklen. Vor 2025 ist somit an einen Start nicht zu denken. Niemand weiß, ob das Gateway dann bei der mitunter wankelmütigen US-Politik und ihrem ambitionierten Artemis-Mondprogramm überhaupt noch ein Thema sein wird.

Etwa 150 Millionen Euro will die ESA zudem in ein robotisches Mondlandegerät investieren – eine Art lunarer Lastwagen für wissenschaftliche und kommerzielle Frachten. Der Betrag reicht für detaillierte Studien, mehr aber auch nicht. Die US-Raumfahrtbehörde NASA ermutigt und fördert derweil den Bau kommerzieller Mondfrachter, bei denen sie künftig nur noch Frachtkapazitäten anmieten möchte. Ein neuer, radikal-kommerzieller Weg. Und ein Vorbild für Europa? Eine Chance für Start-ups? ESA-Explorationschef David Parker schüttelt den Kopf. Man habe schließlich zwei etablierte Raumfahrtfirmen, die um den Bau des Mondfrachters konkurrieren könnten. Das sei Wettbewerb genug.

Zwei Milliarden für wenig durchdachtes Potpourri

Knapp zwei Milliarden Euro werden für dieses Potpourri an mehr oder weniger durchdachten Missionen fällig. Nicht auszudenken, was Europa anstellen könnte, würde es seine Interessen – und Finanzen – in diesem Bereich bündeln. Dafür mangelt es bei den wirklich wichtigen Dingen. 900 Millionen Euro wollte ESA-Generaldirektor Johann-Dietrich Wörner für den Bereich Sicherheit im Weltraum: für den Schutz vor Sonnenstürmen, die Satelliten und Stromnetze lahmlegen, vor Asteroiden, deren Einschlag das Leben auslöschen kann, vor Satellitenkollisionen und Weltraumschrott, die die globale Infrastruktur im All gefährden. Bekommen hat er 541 Millionen Euro – magere 4,3 Prozent der Gesamtausgaben. »Das ist trotzdem kein Desaster«, tröstet sich Wörner. »Wir können das machen, was wir wollten. Wir müssen manche Dinge nur etwas verzögern.«

Konkret heißt das, wie Rolf Densing, ESA-Direktor für den Missionsbetrieb, vorrechnet: Für die Hera-Mission, die aus dem Beschuss eines Asteroiden durch eine US-Sonde Rückschlüsse über das Ablenken solcher Brocken ziehen soll, sind 160 Millionen Euro zugesagt worden. Etwa 130 Millionen Euro fehlen noch für die Umsetzung, frühestmöglicher Starttermin ist 2024. Für einen Frühwarnsatelliten gegen Sonnenstürme wurden nur 90 Millionen bewilligt; das reicht lediglich für die Entwicklung der Instrumente. An einen Start vor 2026 ist daher nicht zu denken. Und für Adrios, einen Satelliten, der Weltraumschrott einfangen und sicher zur Erde bringen soll, wurden 65 Millionen zugesagt. 38 Millionen fehlen noch, Start nicht vor 2025.

Dabei dürfte – angesichts Unmengen geplanter Satelliten – Weltraumschrott künftig zum großen Problem werden. Hier wären kreative Ideen gefragt. Hier könnten sich junge, unkonventionelle Unternehmen austoben – genau jene New-Space-Economy, die der deutsche Raumfahrtkoordinator Thomas Jarzombek so gern beschwört. Hier könnten die Mitgliedstaaten einer neuen Industrie – viel versprechend, aber auch mit Risiken behaftet – zum Durchbruch verhelfen.

Es wäre die große Chance für den Einstieg in eine andere, eine neue Raumfahrt in Europa gewesen. Für eine European New Space Agency, wie von Wörner bei seiner Eröffnungsrede in Sevilla gefordert. Die ESA-Mitgliedstaaten haben diese Chance vertan.

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