Tabus in der Psychologie: Worüber zu wenig geforscht und geredet wird
Im Mai 2024 erschien eine Studie in der Fachzeitschrift »Perspectives on Psychological Science«: Ein Team um die Psychologin Cory Clark und ihren Kollegen Philip Tetlock von der University of Pennsylvania berichtete darin von einer groß angelegten Umfrage zu Tabus und Selbstzensur in der psychologischen Forschung. Die Gruppe hatte Professorinnen und Professoren von 133 Universitäten in den USA zehn umstrittene Thesen ihres Fachs vorgelegt und gefragt, ob sie diese auf einer Konferenz äußern würden oder nicht.
Zwei Aussagen, die demnach am häufigsten der Selbstzensur unterlagen: »Die Neigung zu sexualisierter Gewalt ist wahrscheinlich entstanden, weil sie Männern evolutionäre Vorteile brachte.« Und: »Eine Transgender-Identität ist manchmal das Ergebnis sozialer Einflüsse.« Rund die Hälfte der Professorinnen und Professoren wollten diese Thesen nicht öffentlich vertreten, auch wenn sie sie eigentlich für richtig hielten – aus Angst davor, deshalb ausgegrenzt oder angefeindet zu werden.
Die Studie sollte die wachsende »wahrgenommene Spannung zwischen akademischer Freiheit und moralisch verantwortlicher Wissenschaft« empirisch belegen und greifbar machen, wie die Autoren erklären. Sie befeuern damit eine Debatte, die auch in der breiteren Öffentlichkeit angekommen ist: Herrscht in der Wissenschaft ein Meinungsklima, in dem bestimmte Thesen unerwünscht oder gar tabu sind?
In Deutschland sprechen Forschungsvereinigungen wie das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit von einem zu hohen Konformitätsdruck und machen dafür politische Korrektheit verantwortlich. Aber wie verhält es sich tatsächlich: Gibt es auch hier zu Lande psychologische Themen und Thesen, die ungern erforscht oder öffentlich vertreten werden?
»Tabus im engeren Sinn – dass ein Thema nicht beforscht wird, weil es nicht sein darf – gibt es in Deutschland nicht«, sagt Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). »Aber ich denke schon, dass es Themen gibt, die so politisiert sind, dass das Einfluss darauf hat, wie Forschungsergebnisse interpretiert werden.«
»Ich frage mich, ob auf Grund der maximalen politischen Erwünschtheit von Kinderbetreuung solche Fragen vielleicht nicht in ausreichendem Maß gestellt werden«Andreas Meyer-Lindenberg, Psychiater
Er nennt ein Beispiel: die neurowissenschaftliche Erforschung von Sex und Gender – also vom biologischen und sozialen Geschlecht – und damit verbunden auch das Thema Transgeschlechtlichkeit und Geschlechtsdysphorie bei Kindern. »Da gibt es Lager, die sich unversöhnlich gegenüberstehen«, sagt Meyer-Lindenberg. »Das ist eine Debatte, die unglaublich schnell mit nahezu allen Akteuren emotional wird.« Er beobachte eine starke Politisierung, zunehmend auch in der deutschen Forschungswelt – und zwar in einem Maß, dass er das Thema nur ungern im Kolleginnen- und Kollegenkreis anspreche. »Im Sinn von: ›Hast du dieses Paper gelesen? Was denkst du dazu?‹ – das würde ich jetzt nicht aufs Tapet bringen, wenn es nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Interaktion ist«, so der Psychiater. Das heiße aber nicht, das hierzu nicht geforscht werde.
Anders sei es bei dem Thema Kinderbetreuung: Hier sieht Meyer-Lindenberg durchaus eine Forschungslücke. »Zu der Frage, wie die Kita-Betreuung die Entwicklung von Kindern beeinflusst, gibt es unterschiedliche Befunde, vor allem aus anderen Ländern: Es gibt Daten, die sagen, es ist gut für die Entwicklung der Kinder, andere sagen, es ist eher schlecht.« Aber es gebe keine repräsentativen Studien in Deutschland, die das bezogen auf solche Einflussfaktoren systematisch erfassen. »Und ich frage mich, ob auf Grund der maximalen politischen Erwünschtheit von Kinderbetreuung solche Fragen vielleicht nicht in ausreichendem Maß gestellt werden«, sagt Meyer-Lindenberg.
»Ein soziologisch spannendes Tabu wird durch kein Gesetz auferlegt, sondern die Forscher erlegen es sich selbst auf«Uwe Schimank, Soziologe
Der Soziologe Uwe Schimank spricht in solchen Fällen von Tabus der spannenden Sorte. Schimank ist am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Bremen tätig und beschäftigt sich unter anderem mit Wissenschafts- und Hochschulforschung. 2022 hat er in einem Beitrag für die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften die Debatte um die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland nachgezeichnet und historisch eingeordnet. »Ein langweiliges Tabu ist, wenn man Tabu einfach mit Forschungsverbot gleichsetzt«, sagt er. »Ein soziologisch spannendes Tabu wird durch kein Gesetz auferlegt, sondern die Forscher erlegen es sich selbst auf, weil es dem wahrgenommenen gesellschaftlichen Meinungsstand entspricht.«
Ein Thema, das in den Sozialwissenschaften ein Tabu darstellt, ist der Beitrag biologischer Faktoren wie zum Beispiel der Gene zu sozialen Unterschieden. Auch Schimank bemerkt, wie unverrückbar dieses Tabu verankert ist. »Wir erforschen beispielsweise nicht, wie sich biologische Faktoren – zum Beispiel bei Intelligenzunterschieden – auf soziale Ungleichheit auswirken«, sagt der Soziologe. »Es gibt einen guten Grund dafür: In der Vergangenheit wurden biologische Faktoren ideologisch herangezogen, um Ungleichheiten zu rechtfertigen.« Heute werde die Frage gar nicht mehr geprüft. »Ich würde nie behaupten, dass dies eine bedeutsame Forschungslücke ist«, sagt Schimank. »Aber es gibt keine Diskussion darüber. Alle gucken betreten weg und wechseln das Thema – weil alles andere die unselige Vergangenheit heraufbeschwören würde.«
»Genetische Korrelate von Verhaltensmerkmalen zu überprüfen – das ist ein sehr sensibler Bereich«Andreas Meyer-Lindenberg, Psychiater
Auch DGPPN-Präsident Meyer-Lindenberg sieht heikle Themen besonders auf dem Feld der Genetik, etwa in der Forschung zu Ursachen von Aggression und Intelligenzunterschieden. »Genetische Korrelate von Verhaltensmerkmalen zu überprüfen – das ist ein sehr sensibler Bereich«, sagt er.
Aber bedeutet das auch, dass die Wissenschaftsfreiheit auf diesen Gebieten eingeschränkt ist? Und wie empfinden die betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst das Forschungsklima? »Da ist die Debatte schriller als die Realität«, sagt Uwe Schimank. Er wirkt an einer von der ZEIT-Stiftung geförderten großen Umfrage an deutschen Universitäten mit, die im Oktober 2024 repräsentative Zahlen vorgelegt hat (»Fühlen sich Forschende in Deutschland eingeschränkt?«). Demnach vertreten etwa 90 Prozent der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Meinung, dass die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland nicht bedroht sei. Fast ebenso viele hätten weder Beeinträchtigungen ihrer eigenen Forschungstätigkeit erlebt noch dergleichen in ihrem Umfeld wahrgenommen.
Doch besonders bei bestimmten Themen kann es heikel werden. Die Medienpsychologin Lena Frischlich, außerordentliche Professorin am Digital Democracy Center der Süddänischen Universität in Odense, erforscht Anfeindungen gegenüber Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Sie legt Wert auf Differenzierung: »Wer beschwert sich laut und an welchen Stellen wird tatsächlich Druck ausgeübt?« Vor allem reichweitenstarke Forschung zu politisch umstrittenen Themen wie Geschlechterforschung, Extremismus oder Migration zögen Anfeindungen oder auch Angriffe nach sich. Insgesamt seien zudem Frauen, People of Color und sexuelle Minderheiten eher von Anfeindungen im Netz betroffen. »Das kann – nicht bei allen, aber bei manchen – auch zu Silencing-Effekten führen. Also dass man schon im Vorfeld sagt: ›Das Thema ist mir zu heiß, das fasse ich gar nicht erst an.‹ Oder: ›Ich äußere mich nicht zu dem Thema und bringe das, was ich weiß, nicht in die öffentliche Debatte ein.‹«
Abgesehen von diesen politisierten Debatten gebe es aber noch andere Faktoren, die verhinderten oder erschwerten, dass sich bestimmte Forschungsthemen etablierten. »Wenn wir über Tabus reden, dann reden wir eigentlich darüber, dass bestimmte Dinge, die die Wissenschaft und die Gesellschaft weiterbringen würden, nicht erforscht werden«, sagt sie. »Da gibt es verschiedene Faktoren, die Innovationen im Wissenschaftssystem befördern, und andere, die vielleicht eher nicht dazu beitragen – und nicht alle haben mit moralischen Tabus zu tun.«
Die Begutachtung bei der Verteilung von Fördergeldern, so belegten es Studien, würdige nicht immer die innovativsten Ideen. Wenn hingegen Forschungsgelder verlost würden – so legen es Testläufe unter anderem von der VolkswagenStiftung nahe – resultiere das nicht in einem geringeren oder qualitativ schlechteren Forschungs-Output. Stattdessen würden auch solche Projekte eine Chance bekommen, die aus unbekannteren oder unterrepräsentierten Kolleginnen- und Kollegenkreisen stammen.
Aber auch die Themen der Ausschreibungen sorgen für ungleiche Chancen. So habe es in politikrelevanten Feldern in den vergangenen Jahren sehr viele Ausschreibungen gegeben – und entsprechend viele Ressourcen. »Forschung muss auch einen gesellschaftlichen Mehrwert liefern«, räumt Frischlich ein. Aber das gehe manchmal auf Kosten der Grundlagenforschung. »Sie dauert teilweise viele Jahre – das funktioniert nicht immer mit so einer Dreijahresförderlogik.«
Diesen Aspekt hebt auch Uwe Schimank hervor: »Vor 30 oder 40 Jahren konnte ein Professor an einer deutschen Universität mit dem Geld, was ihm als Grundausstattung zur Verfügung stand, noch ein gewisses Maß an eigenständiger Forschung betreiben«, sagt er. Heute hingegen brauche man vermehrt Drittmittel, das heißt Fördergelder, die Forschende über Projektanträge zum Beispiel bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, bei Stiftungen oder Unternehmen einwerben müssen. »Da muss man gelegentlich ziemliche Kompromisse machen«, sagt Schimank mit Blick auf Forschungsthemen, die bestimmte Mittelgeber bevorzugt unterstützen. Schimank hält das für beobachtungswürdig. »Wenn da etwas passiert, passiert es schleichend, und das heißt, man merkt es lange Zeit gar nicht, und wenn man es merkt, ist es im Grunde schon zu spät.«
André Bittermann und Andreas Fischer berichteten 2018, welche psychologischen Themen in den vorangegangenen Jahren Konjunktur hatten: darunter Neuropsychologie und Genetik, Online-Therapie, traumabedingte Störungen und Migration. Insbesondere das Thema Traumatisierung von Geflüchteten durch Krieg und Folter lag stark im Trend.
Wenn ein Thema zum Zeitgeist passt, steigen die Chancen auf Mittel und Publikation, erklärt die Psychologin Helen Niemeyer von der FU Berlin. In einem Kooperationsprojekt mit der Humboldt-Universität untersucht sie, was nach welchen Kriterien veröffentlicht wird und was eher gelesen und zitiert wird. Dass manche Themen mehr Aufmerksamkeit bekommen, findet sie nicht per se schlecht. »Für andere Themenbereiche, die gerade nicht so im Trend liegen, kann das allerdings bedeuten, dass sie ausgehungert werden«, gibt Niemeyer zu bedenken.
Eine solche Ungleichverteilung beobachtet die Psychologin bei der Suche nach den Ursachen von psychischen Erkrankungen. »Wir wissen, dass die Prävalenz für viele psychische Erkrankungen bei Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status höher liegt. Und wir wissen, dass diese Menschen in der Behandlung tendenziell unterrepräsentiert sind.« Doch wie genau finanzielle Probleme, Arbeitslosigkeit und Bildungsunterschiede zu psychischen Problemen beitragen, sei noch weitgehend unerforscht. »Soziale Faktoren sind ein blinder Fleck oder eine Blackbox im biopsychosozialen Modell psychischer Erkrankungen«, sagt Niemeyer. Das liege auch daran, dass das Thema nicht leicht zu beforschen sei, weil viele mögliche Einflüsse gemeinsam betrachtet werden müssten.
Welche Themen und Thesen keine Aufmerksamkeit bekommen oder sogar tabu sind, ist also nicht nur eine Frage ihrer moralischen, sozialen oder politischen Erwünschtheit. Es sind auch die Institutionen und ihre Förder- oder Begutachtungsverfahren, die im Hintergrund eine weniger sichtbare, aber mindestens ebenso große Rolle spielen.
»Eigene Expertise ist die Grundvoraussetzung, dass man in Deutschland Wissenschaftsfreiheit für sich beanspruchen kann. Alles andere zählt zur Meinungsfreiheit«Janika Spannagel, Politikwissenschaftlerin
Auch wenn sich die kritischen Themen diesseits und jenseits des Atlantiks ähneln: Der eingangs geschilderte Befund in Sachen Selbstzensur in den USA lässt sich auf Deutschland nicht so einfach übertragen. Fragt man Forschende in Deutschland danach, wird eines gern vorausgeschickt: Das Wissenschaftssystem in den USA sei anders. So sagt es auch Janika Spannagel, Postdoc an der Freien Universität Berlin und Mitentwicklerin des Academic Freedom Index, der die Wissenschaftsfreiheit eines Landes anhand von Indikatoren wie der akademischen Ausdrucksfreiheit bewertet.
»In den USA werden Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit extrem stark überlappend gesehen, wenn nicht sogar gleichgesetzt«, erklärt Spannagel. »Das ist in Deutschland nicht der Fall: Wir haben einen separaten Artikel zur Wissenschaftsfreiheit im Grundgesetz.« Dieser beziehe sich auf die Freiheit, in Forschung und Lehre Position beziehen zu können und Inhalte zu vermitteln, die wissenschaftlich belegbar seien – und die im Bereich der eigenen Expertise liegen. »Das ist die Grundvoraussetzung, dass man in Deutschland Wissenschaftsfreiheit für sich beanspruchen kann. Alles andere zählt zur Meinungsfreiheit.« Für Wissenschaftler sei es ein Gebot der Professionalität, nicht öffentlich als Expertin oder Experte zu einem Thema Stellung zu beziehen, zu dem man keine Expertise habe.
Eigentlich, so Spannagel, sei Selbstzensur ein wichtiger Indikator, um greifbar zu machen, inwiefern sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrer akademischen Freiheit bedroht sähen. Doch die systematische Erfassung werde durch ungenaue Definitionen erschwert, und an entsprechenden Umfragen nähmen womöglich vor allem jene teil, die bereits den Eindruck hätten, sie müssten sich zensieren. Nicht zuletzt drohe eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: »Wenn alle davon reden, wie groß die Selbstzensur ist, dann fangen noch mehr Leute an, sich zu fragen: Darf ich mich da überhaupt zu äußern?«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.