Astronomie: Planet Neun hält sich bedeckt
Am Rand des Sonnensystems suchen Astronomen eine neue Welt: Glaubt man ihren Berechnungen, dann kreist sie weit jenseits der Bahn von Neptun. Mit ihrer Gravitationskraft soll sie Kleinplaneten jenseits von Pluto auf ungewöhnliche Bahnen zwingen und sogar die Drehachse der Sonne verkippen. Bis zu zehnmal schwerer als die Erde soll sie sein. Doch nicht wenige Forscher zweifeln, dass es »Planet Neun« überhaupt gibt.
»Die Planet-Neun-Hypothese ist faszinierend«, meint Antranik Sefilian von der britischen Universität Cambridge. »Aber wenn dieser hypothetische Planet existiert, hat er bislang jeden Versuch seiner Entdeckung vereitelt.« Zusammen mit seinem Kollegen Jihad Touma von der American University of Beirut im Libanon schlug Sefilian in der Zeitschrift »Astronomical Journal« unlängst eine Alternative vor: Statt eines Planeten könnte auch ein bislang unentdeckter Ring aus kleinen Asteroiden im äußeren Sonnensystem für die ungewöhnlichen Bahnen einiger Kleinplaneten verantwortlich sein, die dem Planeten Neun zugeschrieben werden. »Unsere Idee war: Anstatt einen neunten Planeten zu postulieren und sich dann über dessen Entstehung den Kopf zu zerbrechen, warum untersuchen wir nicht einfach, was die kombinierte Gravitationskraft vieler kleiner Objekte in einer Scheibe jenseits der Neptunbahn ausrichten kann?«
Die Gravitation ist das einzige Indiz, das bislang für die Existenz eines weiteren Planeten im Sonnensystem spricht. Jenseits der Bahn des Neptun hatten Astronomen in den frühen 1990er Jahren die ersten Objekte des so genannten Kuipergürtels gefunden. Zu ihnen zählt seither der zuvor als Planet klassifizierte Pluto. Die meisten dieser auch »Trans-Neptun-Objekte«, kurz TNOs, genannten Körper sind deutlich kleiner als die Erde und bewegen sich auf mehr oder weniger kreisförmig um die Sonne. Ihre Bahnen führten sie bis maximal 50 Astronomische Einheiten an die Sonne heran (eine Astronomische Einheit, kurz AE, ist die mittlere Entfernung der Erde zur Sonne, also 150 Millionen Kilometer). Damit gerieten sie regelmäßig in den Einflussbereich des Neptun, der in 30 AE Abstand zur Sonne kreist.
Die neu entdeckten Objekte passten somit perfekt ins astronomische Modell unseres Sonnensystems. Doch im Jahr 2003 fanden die Astronomen Mike Brown, Chad Trujillo und David Rabinowitz in diesem Kuipergürtel ein Objekt, das nicht so richtig dazugehören wollte: Sedna. Mit einem Durchmesser von 1000 Kilometern ist Sedna ungewöhnlich groß. Wirklich außergewöhnlich aber ist ihr Orbit. Sedna kommt der Sonne nie näher als 76 AE und ist auf ihrem fernsten Punkt fast 1000 AU entfernt. Für einen Sonnenumlauf benötigt sie über 10 000 Jahre.
Wer hat Sedna geschubst?
Ihre Bahn ist also viel langgestreckter als die der normalen Kuipergürtelobjekte. Ein solch extremer Orbit ist unnatürlich: Sedna konnte mangels Baumaterial auf dieser Bahn nicht entstanden sein. Irgendetwas musste sie in ihren jetzigen Orbit geschubst haben. Der übliche Verdächtige dafür wäre Neptun, doch der stellte sich als unschuldig heraus: Selbst während ihres minimalen Sonnenabstands kommt Sedna dem Planeten nicht nah genug, um von Neptuns Gravitation beeinflusst zu werden.
In den Folgejahren fanden Astronomen fünf weitere TNOs mit ähnlich extremen Bahnen. Im Jahr 2014 bemerkten die amerikanischen Astronomen Chad Trujillo und Scott Sheppard eine auffällige Übereinstimmung bestimmter Bahndaten dieser extremen TNOs. Ihre Erklärung: Ein weit außen kreisender, bislang unbekannter Planet beeinflusst ihre Bahnen. Zwei Jahre später untersuchten Konstantin Batygin und Mike Brown, der Koentdecker von Sedna, die seltsamen Himmelsobjekte erneut und fanden heraus, dass sich ihre Bahnen alle zu einer bestimmten Seite des Sonnensystems erstrecken. Es scheint, als mieden die Kleinkörper die gegenüberliegende Seite. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies ein Zufall ist, beträgt nur 0,007 Prozent.
Wie Trujillo und Sheppard postulierten Batygin und Brown einen bislang unbekannten Planeten als Ursache für diese seltsame Konstellation. Dessen Gravitationskraft, so ihre Argumentation, stört die Bahnen der kleineren Objekte im äußeren Bereich des Kuipergürtels und zwingt manche von ihnen einerseits auf lang gestreckte Bahnen. Andererseits treibt er sie wie ein Hütehund seine Schafherde in einem Bereich des Sonnensystems zusammen. Batygin und Brown lieferten auch genaue Daten der Bahn und der Masse des hypothetischen Planeten.
Einer oder mehrere Planeten am Rande des Sonnensystems
Mit einer etwa zehnfachen Erdmasse wäre er ein Exemplar für eine so genannte Super-Erde – ein Mittelding zwischen den terrestrischen Planeten und den Gasplaneten. Solche Mittelgewichte sind im Sonnensystem zwar unbekannt, in Exoplanetensystemen hat man sie aber bereits gefunden. Batygin und Brown gaben dem hypothetischen Himmelskörper den Namen Planet Neun – ein süffisanter Hinweis darauf, dass der einstige neunte Planet, Pluto, 2006 zum Zwergplaneten degradiert worden war (eine Entscheidung, an der Brown maßgeblichen Anteil hatte).
Spätere Untersuchungen lieferten weitere Hinweise auf die Existenz eines – oder sogar mehrerer – Planeten am Rand des Sonnensystems: So könnte ihr Einfluss auch die Bahnen der übrigen Planeten aus der Ebene des Sonnenäquators verschoben haben. Bislang vermochten die Astronomen für diese lange bekannte Tatsache keine befriedigende Erklärung zu geben.
Leider konnten Batygin und Brown nicht sagen, wo genau am Himmel Planet Neun zu finden ist. Das macht die Fahndung zur Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen, die trotz des Einsatzes einiger der aktuell größten Teleskopen der Welt bislang keinen Erfolg hatte. Glaubt man Skeptikern, dann kann sie eigentlich nur erfolgreich sein, wenn Planet Neun besonders groß ist, eine helle Oberfläche oder Wolkendecke hat, die viel Sonnenlicht reflektiert, oder sich zufällig derzeit auf einem sonnennahen Abschnitt seiner Bahn befindet. Falls er weit entfernt, klein und dunkel ist, könnte es sein, dass er zumindest mit heutiger Technologie niemals aufgespürt werden kann.
Straßenlicht-Effekt verzerrt die Suche womöglich
Entdecken kann man nur, was existiert. Im Falle von Planet Neun ist auch das nicht sicher. Die ursprüngliche Analyse basierte auf nur sechs auffälligen TNOs, die von Suchprogrammen mit einer Reihe gemeinsamer Eigenschaften gefunden worden waren: Sie suchten lediglich ein beschränktes Himmelsareal ab, erkannten Objekte nur bis zu einer bestimmten Helligkeit, ignorierten Objekte, die Neptun zu nahe kommen und beschränkten ihre Suche auf die Ebene des Sonnensystems. Das, so argumentieren Kritiker, kann zu einer Form der verzerrten Wahrnehmung führen, die im englischen Sprachraum als »Straßenlicht-Effekt« bekannt ist: Auf einer dunklen Straße sucht man seine Schlüssel nicht dort, wo man sie wahrscheinlich verloren hat, sondern, wo man am besten sieht: unter der Straßenlaterne.
Im Juni 2017 veröffentlichten Cory Shankman von der University of Victoria in Kanada und ihre Kollegen die lange erwarteten Resultate eines neuen Suchprogramms namens OSSOS (Outer Solar System Origins Survey). OSSOS unterschied sich von den früheren Programmen zum Beispiel dadurch, dass es auch Objekte erfasste, die ihren sonnennahen Bahnpunkt nahe bei Neptun erreichten.
Damit leuchtete OSSOS einige dunkle Ecken der Straße aus. Shankman und ihr Team fanden neun weitere extreme TNOs – aber die Lage ihrer Orbits war vollkommen zufällig und entsprach nicht der auffälligen Zusammenballung, die Batygin und Brown zu ihrer These inspiriert hatte. OSSOS lieferte damit keinen weiteren Bedarf nach einem Planeten Neun. Allerdings konnte OSSOS die Möglichkeit eines neunten Planeten auch nicht widerlegen. Die Befürworter der Planet-Neun-Hypothese blieben also dabei: Ein neunter Planet sei die beste Erklärung der seltsamen Bahnen der extremen TNOs.
»Wenn man Planet Neun aus dem Modell entfernt und statt dessen die Gravitation vieler kleiner über eine weite Region verteilter Objekte betrachtet, können die kollektiven Anziehungskräfte dieser Objekte genauso einfach die exzentrischen Orbits erklären«Antranik Sefilian
Oder lassen sich diese Bahnen anders verstehen? Ja, meinen Sefilian und Touma: Auch ein Ring aus kleinen Himmelskörpern, in der richtigen Lage und Größe außerhalb des Kuipergürtels, kann die Bewegung der extremen TNOs erklären, so das Ergebnis ihrer Studie. »Wenn man Planet Neun aus dem Modell entfernt und stattdessen die Gravitation vieler kleiner über eine weite Region verteilter Objekte betrachtet, können die kollektiven Anziehungskräfte dieser Objekte genauso einfach die exzentrischen Orbits erklären«, meint Sefilian.
Freilich wäre ein solcher Ring kleiner Objekte noch schwieriger nachzuweisen als ein einzelner großer Planet. »So sehr ich mich über alternative Hypothesen freue und so korrekt die Physik ihrer Studie ist, halte ich einen solchen Ring aus Material in unserem Sonnensystem für ausgesprochen unwahrscheinlich«, kommentiert Mike Brown die Arbeit von Sefilian und Touma in seinem Blog. Brown nennt zwei Gründe für seinen Zweifel: Erstens benötigte ein solcher Ring rund zehn Erdmassen an Material, um eine ausreichende Gravitation zu entwickeln. Das ist 100- bis 500-mal mehr, als Schätzungen zufolge im gesamten Kuipergürtel enthalten ist.
»Warum sollte es einen solchen massereichen Ring im äußeren Sonnensystem geben?«Mike Brown
»Zweitens: Warum sollte ein solcher massereicher Ring im äußeren Sonnensystem existieren?« Für Brown gibt es dafür keinen plausibleren Grund als für die Existenz eines einzelnen Planeten. Zusammen mit Batygin und weiteren Kollegen hat er seine Hypothese weiter verfeinert und kommt mit Hilfe neuer Computersimulationen zu dem Schluss, dass Planet Neun mit vielleicht nur fünf Erdmassen etwas leichter und kleiner sein müsste, der Sonne aber auch näher kommen könnte. Das könnte immerhin die Chance erhöhen, ihn mit heutigen Teleskopen doch noch zu erhaschen.
Solange dies jedoch nicht gelingt, ist absehbar, dass die Planet-Neun-Kontroverse weitergeht. Die Bahnen der TNOs lassen sich jedenfalls auf mehr als eine Weise erklären. Die Dynamik im äußeren Sonnensystem ist komplex, die Datenlage spärlich: Bei der Beobachtung der fernsten Objekte des Sonnensystems arbeiten Astronomen an der Grenze des technisch Möglichen.
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