Intelligenz: »Zu klug« gibt es nicht
Film und Fernsehen erzählen gern von Menschen, die es trotz oder wegen ihrer hohen Intelligenz schwer haben. Ist an dem Klischee etwas dran? Eine Analyse von vier Längsschnittstudien spricht dagegen. Das Fazit der Wissenschaftler um Matt Brown vom Autism and Developmental Medicine Institute in Lewisburg (USA): »Höhere kognitive Fähigkeiten sind generell von Vorteil – und praktisch nie schädlich.«
Grundlage waren Daten von fast 50 000 Menschen, die allesamt in der Kindheit oder Jugend kognitive Tests absolviert hatten. Die älteste Stichprobe umfasste rund 10 000 per Zufall ausgewählte Jugendliche im US-Bundesstaat Wisconsin, die dort 1957 die Schule abschlossen. Die jüngste Stichprobe wurde zwischen 1980 und 1984 in den USA geboren und seitdem bereits 17-mal befragt. Eine weitere um das Jahr 1960 geborene US-Kohorte gab sogar 26-mal Auskunft. Und zur britischen Stichprobe zählten mehr als 16 000 Menschen des Jahrgangs 1970, die je im Alter von 10 und 46 Jahren über ihr Leben berichteten.
Als Maße für ein gutes Leben verwendeten die Wissenschaftler unter anderem den Bildungsabschluss, das Einkommen sowie berufliche Zufriedenheit, körperliche und psychische Gesundheit, soziale Kontakte und ehrenamtliches Engagement. Sie suchten gezielt nach Lebensbereichen, in denen ein niedriges oder durchschnittliches Denkvermögen vorteilhafter war. Doch sie fanden unter mehr als 200 möglichen negativen Auswirkungen nur sechs, darunter zum Beispiel auf Schlafgewohnheiten und berufliche Zufriedenheit. Die Effekte waren allerdings schwach und zeigten sich nicht in allen Stichproben und Altersgruppen.
Auch in hohen Dosen unbedenklich
In der Mehrzahl der Fälle war es wie erwartet: je höher die kognitiven Leistungen, desto besser fürs weitere Leben, beispielsweise Bildungsniveau, Einkommen und Gesundheit. Brown und seine Kollegen halten es für unwahrscheinlich, dass sich der positive Zusammenhang ab einem bestimmten Punkt umkehrt. »Wir haben keinen Hinweis auf irgendeine Art von Nachteil oder eine Grenze, ab der höhere Werte nicht mehr vorteilhaft wirken.« Das legte auch eine Studie an Kindern nahe, die in Mathe zu den Allerbesten zählten: Selbst innerhalb dieser Spitzengruppe erreichten die besten 25 Prozent mehr als die »schlechtesten« 25 Prozent: Sie promovierten häufiger, meldeten mehr Patente an, hatten ein höheres Einkommen und bekamen eher eine Professur.
Warum also glauben viele, dass hohe Intelligenz ihre Schattenseiten hat? Dazu gibt es diverse Theorien. Die Forscher halten unter anderem einen Fehlschluss für plausibel: Wenn Hochbegabte im Leben scheitern, werde ihre Intelligenz dafür verantwortlich gemacht, weil sie so sehr hervorsticht. Bei durchschnittlicher Intelligenz würden andere Merkmale zur Erklärung herangezogen, etwa mangelndes Einfühlungsvermögen.
Ein Garant für ein gutes Leben sei Intelligenz natürlich nicht, räumen die Autoren ein. Auch andere Merkmale wie Gewissenhaftigkeit, das Umfeld und der Zufall mischen mit. Die vorliegenden Studien hätten außerdem nicht zwischen Effekten von verschiedenen kognitiven Fähigkeiten unterschieden, und es handelte sich um Stichproben mit vergleichsweise wenig Hochbegabten.
Überdies könnte Hochbegabung das Leben in Bereichen beeinträchtigen, die in den vorliegenden Untersuchungen nicht erfasst wurden. So gibt es Hinweise darauf, dass sich Hochintelligente etwas schwerer damit tun, dem Leben einen Sinn abzugewinnen. Und bei der Suche nach dem Partner oder der Partnerin fürs Leben sind die Optionen womöglich beschränkt. Zwar wünschen sich die meisten Leute überdurchschnittlich intelligente Menschen an ihrer Seite, aber keine Hochbegabten – aus Sorge, selbst nicht »kompatibel« zu sein.
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