Hirnstörung: Ist das Gehirn krank, wenn die Seele leidet?
»Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie eine Hirnstörung haben?«, fragt der Therapeut gegen Ende der Probesitzung. Inge M. sieht ihn verdutzt an. Sie hat den Therapeuten wegen einer Depression aufgesucht. Die Patientin wohnt in Berlin und möchte ihren richtigen Namen lieber nicht in einem Artikel lesen. Sie hat schon davon gehört, dass Depressionen eine Hirnerkrankung seien. Aber sie ist skeptisch und möchte die Behandlung bei dem Therapeuten lieber nicht fortsetzen. Ob er wirklich glaubt, dass sie eine Hirnstörung hat, wird sie also nie erfahren.
Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Depression, Schizophrenie oder ADHS hören immer wieder, dass ihre seelischen Probleme im Wesentlichen eine Wurzel hätten: eine Störung in dem rund 1300 Gramm schweren Organ in ihrem Schädel. Die Botschaft begegnet Betroffenen zum Beispiel in dem Dokumentarfilm »Das dunkle Gen«. In der Reportage versucht ein Arzt, den möglichen genetischen Ursachen seiner Depression auf die Spur zu kommen. Auch der namhafte Psychiater Florian Holsboer verkündet, dass Depressionen, schwere Angstzustände und Schizophrenien auf »Fehlregulationen des Gehirns« beruhen. Holsboer ist der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München und hat das Buch »Biologie für die Seele« geschrieben. Doch finden sich die Ursachen für psychische Erkrankungen wirklich in unseren grauen Zellen?
Es gibt tatsächlich Veränderungen im Gehirn, die helfen, bei mancher psychiatrischen Erkrankung eine Diagnose zu stellen. Etwa bei Alzheimer: Hier verlassen sich Ärzte nicht nur auf Symptome wie das schwindende Gedächtnis. Sie fahnden bei den Patienten auch nach biologischen Indizien – zum Beispiel nach dem falsch gefalteten Eiweiß Beta-Amyloid. Das Protein sammelt sich bei Alzheimerkranken im Gehirn außerhalb der Nervenzellen an und verklumpt zu den berüchtigten »senilen Plaques«. Finden Ärzte Hinweise auf das fatale Protein im so genannten Liquor, untermauert das den Verdacht auf eine Alzheimerdemenz. Der Liquor ist das Nervenwasser, das Gehirn und Rückenmark umspült.
Wie sich die Gehirne von Gesunden und psychisch Kranken unterscheiden
Für andere psychische Störungen sind jedoch keine eindeutigen neurobiologischen Anzeichen bekannt. Bei Patienten mit schizophrenen Psychosen sind zwar die Werte des Botenstoffs Dopamin um rund zehn Prozent erhöht – allerdings nur im Schnitt, das heißt über viele Patienten hinweg gemittelt. Die Höhe des Dopaminspiegels im Gehirn eines einzelnen Patienten liefert deshalb keine schlüssige Aussage über dessen psychischen Gesundheitszustand.
Ein Blick ins Gehirn mit dem funktionellen Magnetresonanztomografen ist auch wenig aufschlussreich. Das legt eine wissenschaftliche Veröffentlichung nahe, die 2017 erschienen ist. Forscher um Emma Sprooten schauten sich dafür an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York mehr als 500 Studien an. In den Studien sollten Menschen mit einer psychischen Störung verschiedene Aufgaben bewältigen, während Wissenschaftler beobachteten, was sich in ihrem Gehirn abspielte. Sprooten und ihre Kollegen erstellten eine Metaanalyse, indem sie die Ergebnisse der Studien statistisch zusammenfassten. Sie stellten fest, dass verschiedene Erkrankungen wie Schizophrenie, bipolare Störung oder Depression ihre Spuren in den gleichen Hirnregionen hinterließen. Schaut man sich das Gehirn eines Betroffenen an, kann man also schon sagen, dass er an einer psychischen Störung leidet. Unklar bleibt aber, an welcher.
Selbst wenn man im Gehirn auf scheinbar markante Auffälligkeiten stößt, ist lange nicht klar, ob diese der Ursprung der Erkrankung sind. »Psychische Störungen sind keine Hirnerkrankungen«, sagt Herta Flor. Sie ist wissenschaftliche Direktorin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Bei einer neurologischen Störung wie einem Schlaganfall sei eine eindeutige Schädigung im Gehirn schuld. Nicht so bei psychischen Störungen: »Wenn ich auf einem MRT-Bild Hirnveränderungen sehe, heißt das nicht, dass diese die Ursache für eine psychische Störung sind.« Es könne sein, dass die neuronalen Veränderungen lediglich die Begleiterscheinungen einer Störung sind. Wenn jemand auf Grund von Überforderung in der Familie und im Beruf eine Depression entwickelt, wird sich das mit der Zeit im Gehirn niederschlagen. Keineswegs sind die biologischen Veränderungen allerdings die Ursache der Depression.
Die entscheidende Frage ist demnach: Sind die Auffälligkeiten in den grauen Zellen schon vorhanden, bevor die seelische Störung auftritt? Das wäre ein Indiz dafür, dass sie die Ursache sind.
Hippocampus hilft bei Rätselsuche
Um dieses Rätsel zu lösen, können Daten zum Hippocampus weiterhelfen. Dieser Teil des Gehirns ist für das Langzeitgedächtnis wichtig. Schon seit den 1990er Jahren ist bekannt, dass Patienten mit schweren Depressionen oft einen kleineren Hippocampus haben. Schrumpft der Hippocampus also wegen der Depression, oder bekommt man eine Depression eher, wenn der Hippocampus klein ist? Diese Frage stellte ein 60-köpfiges internationales Forschungsteam in einer Veröffentlichung, die 2016 erschien. Geleitet wurde die Forschung von der Neurowissenschaftlerin Lianne Schmaal, die am VU University Medical Center in Amsterdam arbeitet. Die Wissenschaftler führten eine groß angelegte Metaanalyse durch, für die sie MRT-Bilder von mehr als 1700 Patienten mit Depression durchforsteten. Diese verglichen sie mit den Daten von knapp 7200 gesunden Personen.
Schmaal und ihre Mitstreiter stellten fest, dass der Hippocampus bei Patienten mit wiederkehrender Depression am stärksten schrumpfte. Nach einer ersten depressiven Episode konnten die Forscher bei Patienten hingegen nicht nachweisen, dass sich der Hippocampus verkleinert hatte. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass der schrumpfende Hippocampus die Folge – und nicht die Ursache – der Depression ist. Das könnte am Stress liegen, unter dem viele Depressive leiden.
Ganz geklärt ist das Phänomen um den schrumpfenden Hippocampus noch nicht. Um die Frage nach Folge oder Ursache abschließend zu beantworten, müsse man Langzeituntersuchungen durchführen, so der Psychiater Henrik Walter. Er arbeitet an der Berliner Charité und war an der Metastudie beteiligt. Er glaubt, dass man hier Unterschiede finden wird. Es komme sowohl auf die jeweilige Störung an als auch darauf, wie stark Umweltfaktoren oder die Genetik eine Rolle spielen. Depressionen seien etwa in sich schon äußerst verschieden. »Ich würde schwere Depressionen, die ohne äußere Anlässe auftreten, eher in Richtung Hirnerkrankung einordnen«, sagt Walter. »Verstimmungen, die durch äußere Faktoren wie Stress bedingt sind, eher nicht.«
Eine Schizophrenie sei wahrscheinlich eine Hirnerkrankung, so Walter. Das habe unter anderem damit zu tun, dass der genetische Einfluss so stark ist. Das Risiko eines Zwillings, im Lauf des Lebens an Schizophrenie zu erkranken, erhöht sich um den Faktor 50, wenn der andere Zwilling die Erkrankung hat. »Diese Statistik spricht schon eine deutliche Sprache«, meint Walter. Es spielten bei einer psychotischen Entgleisung auch Umweltfaktoren wie Drogenkonsum oder soziale Isolation eine große Rolle. Aber es gebe eben Menschen, die eine sehr starke Veranlagung haben, eine schizophrene Störung zu entwickeln.
Das beweisen so genannte genomweite Assoziationsstudien. Dafür untersuchen Forscher DNA-Proben. Für jeden Probanden ermitteln sie hunderttausende variable Stellen im Genom, bei denen jeweils ein Basenpaar der DNA von der Norm abweicht. Man spricht hier von Einzelnukleotid-Polymorphismen, kurz SNPs. Nehme man alle SNPs, die mit Schizophrenie assoziiert sind, zusammen, könne man fast 20 Prozent der Unterschiede zwischen erkrankten und gesunden Probanden erklären, sagt Walter. Das sei schon sehr viel. Dabei förderten Forscher auch immer wieder alte Verdächtige zu Tage, etwa die Variante eines Gens, das für die Andockstelle des Botenstoffs Dopamin im Gehirn wichtig ist. Der Fund passt gut ins bisherige Bild der Erkrankung, da Antipsychotika zur Behandlungen von Halluzinationen und Wahnvorstellungen bei Schizophrenie genau an dieser Andockstelle ansetzen.
Gene oder Umwelt?
Laut Zwillingsstudien beträgt die Erblichkeit jedoch nicht 20, sondern um die 80 Prozent. Warum findet man dann nicht mehr eindeutige SNPs für die Schizophrenie? Das könnte daran liegen, dass die Schizophrenie mit einer Kombination von Genvarianten und Mutationen zusammenhängt, die in der Bevölkerung generell seltener sind. Aber: »Eine andere Erklärung könnte sein, dass die Erblichkeit überschätzt wird«, sagt Walter.
Tatsächlich gibt es durchaus Hinweise in diese Richtung. Zwillingsstudien zeigen, dass es wahrscheinlicher ist, dass zwei eineiige Zwillinge an Schizophrenie erkranken als zwei zweieiige Zwillinge. Bisher haben Forscher das auf die Genetik zurückgeführt: Eineiige Zwillinge haben 100 Prozent des Erbguts gemein, zweieiige Zwillinge im Schnitt nur 50 Prozent. Wissenschaftler setzen normalerweise voraus, dass sich die Umwelteinflüsse von ein- und zweieiigen Zwillingen nicht unterscheiden. Doch das stimmt vielleicht so nicht.
Zu dem Schluss kommt ein Forscherteam um den Psychologen Roar Fosse, der am Vestre Viken Hospital Trust in Norwegen tätig ist. Die Wissenschaftler beleuchteten für ihre Metaanalyse bestimmte Erfahrungen von Zwillingen, die bei Schizophrenie eine Rolle spielen: sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und Mobbing. Hinsichtlich dieser Umwelteinflüsse glichen sich die eineiigen Zwillinge stärker als die zweieiigen. Wurde etwa ein eineiiger Zwilling körperlich misshandelt, war es wahrscheinlicher, dass sein Zwilling die gleiche Erfahrung machte, als es bei zweieiigen der Fall gewesen wäre. Die Umwelteinflüsse können also doch mit dafür verantwortlich sein, dass es wahrscheinlicher ist, dass beide Geschwister eines eineiigen Zwillingspaars an Schizophrenie erkranken als beide zweieiige Zwillinge.
Ob psychische Erkrankungen biologisch bedingt sind oder von Umweltfaktoren abhängen, ist nicht nur von akademischem Interesse. Es ist auch entscheidend für die Behandlung. »Wenn man psychische Störungen lediglich als biologische Hirnerkrankung betrachtet, besteht durchaus die Gefahr, die Behandlung einseitig an Medikamenten auszurichten«, sagt Herta Flor. Um psychische Störungen zu verstehen, benötige man neben genetischen und neurobiologischen Erkenntnissen auch psychologische. Eine wichtige Rolle dabei, wie Menschen mit traumatischen Erlebnissen umgehen, spielen beispielsweise Lernprozesse. Bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung bilden sich oft starke Assoziationen zwischen dem Erlebten und den dabei empfundenen aversiven Emotionen. In einer Therapie können Patienten lernen, diese Assoziationen wieder zu verlernen. Das nennt man auch systematische Desensibilisierung. »Da sich Umweltfaktoren gut erforschen und verändern lassen, ist dies eine weitere Chance, Mechanismen der Störungen zu beeinflussen«, meint Flor.
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