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Giftschlangen: Umgeben von tödlichen Reptilien

Schlangenbissvergiftungen sind weltweit eine tödliche Gefahr. Die Suche nach neuen Arzneistoffen dagegen wird immer wichtiger. Ein Besuch im Liverpooler Zentrum für Schlangenbiss-Forschung, in dem die Tiere scharenweise leben.
Gabunviper
Mit einer Körpermasse von bis zu zehn Kilogramm gehören Gabunvipern zu den schwersten Giftschlangen der Welt. Sie halten sich typischerweise in Laubschichten auf, wo sie auf Grund ihrer Färbung kaum zu sehen sind. Viele Menschen werden gebissen, weil sie versehentlich auf die Reptilien treten.

»DANGER« steht an der Tür, gefolgt von einem Hinweis auf Giftschlangen. Wer hier durch will, muss die Regeln kennen, die sich einfach zusammenfassen lassen: Finger weg! Vor allem von den Luftlöchern der Plastikboxen, in denen die Schlangen leben. Aber auch von den dicken Knöpfen an den Wänden. »Die sind nur für den Notfall, also bei einem Schlangenbiss«, sagt Nicholas Casewell.

Der hemdsärmelige Biologe strahlt eine unerschütterliche Ruhe aus. Das ist auch gut so, beaufsichtigt er doch neben 20 Mitarbeitern rund 170 meist gefährliche Schlangen, von der Mamba über die Kobra bis zur Lanzenotter. Ein wohl einzigartiger Querschnitt des Who’s who der Giftschlangen aus aller Welt im vermutlich größten Forschungszentrum dieser Art in Europa. Casewell leitet das Centre for Snakebite Research & Interventions, eine Einrichtung, die zur Liverpool School of Tropical Medicine (LSTM) gehört.

Das Zentrum befindet sich in einem mehrstöckigen Backsteingebäude mit modernem Glasanbau im Zentrum der Stadt und in bester Nachbarschaft: Das für Schlangenbisspatienten hervorragend ausgestattete Royal Hospital ist in fünf Laufminuten zu erreichen. »Wir haben das einmal mit einem simulierten Bissopfer im Rollstuhl getestet«, sagt Schlangenpfleger Paul Rowley. »Da hat der Weg 16 Minuten gedauert.«

Hinter der Tür mit der Warnung leben die Schlangen hinter Glas oder in Plastikbehältern aus dem Baumarkt, die neben- und übereinandergestapelt die Wände bedecken beziehungsweise in Regalen stehen. Aus Hygienegründen sind die Boxen sehr spärlich eingerichtet: Auf dem Boden liegt Zeitungspapier, darauf ein Ast mit künstlicher Pflanzenranke, eine Wasserschale und ein Unterschlupf aus Plastik. Viele Schlangen haben sich zurückgezogen, andere hängen auf den Ästen.

Leben in der Box | Im Liverpooler Zentrum für Schlangenbiss-Forschung leben selbst hochgiftige Reptilien in einfachen Plastikboxen aus dem Baumarkt. Die Kisten sind spartanisch eingerichtet; in den Kunststoff gebohrte Löcher sorgen für Belüftung.

Unherzlicher Empfang

Eine kräftige Gabunviper reagiert aggressiv auf den Besuch. Sie pumpt sich auf und schnauft bedrohlich. »Geh lieber einen Schritt zurück«, sagt Casewell. »Sonst stößt sie gleich zu.« Das hochgiftige Tier trägt ein geometrisches Muster in Braun, Schwarz und Weiß. Im Kontrast zum nüchternen Interieur der Box ist das sehr auffällig, aber eine perfekte Tarnung in trockenen Laubschichten am Boden, wo sich Gabunvipern in ihrem natürlichen Lebensraum normalerweise aufhalten. Viele Menschen werden gebissen, weil sie versehentlich auf die Lauerjäger treten.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Schlangenbissvergiftungen als eine der zehn wichtigsten vernachlässigten Tropenkrankheiten eingestuft. Laut WHO sterben jährlich bis zu 138 000 Menschen an den Folgen eines Schlangenbisses. Bis zu 400 000 jährlich überleben einen solchen Biss zwar, aber mit bleibenden Gesundheitsschäden wie amputierten Gliedmaßen, Blindheit oder Organschäden. Diese Zahlen sind wahrscheinlich sogar noch zu niedrig angesetzt, denn in vielen Ländern fehlen genaue Daten.

In Deutschland gibt es zwei giftige Schlangenarten: Die Aspisviper, die extrem selten vorkommt, und die außerordentlich scheue Kreuzotter. Letztere ist lebend gebärend, die Eier bleiben also gut geschützt im Leib des Weibchens, bis die Jungen schlüpfen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, selbst in unwirtlichen Regionen zu überleben. Kreuzottern haben ein riesiges Verbreitungsgebiet: vom Nordwesten Europas bis zum russischen Pazifikrand – und über den Polarkreis hinaus. Hier zu Lande wird es dennoch eng für die Tiere, weil ihre Lebensräume wie Heide- und Moorgebiete schwinden. Hinzu kommt der Klimawandel: Gut möglich, dass die Kälte tolerierende Kreuzotter mit steigenden Temperaturen nicht zurechtkommt. Die Deutsche Gesellschaft für Herpetologie hat sie zum »Reptil des Jahres 2024« ernannt.

Vor allem für Menschen in Armut sind Schlangenbissvergiftungen ein tödliches Risiko

Weder Kreuzottern noch Aspisvipern stellen eine echte Bedrohung für uns dar. Doch in entlegenen tropischen und subtropischen Regionen sind Schlangenbissvergiftungen eine tödliche Gefahr, vor allem für Menschen in Armut: für den Mann auf dem Feld, die Frau auf der Teeplantage und das Kind auf dem Schulweg. Die bisher einzig wirksame Therapie sind Gegengifte, so genannte Antivenome. Sie haben aber oft schwere Nebenwirkungen und sind für viele Bissopfer deshalb keine Option.

Heilen wie vor 100 Jahren

Für die Produktion von Antivenomen wird Pferden oder Schafen eine kleine Dosis Schlangengift gespritzt. Die Tiere bilden Antikörper dagegen, welche sich später aus ihrem Blut extrahieren lassen. Mediziner verabreichen die Antikörper dann gebissenen Menschen, um das Toxin in deren Körper zu neutralisieren. Tierische Antikörper sind bei der Behandlung von Bissopfern oft hochwirksam, lösen bei vielen Personen aber einen allergischen Schock aus, da sie für uns artfremd sind.

Deshalb werden Antivenome nur in medizinischen Einrichtungen verabreicht, wo etwaige lebensbedrohliche Nebenwirkungen wie ein Atemstillstand notfalls abgefangen werden können. Zudem sind die Gegengifte sehr teuer, erfordern eine aufwändige Kühlung und müssen fachgerecht injiziert werden. Für Farmer in entlegenen Regionen ist der dafür notwendige Weg ins Krankenhaus oft zu weit.

Ein Schnürsenkel mit schlechter Laune

Seit die WHO das Problem der Schlangenbissvergiftungen ins Rampenlicht gerückt und das Ziel ausgegeben hat, die Zahl der dadurch bedingten Toten und Verletzten bis 2030 mindestens zu halbieren, erlebt die Forschung ein »Momentum«, wie Casewell sagt. Für einschlägige Arbeiten fließt nun mehr Geld. Mehrere potenzielle Behandlungsmethoden werden erforscht, für deren Entwicklung man echte Gifte benötigt. Deshalb müssen Giftschlangen wie in Liverpool gehalten und »gemolken« werden.

Etwa die Gemeine Sandrasselotter (Echis carinatus). Sie ist kaum länger als ein Schnürsenkel, dafür aber umso aggressiver. Die leicht reizbaren Tiere bilden mit der Kettenviper, dem Krait und der Kobra die so genannten Big Four: jene vier Reptilienarten, die in Indien für den Großteil tödlicher Schlangenbisse verantwortlich sind. Wer eine Sandrasselotter melken will, braucht starke Nerven und viel Fingerspitzengefühl, um den zierlichen Kopf fest genug, aber nicht zu fest zu packen.

Angriffslustiges Reptil | Die Gemeine Sandrasselotter (Echis carinatus) ist nicht sehr groß, dafür aber umso aggressiver. Das leicht reizbare Tier gehört zu den vier Reptilienarten, die in Indien für die meisten tödlichen Schlangenbisse verantwortlich sind.

Schlangenpfleger Rowley blickt auf 40 Jahre Erfahrung im Umgang mit gefährlichen Reptilien zurück. Er übernimmt den Job zusammen mit dem jüngeren Mitarbeiter Edouard Crittenden. Ein heikles Unterfangen, bei dem einer der beiden den Kopf der Schlange ergreift und der andere ihre hintere Körperhälfte festhält, was bis zum letzten Handgriff koordiniert und geübt sein muss.

Rowley hält das Maul der Sandrasselotter an den Rand eines Glasbechers und tippt mit einem Finger auf ihren Kopf. Schließlich schnappt sie zu und ihr Gift fließt zäh ins Gefäß. Nur ein paar tödliche Tropfen, die hier in Liverpool oder an anderen Forschungszentren helfen, neue Wirkstoffe zu entwickeln.

Kleine Schlange, große Wirkung | Die beiden Schlangenpfleger Paul Rowley (links) und Edouard Crittenden müssen mit vereinten Kräften vorgehen, um das Toxin einer hochgiftigen Sandrasselotter zu melken.

Dabei kann es sich um Arzneistoffe handeln, die Schlangengifte hemmen, aber auch um solche, die sich in ihrer Wirkung von den Toxinen inspirieren lassen. Denn die Giftcocktails der Reptilien enthalten Komponenten, die sehr effektiv auf den menschlichen Organismus wirken – allen voran auf das Blut, die Nerven oder die Integrität des Körpergewebes. Was bei einem Schlangenbiss schwere Schäden verursacht, kann in einer anderen Dosierung beziehungsweise Verabreichung zur Heilung beitragen.

Ein Beispiel dafür ist das Gift der südamerikanischen Jararaca-Lanzenotter (Bothrops jararaca). Wenn das zu den Grubenottern zählende Tier zubeißt, erleiden die Opfer einen Kreislaufzusammenbruch. Dafür verantwortlich ist ein Bestandteil des Toxins, der als Vorlage für ein Blutdruckmedikament diente. Der Arzneistoff namens Captopril kam in den 1980er Jahren auf den Markt und begründete eine ganze Klasse von Blutdrucksenkern: die ACE-Hemmer. Andere »schlangenbasierte« Wirkstoffe folgten, darunter ein Gerinnungshemmer, inspiriert vom Gift der Sandrasselotter.

Von Toxinblockern zu Nanoschwämmen

Mindestens genauso wichtig sind Medikamente, die helfen, die Folgen einer Giftschlangenattacke zu mildern. Ein Hoffnungsträger ist der Wirkstoff Varespladib. Er blockiert toxische Enzyme, die in fast allen Schlangengiften vorkommen. Das kalifornische Start-up-Unternehmen Ophirex führt Tests mit ihm durch – offenbar erfolgreich. In einer klinischen Studie der Phase II an knapp 100 Patienten milderte oral eingenommenes Varespladib die Folgen von Schlangenbissverletzungen ab. Der Nutzen zeigte sich vor allem dann, wenn das Mittel schnell angewendet wurde, sprich innerhalb von fünf Stunden nach dem Biss. Die Opfer von Schlangenattacken können künftig also möglicherweise entsprechende Pillen nehmen und so zumindest Zeit gewinnen, um bis zur nächsten Klinik zu kommen. Zuerst muss sich der Wirkstoff aber noch in einer größeren Studie bewähren.

Auch Casewells Team arbeitet mit Varespladib und konnte kürzlich zeigen, dass der Wirkstoff schwere Gewebeschäden verhindert, wenn er binnen einer Stunde nach dem Biss einer afrikanischen Speikobra in die Wunde injiziert wird. Die als Blutverdünner bekannten Heparine zeigen eine ähnlich schützende Wirkung.

Doch die Forschung fokussiert sich nicht nur auf bewährte Wirkstoffe. Casewells Team beispielsweise arbeitet an der Entwicklung von »Nanoschwämmen«. Das sind Nanopartikel, konstruiert aus Proteinen, die mit molekularen Bindungsstellen für Schlangentoxine ausgestattet werden sollen, um das Gift im Blut von Menschen an sich zu ziehen und zu neutralisieren.

Neue Sorten von Antivenomen werden im Labor entwickelt und menschlichen Antikörpern nachempfunden, um die schweren Nebenwirkungen der tierischen Gegengifte zu vermeiden. Sie sollen sich – so die Hoffnung – auch flexibel an eine veränderte Zusammensetzung von Schlangengiften anpassen lassen. Denn die Giftcocktails sind weder im Lauf eines Reptilienlebens noch bei allen Vertretern einer Spezies immer gleich, sondern hängen von den jeweiligen Umständen ab. Ein wichtiger Faktor hierbei ist das Beuteangebot: Schlangen stimmen ihre Toxinmischung darauf ab, welche Tiere überhaupt als potenzielle Jagdbeute zur Verfügung stehen.

Konfliktreiche Auswanderung

Der Klimawandel macht es wahrscheinlicher, dass Beutetiere in andere Biotope abwandern müssen und dadurch in ihrem Ursprungsgebiet seltener werden oder aber die Schlangen selbst in kühlere Lebensräume ausweichen. Das führt dazu, dass die Zusammensetzung der Giftcocktails weniger berechenbar wird, was für sich schon ein Problem darstellt. Hinzu kommt: Wenn die Reptilien in neue Lebensräume vordringen, kommt es dort häufiger zu konfliktreichen Begegnungen mit Menschen und Angriffen mit Bissverletzungen. Das macht die Suche nach innovativen Therapien so wichtig – und die Arbeit von Menschen, die sich mit hunderten gefährlichen Schlangen umgeben, umso wertvoller.

»Wir hatten bisher nur eine Schlange hier, die definitiv einen Menschen getötet hat«, erzählt Rowley. »Eine Waldkobra, mit der ein Mafioso in den 1980er Jahren einen Mord beging. Er hatte sie wohl im Hotelzimmer seines Opfers versteckt, und die Schlange landete letztlich bei uns.« Selbst für einen Profi ist das eine Horrorvorstellung: »Mit einer Waldkobra im Zimmer?« Rowley schüttelt den Kopf: »Das möchte ich wirklich nicht. Zumindest nicht ohne meine Instrumente wie den Schlangenhaken.«

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  • Quellen

Da Silva, W. et al.: Who are the most affected by Bothrops snakebite envenoming in Brazil? A clinical-epidemiological profile study among the regions of the country. PLOS Neglected Tropical Diseases 2023

Menzies, S.K. et al.: Thermostable protein-based ADDomer nanoparticles as new therapeutics for snakebite envenoming. Toxins 2023

Neely, G. et al.: Molecular dissection of cobra venom highlights heparinoids as an antidote for spitting cobra envenoming. Science Translational Medicine 2024

Sørensen, C. V. et al.: Discovery of a human monoclonal antibody that cross-neutralizes venom phospholipase A2s from three different snake genera. Toxicon 2023

Vanuopadath, M. et al.: The need for next-generation antivenom for snakebite envenomation in India. Toxins (Basel) 2023

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