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News: Hämoglobin einmal anders

Hämoglobin - für den Menschen eines der lebenswichtigen Moleküle, da es unter anderem Sauerstoff im Blut und ins Gewebe transportiert. In anderen Organismen hat das gut untersuchte Enzym hingegen ganz andere Aufgaben. In einem Darmparasiten zum Beispiel sorgt es dafür, daß der Organismus nicht zuviel des für ihn giftigen Sauerstoff aushalten muß. Die neuen Erkenntnisse werfen auch auf die Evolution des Hämoglobins von den ersten Lebensformen bis zu den Säugetieren ein neues Licht.
Weltweit sind etwa eine Milliarde Menschen von dem parasitischen Fadenwurm Ascaris lumbricoides befallen. Doch nicht nur deshalb ist er von Interesse, sondern auch sein Hämoglobin beschäftigt die Wissenschaft. Es bindet Sauerstoff 25 000fach stärker als es das menschliche Hämoglobin vermag. Viele Forscher nahmen daher an, daß es nicht – wie beim Menschen – in der Atmung eine Rolle spielt, sondern eine andere Aufgabe haben muß.

Wissenschaftler vom Howard Hughes Medical Institute (HHMI) und vom Duke University Medical Center haben nun entdeckt, daß dem Hämoglobin tatsächlich eine andere Bedeutung zukommt. Ihre Ergebnisse bringen sogar Licht in die Evolution der Organismen unter sauerstoffhaltigen und sauerstofffreien Lebensbedingungen.

"Beim Menschen transportiert Hämoglobin Sauerstoff und Stickstoffmonoxid ins Gewebe", erklärt Jonathan Standler vom HHMI. Den neuen Erkenntnissen zufolge benutzt das Hämoglobin des Wurms jedoch Stickstoffmonoxid dafür, eine enzymatische Reaktion auszulösen, bei der Sauerstoff verbraucht wird – denn das atmosphärische Gas ist für seinen Organismus bereits in sehr geringen Konzentrationen giftig. "Die Würmer können zwar mit Sauerstoff umgehen, aber so richtig mögen sie ihn nicht", meint Stamler. Das Hämoglobin bietet den Tieren die Möglichkeit, ihre unmittelbare Umgebung sauerstoffärmer zu machen und so für sich bessere Lebensbedingungen zu schaffen.

Mit spektroskopischen Methoden untersuchten die Forscher, wie sich das Hämoglobin unter verschiedenen Konzentrationen von Sauerstoff und Stickstoffmonoxid verhält. Aus den Ergebnissen schließen sie eine zehnstufige chemische Reaktion, mit welcher der Wurm den Sauerstoff in seinem Körper zerstört (Nature vom 30. September 1999).

Der Schlüssel zu dieser Reaktion liegt in der Position eines einzigen Cystein-Moleküls – einer schwefelhaltigen Aminosäure – innerhalb der Bindungsstelle für Sauerstoff am Hämoglobin. Cystein ist der Träger für das Stickstoffmonoxid. "Wenn diese Aminosäure auf der einen Seite der Tasche ist, dann benutzt das Hämoglobin Stickstoffmonoxid, um den Sauerstoff zu zerstören. Befindet es sich aber auf der anderen Seite, wie es bei Säugetieren der Fall ist, dann dient das Stickstoffmonoxid als Regulator für den Sauerstofftransport", beschreibt Stamler. Im Hämoglobin von Ascaris lumbricoides befindet sich das NO-tragende Cystein auf der Vorderseite, ganz in der Nähe des Sauerstoffs, was zum Sauerstoffentzug führt. Beim Menschen liegt es dagegen auf der Rückseite. "Da die Gase auf gegenüberliegenden Seiten des Moleküls getragen werden, können sie nicht miteinander reagieren", erläutert Stamlin. "So ist es möglich, daß NO freigesetzt und Sauerstoff transportiert wird."

Gleichzeitig bietet das Hämoglobin dem Wurm die Möglichkeit, Stickstoffmonoxid, das im Darm des Wirtes vorhanden ist oder von seinem Immumsystem produziert wird, zu verbrauchen und sich so vor dessen Wirkung zu schützen. Diese Aufgabe war nach Ansicht der Wissenschaftler auch die erste Aufgabe des Moleküls überhaupt. "In der Uratmosphäre war Stickstoffmonoxid vor dem Sauerstoff da", erläutert Stamler. "Wahrscheinlich war es sogar vor den ersten Lebensformen vorhanden, und die ersten Bakterien benötigten einen Schutz dagegen." Wie Sauerstoff kann Stickstoffmonoxid viele biologisch wichtige Moleküle zerstören, wenn es im Körper frei vorliegt. Diese ersten Hämoglobinmoleküle waren daher wahrscheinlich Enzyme, welche nur Stickstoffmonoxid verbrauchten, ohne daß Sauerstoff von Bedeutung war. Als vor etwa 450 Millionen Jahren die Erdatmosphäre zunehmend sauerstoffhaltiger wurde, war das für die Organismen zunächst ebenfalls toxisch. "Ursprüngliches Hämoglobin würde als Entgifter Sauerstoff eng binden und ihn verbrauchen", erklärt Stamler. Das Hämoglobin der Säugetiere jedoch entwickelte die Fähigkeit, Sauerstoff in die Gewebe zu transportieren und das gasförmige Abfallprodukt Kohlendioxid zu entfernen. Mit dieser Entdeckung stellt das Hämoglobin des Parasiten also eine einzigartige Verknüpfung zwischen dem ursprünglichen Hämoglobin der ersten Lebewesen – als die Atmosphäre der Erde noch überwiegend aus Stickstoffmonoxid bestand – und dem "modernen" Hämoglobin der Säugetiere und Vögel dar. Stamlin betont: "Die ursprüngliche Aufgabe der Entgiftung hat sich in eine Atmungsfunktion beim Menschen verwandelt."

In den letzten Jahren wurden einige Aufgaben und Fähigkeiten des Hämoglobins erforscht. So entdeckte zum Beispiel Stamler selbst, daß an Stickstoffmonoxid gebundenes Hämoglobin die Blutgefäße erweitert. Mit der Entdeckung der starken Bindungsfähigkeit des Wurm-Hämoglobins für Sauerstoff hoffen die Wissenschaftler jetzt, auch therapeutischen Nutzen aus den Erkenntnissen ableiten zu können. So stellen sie sich unter anderem vor, daß man mit diesem Molekül womöglich die Sauerstoffzufuhr von Krebstumoren unterbinden und sie so "aushungern" könnte.

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