Hefe-Ursprung: Wie in München das helle Bier entstand
Im ausgehenden Mittelalter startete in Europa eine Revolution. Seit Jahrtausenden hatten die Menschen obergäriges Bier getrunken, doch ab dem 15. Jahrhundert begann sich in Europa ein ganz neuer Typ des Getränks durchzusetzen. Untergärige Sorten wurden gebraut, jene Biere, die heutzutage den Markt dominieren. Der wichtigste Unterschied: die Hefe. Während die ersten Biere mit einer obergärigen Hefe gebraut werden, die sich als Schaumdecke an der Oberfläche sammelt, sind die neuen Biere untergärig – die Hefe sinkt nach der alkoholischen Gärung nach unten.
Hinter den Bezeichnungen stecken zwei verschiedene Organismen: Obergärige Biere wie Ale, Weizenbier, Alt und Kölsch werden bei wärmeren Temperaturen mit der Hefe Saccharomyces cerevisiae vergoren, die auch beim Backen oder der Weinherstellung zum Einsatz kommt. Modernes Lagerbier dagegen stellt man durch Kaltgärung mit der untergärigen Hefe Saccharomyces pastorianus her – einem Organismus, dessen heutiger Ableger erst vor wenigen hundert Jahren entstand. Wie es dazu kam, lässt sich nun nach und nach entschlüsseln.
S. pastorianus ist keine reine Art, sondern eine Hybride – eine genetische Kreuzung aus S. cerevisiae und der Hefeart S. eubayanus. Frühere Analysen einer Arbeitsgruppe um Brigidia Gallone aus Leuven platzieren den kritischen Schritt der Entstehung unserer heutigen untergärigen Hefen zwischen 1550 und 1800. Wie und unter welchen Umständen die Vorläuferarten jedoch zusammentrafen, ist rätselhaft, denn S. eubayanus ist ziemlich selten. In der Natur wurden bisher nur relativ wenige Isolate der Art gefunden, was darauf hindeutet, dass die Hefe sich außerhalb eines sehr speziellen Lebensraums nicht weit verbreiten kann. Was führte dazu, dass gerade diese beiden Hefen einen Abkömmling hervorbrachten, der sich europaweit durchsetzte?
Wir vermuten nun, dass das Hofbräuhaus in München kurz nach 1600 geeignete Bedingungen für diese Begegnung bot. Bei den beteiligten Stämmen könnte es sich um domestizierte obergärige S. cerevisiae eines hochwertigen Spezialbieres einerseits und kälteresistente S. eubayanus andererseits handeln, die Teil der damals in München verwendeten Braunbierhefemischung war. Wir erklären, wie beide Elternteile nach München kamen, und schlagen für die Herkunft der S. cerevisiae zwei verschiedene Szenarien vor. In einem kam die obergärige Weißbierhefe aus Böhmen, im anderen aus der damals weltberühmten Bierhochburg Einbeck.
Der Beginn der Untergärung
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren Bierhefen immer eine Mischung aus wilden obergärigen und untergärigen Arten und enthielten in den meisten Fällen wahrscheinlich auch Milchsäurebakterien. In diesen so genannten Stellhefen trafen viele unterschiedliche Organismen aufeinander – darunter auch S. cerevisiae und S. eubayanus. Erst 1883 erfand der dänische Botaniker Emil Christian Hansen die Hefereinzucht. Seitdem arbeiteten Brauereien hauptsächlich mit reinen Hefekulturen, die bisher genutzten Hefemischungen wurden über die Zeit immer weniger. Das war das Ende der natürlichen Evolution in der Fermentation, aus der S. pastorianus hervorgegangen war.
Seit dem ausgehenden Mittelalter hatten Brauerinnen und Brauer beobachtet, dass sich lebensfähige Hefen am Boden von Gärbehältern ansammeln. Bereits im 14. Jahrhundert wurde mit Mischungen aus obergärigen und untergärigen Hefen gebraut, doch das heißt keineswegs, dass die Verschmelzung zwischen S. cerevisiae und S. eubayanus zu jener Zeit stattgefunden hat. Möglicherweise handelte es sich um S. cerevisiae, da unter bestimmten Bedingungen auch obergärige Hefen auf den Boden sinken.
Andere Hefen in der Stellhefenmischung, wie zum Beispiel die kältetolerante Hefeart Saccharomyces uvarum, könnten ebenfalls zu einem untergärigen Gesamtprozess beigetragen haben. Unter diesen war womöglich schon S. eubayanus. Bisher nahm man an, der entscheidende Schritt sei das Zusammentreffen eines seltenen S. eubayanus mit einem reichlich vorhandenen S. cerevisiae gewesen. Die beiden interagierten, und eine neue Art, S. pastorianus, entstand. Doch vielleicht war S. eubayanus seinerseits gar nicht selten, sondern bereits im Brauwesen verbreitet. Eine alternative Hypothese lautet deswegen umgekehrt, dass das Schlüsselereignis das Einschleusen einer besonders geeigneten Linie von S. cerevisiae in eine S.-eubayanus-Population war.
Woher kam Saccharomyces eubayanus?
Bisher stellten verschiedene Forschungsgruppen, darunter unsere, zwei Hauptszenarien vor, um den Ursprung des S.-eubayanus-Elternteils zu erklären. Die Hefe könnte in wilden europäischen Populationen existiert haben, als das untergärige Brauen entwickelt wurde, oder S. eubayanus könnte später aus China oder Tibet (zum Beispiel über die Seidenstraße) eingeführt worden sein. Europäische Brauer hätten dann vor dieser Zeit eine andere nicht von S. pastorianus stammende Hefe zur Herstellung von untergärigem Bier verwendet.
Wäre die erste S. eubayanus von weit hergekommen, wäre sie höchstwahrscheinlich in ein Brauereihabitat in einer Großstadt, vermutlich in einer Hafenstadt, gelangt. Dort handelte man exotische und teure Produkte und verwendete sie bisweilen zur Anreicherung von Bieren. Dem gegenüber legt die Entdeckung von wildem S. eubayanus in Irland im Jahr 2022 nahe, dass es europäische Populationen dieser Hefe gab und immer noch gibt. Das stützt die Idee einer europäischen Abstammung von S. pastorianus.
Dabei sind das Auftreten von S. pastorianus und die Verbreitung der Untergärung untrennbar miteinander verbunden. Denn deren Entwicklung war, so die allgemein akzeptierte Ansicht, für die Entstehung von S. pastorianus verantwortlich. In Bayern braute man im 15. Jahrhundert mit Sicherheit tendenziell untergärig. Die Technik stammt wahrscheinlich aus den ländlichen Gebieten in Franken und der Oberpfalz entlang der böhmischen Grenze.
Erst seit dieser Zeit jedenfalls verwendete man auch regelmäßig die Technologie der Kaltgärung, das Kernkennzeichen der Untergärung. Das geschah in den Regionen südlich der deutschen Mittelgebirge, die Franken und die Oberpfalz einrahmen. Dort waren alle Bierhefen Mischungen aus obergärigen und untergärigen Hefen. Interessanterweise herrschte in Bayern seit dieser Zeit die untergärige Kaltgärung vor – womöglich schon mit Hilfe von S. eubayanus.
Da die Brauverordnungen in Bayern aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, vor allem das Reinheitsgebot von 1516, die Herstellung von Braunbier durch Untergärung vorschrieben, muss es sich um eine etablierte, gut funktionierende Technologie gehandelt haben. Die damals in München verwendeten Braunbierhefemischung enthielt jene kälteresistente S. eubayanus, aus der zusammen mit einer domestizierten obergärigen S. cerevisiae laut dieser Hypothese S. pastorianus hervorging. Somit könnte man die Bildung der belgisch-deutschen Bierlinie als Voraussetzung für eine spätere Bildung von S. pastorianus ansehen. Mit Hilfe geeigneten archäologischen Probenmaterials, zum Beispiel eingetrockneter Hefe aus Gärgefäßen aus dem Zeitraum von 1500 bis 1700, könnte man anhand von DNA-Analysen und Vergleichen mit modernen Hefen die Zusammensetzung der damaligen Stellhefen rekonstruieren.
Einbeck oder Böhmen?
Wenn die domestizierten Linien von S. cerevisiae und S. eubayanus unabhängig voneinander entstanden, müssen sie irgendwie miteinander verbunden gewesen sein, um zu S. pastorianus hybridisieren zu können. Hefen in den Konzentrationen, die für die Selektion einer neuen Variante erforderlich sind, wurden wahrscheinlich über Rohstoffe, Produkte oder den Menschen verbreitet. Hefen wurden jedoch in der Regel innerhalb eines Viertels, einer Stadt oder eines nahen gelegenen Ortes ausgetauscht, und nur in Notfällen brachte man Hefe von weiter her.
Für ein Zusammentreffen zweier außergewöhnlicher Hefen, die unter sehr unterschiedlichen Bedingungen domestiziert wurden, müssen also besondere Bedingungen erfüllt sein. Wir vermuten, dass das Hofbräuhaus in München kurz nach 1600 diese Umstände bot. Wir schlagen zwei Szenarien vor, wie an diesem spezifischen Ort zu dieser spezifischen Zeit die Vorfahren von S. pastorianus schließlich zusammentrafen, um die Welt des Bieres für immer zu verändern.
Im ersten Szenario kam die S. cerevisiae aus Böhmen über Schwarzach nach München. In der Zeit ab 1500 erlebte das Weißbierbrauen einen Aufschwung, wobei Böhmen eine gut dokumentierte Hochburg wurde. Um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen und sich zu profilieren, verlieh der bayerische Herzog Wilhelm IV. 1548 Hans VI. von Degenberg das Privileg, in den an Böhmen angrenzenden Gebieten Weizenbier zu brauen und zu verkaufen – unter »erlaubtem« Verstoß gegen das bayerische Reinheitsgebot. Die Degenbergs hatten bereits eine Weißbierbrauerei in Schwarzach errichtet, die für ihre außergewöhnlich hochwertigen Biere berühmt werden sollte, wahrscheinlich mit einer Hefe, die aus Böhmen stammte.
Als die Degenbergs 1602 ohne Nachfolger starben, nahm der bayerische Herzog Maximilian das Privileg von 1548 an sich und beschlagnahmte die Weißbierbrauereien der Degenberger. Sofort ließ er einen Braumeister und die passende Hefe ins herzogliche Hofbräuhaus nach München bringen – wo seit der Gründung 1591 nur braunes, untergäriges Bier gebraut wurde –, das mit dem Brauen von obergärigem Weizenbier begann. Das war ein großer Erfolg: Das weiße Bier vom kurfürstlichen Hof erlangte später im 18. Jahrhundert einige Bekanntheit.
Nach diesem Vorschlag ist der wahrscheinlichste Vorfahre von S. cerevisiae die obergärige Weizenbierhefe aus der Brauerei Schwarzach, die mit S. eubayanus in einer Stellhefemischung im Münchner Hofbräuhaus hybridisierte. Unsere Hypothese wird durch die Daten gestützt, die zeigen, dass die S.-cerevisiae-Komponente des S.-pastorianus-Genoms phylogenetisch mit Weizenbierstämmen verwandt ist.
Es gibt ein zweites plausibles Szenario, bei dem ein Bierhefe-Elternteil aus Einbeck stammen könnte. Das äußerst stabile obergärige Bier aus dieser kleinen Stadt am Südrand des Harzes war zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert das berühmteste Bier in Deutschland. Obwohl es furchtbar teuer war, kauften die bayerischen Herzöge jedes Jahr einige Fässer für ihre Tafel. Um Kosten zu sparen, engagierte Herzog Maximilian 1612 einen Brauer aus Einbeck, der dieses Bier in München braute.
Einige Jahre braute man dort den Ainbock, später Bockbier. Der Ainbock war zunächst – wie das Original – ein obergäriges Bier aus Weizen und Gerste. Danach wurde daraus ein Bier vom Typ Märzen – ein untergäriges Bier. Dass sich das ursprünglich obergärige Weizenbier in ein starkes untergäriges Märzen umwandelte, könnte auf die Anwesenheit von S. pastorianus hinweisen.
Wie München zur Bierhauptstadt wurde
Beiden Szenarien ist gemeinsam, dass eine obergärige Bierhefe in das Hofbräuhaus eingeführt wurde, um ein spezielles, hochwertiges Bier zu brauen. Dessen Produktion wurde später von obergärigem auf untergäriges Starkbier umgestellt – und dafür war die Entstehung der untergärigen Hefe S. pastorianus entscheidend. Münchner Brauer haben die Hofbräuhaushefen untereinander weitergegeben und verwendeten sie in den folgenden Jahrhunderten weithin, lange vor der Entwicklung von reinen Braustarterkulturen.
Unabhängig davon, welche der beiden Hypothesen über den Ursprung von S. pastorianus zutrifft, verbreiteten sich Stämme aus Bayern in ganz Europa und sind die Quelle aller modernen Lagerhefestämme. Das Zusammentreffen zwischen einer bestimmten obergärigen S.-cerevisiae-(Weißbier-)Linie und einer S.-eubayanus-Population im Hofbräuhaus war allerdings keineswegs einmalig. In der Tat kann man davon ausgehen, dass in den unzähligen Stellhefen Europas viele verschiedene Begegnungen und Hybridisierungen stattgefunden haben.
Doch die aus dem Münchner Hofbräuhaus hervorgegangenen Linien wurden in der europäischen Bierbrauerei dominant. Der Hauptgrund dafür ist möglicherweise ein einzelner Mensch: Gabriel Sedlmayr der Ältere. Er wurde 1806 als Braumeister im Hofbräuhaus eingestellt. Sedlmayr verkörperte die enge Zusammenarbeit zwischen den noch handwerklich arbeitenden Brauern und der Brauwissenschaft, auf welcher der Erfolg der Münchner Brauergemeinde beruhte. In alter handwerklicher Tradition teilte er mit Freunden und Kollegen großzügig sein Wissen – und seine Hefen.
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