Mathematische Theorien: Ist der Knoten geplatzt?
Schuhe binden ist leicht. Aber kann man den Schleifenknoten auch dann wieder völlig aufdröseln, wenn die beiden Enden des Schnürsenkels miteinander verklebt wurden – und zwar ohne Schere? So sehen typische Fragen aus der Knotentheorie aus, vielleicht einer der anschaulichsten, sicher aber einer der kompliziertesten Regionen der Mathematik. Denn die meisten großen Probleme der Knotentheorie sind ungelöst, obwohl die Theorie schon 150 Jahre alt ist. Wie kann man geschickt Ordnung ins Durcheinander der Knoten bringen? Gibt es zum Beispiel einen »Knotenfingerabdruck«, der jedem Knoten eine unverwechselbare Kennzahl zuordnet? Kann man Knoten effektiv und schnell vereinfachen? Wie schnell geht das überhaupt?
Zumindest bezüglich der letzten beiden offenen Fragen herrscht Aufregung in der Knotentheorie: Im Oktober 2011 legte Chad Musick, ein Doktorand an der Universität Nagoya in Japan, einen Aufsatz mit dem Titel »Recognizing trivial links in polynomial time« vor. Darin könnte eine wissenschaftliche Bombe stecken: Musick hofft, eine Methode gefunden zu haben, mit der man entscheiden kann, ob ein Knoten mit zusammengeklebten Enden eigentlich ein »Unknoten« ist – ob er sich zu einem einfachen Schnurring entwirren lässt. Das Revolutionäre an Musicks Methode ist ihre Geschwindigkeit: »Polynomiale Zeit« ist der mathematische Ausdruck für Highspeed. Wenn ein Algorithmus ein Problem in polynomialer Zeit löst, dann braucht er für größere Probleme nicht dramatisch – also zum Beispiel exponentiell – mehr Zeit als für kleinere, sondern sein Zeitbedarf lässt sich durch ein Polynom nach oben beschränken.
Die Knotentheorie boomt erst seit einigen Jahren. Während das Zentralblatt MATH, eines der Referenzorgane der Mathematik, im Jahr 1980 weltweit noch 87 mathematische Arbeiten zum Thema zählte, waren es 2010 schon 364 – es erscheint also praktisch täglich ein Paper, Sonntage eingeschlossen. Aber es dauert mitunter Jahre, bis ein Beweis allgemein akzeptiert wird – selbst in dem überschaubaren Bereich, wo fast jeder jeden kennt. So wird auch die Arbeit von Musick seit Monaten unter die Lupe genommen – und die Spannung ist groß. »Ich habe das Original gelesen und finde es aufregend. Ich bin aber noch nicht zu dem Schluss gekommen, ob man es glauben kann oder nicht«, sagt Colin Adams vom Williams College in Massachusetts, einer der bekannten Knotentheoretiker, zu Musicks Ergebnis.
Dass die Knotentheorie nach vielen Jahren Dornröschenschlaf in den letzten Jahrzehnten erwachte, hängt auch mit einigen neueren Entdeckungen zusammen. Zuvor bewiesen Knotentheoretiker zum Beispiel mühevoll, dass der Kleeblatt-Knoten und sein Spiegelbild unterschiedliche Knoten sind. In der Praxis arbeiteten sie oft wie Botaniker, die Funde aus der Botanisiertrommel per Pflanzenpresse für Herbarien aufbereiten: Sie quetschten die Knoten in Gedanken platt, zu so genannten Knotendiagrammen. Problem: Ein Knoten kann viele verschiedene Diagramme besitzen, je nachdem, wie viel man vor dem Plattdrücken an ihm herumgezupft und wie man ihn in die Presse gelegt hat.
Neue Kartierung der Knoten
Man will aber eigentlich nur jene Diagramme eines Knotens untersuchen, die ihn mit möglichst wenigen Überschneidungen repräsentieren. Doch wie soll man diese finden und voneinander unterscheiden? Antwort: Mit Tricks aus der Topologie – und auch das klappt inzwischen ganz gut. 1998 traten zwei Teams von amerikanischen Mathematikern gegeneinander an, um alle Knoten mit bis zu 16 Überschneidungen zu katalogisieren. Sie arbeiteten unabhängig voneinander mit verschiedenen mathematischen Methoden und kamen zu exakt demselben Ergebnis: einer Liste von 1 701 936 Knotendiagrammen, die alle unterschiedliche Knoten repräsentieren.
Um solche Projekte zu erleichtern, entwickelte in den 1980er Jahren der Neuseeländer Vaughan Jones ein System, jedem Knotendiagramm ein Polynom zuzuordnen. Für diese »Jones-Polynome« erhielt er 1990 die Fields-Medaille, den »Nobelpreis« der Mathematik. Ob Jones-Polynome tatsächlich eindeutige Fingerabdrücke für Knoten aufweisen, ist zwar noch immer unklar – doch immerhin haben das Jones-Polynom und seine Verallgemeinerungen eine regelrechte Revolution in der Knotentheorie angezettelt. »Man konnte damit einige alte offene Fragen der Knotentheorie lösen«, sagt Colin Adams. »Zum Beispiel das Problem, die Kreuzungszahl eines Knotens zu finden, also die Zahl an Überschneidungen, die man ändern muss, um einen Knoten zum Unknoten werden zu lassen.« Diese Kreuzungszahl könnte ganz praktischen Nutzen in der Biologie haben: Die DNA im Kern einer Zelle ist kompliziert verknotet. Damit sie transkribiert und rekombiniert werden könne, zerschneide man sie gezielt mit Hilfe von Enzymen, erklärt Adams. »Ein Verständnis der Überschneidungen und Kreuzungszahl könnte daher in der Medizin Anwendung finden.«
Der Unknoten ist der Feind jedes Knotens
Während bei der Klassifizierung der Knoten viel erreicht wurde, lag die Frage nach ihrer effektiven Auflösung lange auf Eis. Stand der Dinge war immer noch ein Algorithmus, der inzwischen ein halbes Jahrhundert alt ist. 1961 hatte der Mathematiker Wolfgang Haken nach zehn Jahren Arbeit im Fachmagazin »Acta Mathematica« auf 130 Seiten und auf Deutsch seine Theorie der Normalflächen ausgebreitet. Der Untertitel verrät, worum es Haken eigentlich ging: ein Isotopiekriterium für den Kreisknoten. Haken zielte nämlich darauf ab, Knoten von Unknoten (beziehungsweise »Kreisknoten«) zu unterscheiden. Dazu verwendete er Mittel der Topologie, besonders ein Ergebnis von Herbert Seifert aus den 1930er Jahren: Man kann in jeden Knoten eine Fläche ähnlich wie eine Seifenhaut einspannen, die von dem Knoten begrenzt wird. Ist der Knoten ein einfacher Kreisknoten, dann ist das Häutchen eine Kreisscheibe; anderenfalls kann es kompliziert verwunden sein und sich selbst durchdringen. Und während man einen komplizierten Knoten entwirrt, biegt man zugleich die von ihm aufgespannte Fläche glatt. Wer nun zeigen kann, dass das bei einem Knoten vollständig klappt, der kann sich sicher sein, einen Unknoten vor sich zu haben.
Haken wurde etwa 15 Jahre später dafür berühmt, zusammen mit Kenneth Appel und einem Computer bewiesen zu haben, dass man jede Landkarte mit höchstens vier Farben färben kann. Seine Knotenarbeit dagegen verschwand in den Schubladen, weit gehend ignoriert von der Fachwelt. Erst 1999 grub eine Gruppe von drei amerikanischen Mathematikern Hakens Knotenarbeit wieder aus. Joel Hass, Jeff Lagarias und Nick Pippinger betrachteten Hakens Algorithmus als eine Art Maschine, die für jeden noch so kompliziert verschlungenen Unknoten in relativ knapper Form seine Einfachheit beweist. Diese Beweise untersuchten sie. Ergebnis: Sie sind zwar erfreulich kurz, doch um sie zu finden, braucht Hakens Algorithmus unter Umständen sehr, sehr lange. Musick ist dagegen – wenn sich seine Arbeit als korrekt herausstellt – einen großen Schritt weiter gegangen: Mit seinem Algorithmus könnte man die kurzen Beweise auch sehr schnell finden.
Doch selbst wenn sich das als korrekt herausstellt (wovon inzwischen viele ausgehen) – an Arbeit wird es den Knotentheoretikern auch in Zukunft nicht mangeln. »Nach meiner Meinung ist eine der größten offenen Fragen in der Knotentheorie die, ob die Kreuzungszahl additiv ist«, sagt Colin Adams. Das heißt konkret: Man nimmt zwei Knoten, die man als Knotendiagramme von fünf und sechs Überschneidungen darstellen kann, aber nicht mit weniger. Dann trennt man beide Knoten auf und verklebt die vier Schnurenden so, dass ein großer Knoten entsteht. Kann man diesen Knoten nun als Knotendiagramm mit weniger als elf Überschneidungen darstellen? Diese Frage ist seit mehr als 100 Jahren offen – und Adams ist sich sicher: »Sie wird so bald nicht geknackt werden.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.