Johannes Kepler: Der Astronom vor dem Hexengericht
Die Häscher kamen im Morgengrauen. In den frühen Stunden des 7. August 1620 weckte die Pfarrersgattin Margaretha Binder ihre seit einiger Zeit bei ihr weilende Mutter Katharina Kepler und forderte sie auf, sich schnell zu verstecken. Da standen die Soldaten des herzoglichen Vogts von Stuttgart bereits vor der Tür. Nackt, wie sie am Vorabend wegen der Sommerhitze zu Bett gegangen war, verkroch sich die der Hexerei beschuldigte Katharina in einer Holztruhe. Es half nichts. Die bewaffneten Männer fanden sie umgehend, forderten sie auf sich anzukleiden und brachten Katharina Kepler zunächst nach Stuttgart, später dann in das Gefängnis ihrer Heimatstadt Leonberg.
Dort waren mehr als fünf Jahre zuvor die ersten Anschuldigungen gegen die mittlerweile 73-jährige, zierliche Frau laut geworden. Doch erst jetzt – nach quälend langen Untersuchungen, verschleppten Zeugenvernehmungen und einer weitgehend ignorierten Gegenklage der Familie Kepler wegen Verleumdung – hatten die zuständigen Juristen der Stuttgarter Staatskanzlei entschieden, dass die Greisin festgesetzt und nötigenfalls auch gefoltert werden müsse, um den Vorwürfen gegen sie auf den Grund zu gehen.
Umgehend schrieb Tochter Margaretha an ihren älteren Bruder einen Brief. Wer, wenn nicht der berühmte Johannes, der kaiserliche Hofastronom und hochangesehene Mathematicus, sollte die Mutter verteidigen können? Im Spätsommer 1620 kam Margarethas Brief bei Johannes Kepler im österreichischen Linz an. Auch der Tübinger Rechtsprofessor Christoph Besold (1577–1638) drängte seinen Freund aus Jugendtagen brieflich inständig dazu, sich der Sache persönlich anzunehmen: »Komm Du selbst, mein Johannes, und versuche mit allen reichen Mitteln Deines Geistes, Deine unglückliche Mutter vor Folterqualen und dem möglichen, ja wahrscheinlichen Flammentode zu retten.«
Er selbst, so schrieb Besold, sehe sich trotz seiner Stellung – und obwohl es ihm erst kurz zuvor gelungen war, eine andere Frau vom Vorwurf der Hexerei reinzuwaschen – nicht in der Lage, Katharina nützlich zu sein. Schließlich sei er »in diesem Lande kein beliebter Mann mehr«. Besold stand im Verdacht, mit der katholischen Kirche zu sympathisieren. Im streng lutheranischen Württemberg ein schwer wiegender Vorwurf – umso mehr nachdem zwei Jahre zuvor ein Konfessionskrieg ausgebrochen war, von dem zu diesem Zeitpunkt freilich noch keiner wissen konnte, dass er binnen dreier Jahrzehnte das Reich komplett verwüsten sollte.
Kepler packte und reiste heim
Der schriftlichen Aufforderungen hätte es indes kaum bedurft. Johannes Kepler wusste, was auf dem Spiel stand: das Leben seiner Mutter und sein eigener guter Name. Sobald er von der Verhaftung erfahren hatte, unterbrach er »sein gesamtes Leben in Linz, verstaute seine Bücher, Papiere und Instrumente in Kisten, zog mit seiner Familie nach Süddeutschland und verbrachte dort fast ein Jahr mit dem Versuch, seine Mutter aus dem Gefängnis zu holen«, berichtet die Historikerin Ulinka Rublack von der University of Cambridge in ihrem Buch zu dem Fall. Dazu bewogen hatte den Gelehrten nicht nur das Pflichtgefühl seiner Mutter gegenüber, die ihm seine erstaunliche Laufbahn erst ermöglicht hatte, sondern wohl ebenso sehr sein schlechtes Gewissen. Denn wie auch seine beiden Brüder hatte Johannes Kepler einen Anteil an der Entstehung der bösartigen und lebensbedrohlichen Gerüchte über seine Mutter.
Der Mathematiker hatte 1609 eine kurze Erzählung mit dem Titel »Somnium« (Der Traum) verfasst, die womöglich erste Sciencefiction-Story der Literaturgeschichte. Darin berichtet der Ich-Erzähler unter anderem von einer Reise auf den Mond und von dessen Bewohnern, die dem irrigen Glauben anhingen, die Sonne bewege sich um ihren Himmelskörper. Zudem erfährt der Leser darin auch von der Mutter des Erzählers, der wie Kepler selbst damals als Astronom in Prag lebt, sie sei eine kräuterkundige Hexe. Zwar erschien das Werk erst posthum, doch das Manuskript war mit Keplers Einverständnis erst in Prag von Hand zu Hand gegangen und schließlich in einer Abschrift bis nach Tübingen gelangt. Jahre später, nach dem Prozess gegen seine Mutter, schrieb Johannes zahlreiche ausführliche Anmerkungen zu seiner eigenen Erzählung. In einer von diesen bekannte er reumütig, die Erzählung habe wohl großen Schaden angerichtet, da sie »von dumpfen Geistern aufgenommen« worden sei und unter diesen schließlich die Form eines Gerüchts angenommen hätte, »dessen Flamme von Unwissenheit und Aberglauben kräftig angeblasen wurde«.
Allzu schwer hatte es Johannes den Lästerern aber nicht gemacht, denn auch seine eigene Mutter war »als kundige Heilerin angesehen«, wie Historikerin Rublack erläutert. Katharina Kepler wusste also, wie man aus Kräutern Arzneien herstellt. Das erregte an sich nicht einmal im Zeitalter der Hexenverfolgungen größeren Argwohn. Der medizinische Einsatz von Heilkräutern war weit verbreitet und geschätzt. »Kräutermägde« waren hoch angesehen. Sogar die herzogliche Apotheke wurde von einer Frau geleitet. Ja, selbst Herzogin Sybilla von Württemberg (1564–1614), die ihren Lebensabend in Leonberg als Witwe verbrachte, widmete sich begeistert botanischen wie chemischen (alchemistischen) Studien, veröffentlichte eine Rezeptsammlung und stellte Arzneimittel her. Dass sie eine Kräuterkundige war, machte Katharina also noch nicht als Hexe verdächtig.
Schwerer wog die Sache mit dem Schadenzauber. Darauf – und nicht auf das Mixen von Kräutersuden – stand laut der seit 1532 gültigen »Constitutio Criminalis Carolina« Kaiser Karls V. die Todesstrafe. Und war erst mal »Gerede und Gemurmel« aufgekommen, wie Johannes Kepler die Gerüchte über seine Mutter in einem Brief nennen sollte, dann konnte das gefährlich werden.
Sohn Heinrich nannte sie erstmals öffentlich Hexe
Der Erste, dem es Anfang 1615 eingefallen war, Katharina Kepler öffentlich als Hexe zu verunglimpfen, war ausgerechnet ihr zweitgeborener Sohn Heinrich. Der nach seinem Vater benannte Junge hatte keine auch nur annähernd vergleichbare Ausbildung genossen wie sein zwei Jahre älterer Bruder. Johannes hatte die besten Schulen Württembergs besucht, hatte an der schon damals renommierten Universität Tübingen studiert und war zu einem weit über die Grenzen des Heiligen Römischen Reichs hinaus geachteten Mann geworden. Heinrich hingegen hatte zwei Lehren ohne Abschluss abgebrochen und als 16-Jähriger in die Fußstapfen des Vaters tretend eine militärische Laufbahn eingeschlagen.
»Schwatzhaft, streitsüchtig und von unguter Art« nennt Kepler seine Mutter
Nach einigen berufsbedingt unsteten Jahren verschaffte ihm sein mittlerweile zum Astronomen am Hof Rudolfs II. avancierter Bruder eine Stellung bei der kaiserlichen Garde zu Prag. Im bitterkalten Winter 1614/15 kehrte Heinrich nach 25-jährigem Dienst als Soldat dennoch völlig mittellos nach Leonberg zurück. Kaum bei seiner Mutter eingezogen, brach der raubeinige Mann immer wieder Streit vom Zaun. »Er, der Epileptiker, war der Prügelknabe der Familie gewesen«, sagt die Historikerin Mechthild Lemcke. »Nun, wo seine Mutter alt war, wollte er sich an ihr schadlos halten.« Katharina jedoch, die auch von Sohn Johannes wenig schmeichelhaft als »schwatzhaft, streitsüchtig und von unguter Art« bezeichnet wurde, war durchaus in der Lage, sich zur Wehr zu setzen. Statt sich gefügig zu zeigen, machte sie Heinrich Vorhaltungen. Der wiederum warf ihr vor den Ohren der aufmerksamen Nachbarschaft an den Kopf, eine Hexe zu sein, und bezichtigte sie, ein Kalb zu Tode geritten zu haben – für Zeitgenossen ein untrügliches Zeichen für den Teufelsbund.
Heinrich starb bereits im darauf folgenden Februar – seine Worte aber waren gesagt, und sie blieben in der Welt. Das sollte sich schon sehr bald bestätigen. Katharinas jüngster Sohn Christoph Kepler, der es als Zinngießer in Leonberg zu bescheidenem Wohlstand gebracht hatte, geriet mit einer Nachbarin seiner Mutter wegen unbezahlter Rechnungen in Streit. Im Lauf eines Wortgefechts warf er der Frau, Ursula Reinbold, einen liederlichen Lebenswandel vor. Als sich die Nachbarin darüber bei Katharina beschwerte, wiederholte diese ihrerseits die Anschuldigungen ihres Sohnes und machte »in der Stadt Stimmung gegen die Reinboldin«, schreibt die Kepler-Biografin Lemcke. Die Reinboldin aber, die offenbar nicht weniger streitlustig war als die Keplerin, hetzte nun ihrerseits gegen ihre bejahrte Nachbarin – und griff dabei unter anderem auf die Bemerkungen Heinrichs zurück. Katharina sei eindeutig eine Hexe, behauptete sie. Schließlich sei sie selbst vor Jahren von einem Trank, den ihr die Alte gegeben hatte, krank und lahm geworden, ja sie leide noch immer darunter.
»Dieses Kepler-Weib soll seinen Zauberspruch aufheben, bevor ich sterbe«, verlangte Ursula Reinbold und hatte den mächtigsten Mann im Ort an ihrer Seite: Vogt Luther Einhorn war für die Rechtsprechung in Leonberg zuständig und ein Freund ihres Bruders. Bald schon zitierten die beiden Männer am Rand eines Zechgelages Keplers Mutter ins Leonberger Amtshaus und verlangten mit vorgehaltener Waffe von ihr, das Opfer ihrer Hexenkunst wieder gesund zu machen. Weder sei sie am Leiden der Reinboldin schuld, noch könne sie es heilen, entgegnete Katharina trocken – und ging ihrer Wege. Doch der Streit war dadurch natürlich nicht ausgeräumt. Christoph Kepler und seine Schwester Margaretha reichten eine Verleumdungsklage gegen Ursula Reinbold ein – notgedrungen bei Vogt Einhorn. Der wiederum, schließlich war er seit der rechtswidrigen Befragung und Bedrohung der Keplerin kein unparteiischer Beobachter mehr, ließ die Klage liegen und den erforderlichen Gerichtstermin mehrmals verstreichen.
Immer mehr Zeugen belasteten Katharina Kepler
Auf der anderen Seite fanden sich in der zunehmend aufgeheizten Stimmung weitere vermeintliche Zeugen, die ihrerseits Vorwürfe gegen Katharina erhoben. Der Schlachter etwa meinte sich erinnern zu können, er habe Schmerzen im Oberschenkel bekommen und nur noch verschwommen gesehen, als Katharina eines Tages lediglich an ihm vorbeigegangen war. Der Schneider war sich sicher, die Keplerin habe sich über die Wiegen seiner zu jenem Zeitpunkt kranken Kinder gebeugt – mit der festen Absicht, sie zu töten. Auch der Schulmeister erinnerte sich, wie ihn Schmerzen geplagt hatten, nachdem ihn die alte Frau genötigt hatte, von ihrem bitteren Wein zu trinken. Ein Tagelöhner wieder berichtete, seine Tochter sei nach einer Berührung durch Katharina gelähmt gewesen, und verlangte Schadenersatz. Dem Beispiel folgten 1618 auch die Reinbolds: Sie forderten 1000 Gulden, eine astronomisch hohe Summe.
Unterdessen schrieben Christoph und Johannes Kepler sowie Margarethas Ehemann, der Heumadener Pfarrer Georg Binder, zahlreiche Briefe und Petitionen an die zuständigen Stellen in Stuttgart. In einem Schreiben an Herzog Johann Friedrich von Württemberg (1582–1628) persönlich erläuterte der Astronom, den Vorwürfen gegen seine Mutter liege vor allem zu Grunde, »dass sie sich 28 Jahre lang gemeinen Gesindels hat erwehren müssen, unter dem sie ohne Hilfe und als Witwe mit ihren Kindern lebte, sich kärglich ernährte, ihr Land verbesserte, ihre Interessen verteidigte und zuweilen in mancherlei Zank, Verdruss und Feindschaft geriet«. Nun da sie alt und gebrechlich sei, schwebe sie umso mehr in Gefahr, da Frauen, die »nach Ansicht der jungen, gemeinen Welt schon zu lange gelebt hätten«, zu den bevorzugten Opfern jener Menschen gehörten, die in unchristlichem Geiste verlangten: »Nur auf den Scheiterhaufen mit den alten Weibern!«
Katharina Kepler steht als junge Witwe ein halbes Leben lang auf eigenen Beinen
Zu allem Überdruss sei der herzogliche Vogt Einhorn, der erst 1613 in sein Amt berufen worden war, als Neuling übereifrig. In der Tat: Allein in den Jahren 1615 und 1616 hatte er sieben Frauen auf den Scheiterhaufen gebracht. Bis zum Ende seiner Amtszeit 1629 sollte seine Bilanz auf neun steigen. Die Vorwürfe gegen Katharina kamen zur denkbar ungünstigsten Zeit.
Tatsächlich hatte die Keplerin ihre vier überlebenden Kinder weitgehend allein großgezogen. Sie selbst war 1547 in Eltingen zur Welt gekommen, das heute ein Teil Leonbergs ist. Ihr wohlhabender Vater Melchior Guldenmann betrieb ein Gasthaus und war als Schultheiß des Ortes ein angesehener Mann. Bis zu ihrer Hochzeit half die Tochter in der elterlichen Wirtschaft aus, in der sie wohl auch ihrem zukünftigen Gemahl Heinrich Kepler begegnete – als Sohn eines erst kurz zuvor zum Bürgermeister seines Heimatorts gewählten Mannes ebenfalls ein Spross aus gutem Haus.
In Keplers Elternhaus herrschte Dauerstreit
Gleich nach der Vermählung im Frühjahr 1571 zog das junge Paar ins Haus seiner Eltern, die nicht weit entfernt von Leonberg in Weil der Stadt lebten. Am 27. Dezember desselben Jahres – sieben Monate nach der Trauung – erblickte dort Johannes das Licht der Welt. Glücklich scheint die Verbindung seiner Eltern von Anfang an nicht gewesen zu sein. Sowohl zwischen den Eheleuten als auch zwischen Ehefrau und Schwiegermutter herrschte ständig Streit. Schon 1574 verließ Heinrich, von dem Johannes meinte, er sei »ein lasterhafter, schroffer, händelsüchtiger Mensch« gewesen, erstmals seine Familie und zog als Soldat in die Spanischen Niederlande. Dort kämpfte der Lutheraner auf kaiserlich-katholischer Seite gegen die calvinistischen Aufständischen. Doch schon im Jahr darauf reiste die offenbar ziemlich resolute Katharina ihrem Mann auf eigene Faust nach und holte ihn zurück nach Hause.
Die junge Familie zog daraufhin nach Leonberg, später nach Ellmendingen bei Pforzheim, wo sie in durchaus vermögenden Verhältnissen lebte. Dennoch verließ Heinrich mehrfach Frau und Kinder, um in den Krieg zu ziehen. Immer wieder kehrte er aber auch zurück, bis er schließlich Anfang 1589 endgültig ging – und Katharina mit der damals fünfjährigen Margaretha und dem drei Jahre jüngeren Christoph sitzen ließ. Im Jahr darauf soll Heinrich bei Augsburg einen »schlimmen Tod« erlitten haben. Genaueres ist nicht bekannt. Der 18-jährige Johannes stand zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend auf eigenen Beinen und begann sich, als Stipendiat in Tübingen seinen Studien zu widmen.
Einen Namen machte er sich 1596 mit seinem ersten Buch »Mysterium cosmographicum« (Das Weltgeheimnis). In den folgenden Jahren sollte er seinen Ruhm sowohl durch weitere Veröffentlichungen als auch durch eine Karriere am kaiserlichen Hof mehren. Zunächst assistierte Kepler dem damaligen Hofastronomen Tycho Brahe (1546–1601), dann übernahm er 1602 nach dessen Tod selbst das Amt – zehn Jahre lang, bis Kaiser Rudolf II. starb und Kepler nach Linz übersiedelte. Just zu der Zeit, da das Verfahren gegen Katharina in die entscheidende Phase trat, veröffentlichte der Mathematiker 1619 sein Hauptwerk »Harmonice mundi« (Die Weltharmonik).
Johannes ging die Verteidigung wie eine wissenschaftliche Debatte an
In Keplers Heimatstadt konnte freilich von Harmonie keine Rede sein. Nach ihrer Verhaftung im Sommer 1620 wurde Katharina – auf Bitten Christophs und aus Rücksicht auf das Ansehen des in Leonberg wohlbekannten und -gelittenen Handwerkers – nach Güglingen bei Heilbronn verlegt. Während sie dort im Gefängnis auf ihren Prozess wartete, verschleppte der Vogt diesen weiter. Endlich, ein Jahr später, am 20. August 1621, fand der peinliche Gerichtstag statt.
Zu diesem erschien die Angeklagte »leider mit Beystandt ihres Herrn Sohns, Johann Kepplers Mathematici«, wie im Protokoll etwas säuerlich vermerkt wurde. Dieser hatte sich gut vorbereitet und bemühte sich schriftlich, die einzelnen seine Mutter belastenden Aussagen zu widerlegen. »Die Fähigkeit, auf Einzelheiten und Widersprüche in den Zeugenaussagen zu achten, hatte Kepler bei der Widerlegung wissenschaftlicher Gegner perfektioniert«, notiert die Biografin Ulinka Rublack. Widerstreitenden wissenschaftlichen Ansichten hatte sich der frühe Verfechter des heliozentrischen Weltbilds im Lauf seines Lebens oft genug ausgesetzt gesehen.
»Jahrelanges Argumentieren für die eigene Sache in der Wissenschaft hatte ihn darauf vorbereitet, nun eine außerordentlich wirkungsvolle Verteidigungsschrift aufzusetzen«, schreibt Rublack weiter. Zum einen, so argumentierte Kepler darin, seien manche Zeugen schlicht zu jung, um sich tatsächlich an einzelne Vorkommnisse zu erinnern, von denen sie berichteten. Anderen Aussagen begegnete der Mathematiker mit gesundem Menschenverstand. »Dass der Stoffel Frick ein oder zwei Tage Schmerzen im Schenkel empfunden, dass der verstorbenen Tochter des Pfarrers zu Gebersheim der Fuß wehgetan, dass dem Daniel Schneider Kinder gestorben, dass Hallers Tochter ein Arm geschmerzt habe«, aus alledem und noch weiteren Vorwürfen, so legte Kepler dar, seien »keine wahrhaftigen Hexentaten abzuleiten«. Es liege schließlich in der menschlichen Natur, anfällig für Krankheiten zu sein, argumentierte der Gelehrte: »Es sterben täglich viele Männer und Frauen. Es finden sich viele krumm und lahm gewordene Leute.«
Eine letzte Probe brachte die Entscheidung
Kepler gelang es auf diese Weise zwar, die meisten der Zeugenaussagen gegen Katharina zu entkräften. Für die Freilassung reichte dies noch nicht. Genau wie die Astronomen seiner Zeit mit wissenschaftlicher Akribie Horoskope erstellten, beteiligte sich das frühneuzeitliche Rechtssystem mit einer hochgradig formalisierten Prozessordnung am Hexenaberglauben. Nicht immer musste das Verfahren mit einer Verurteilung zum Tod auf dem Scheiterhaufen enden. Manche Angeklagte wurden aus Gründen freigesprochen, die heute genauso absurd erscheinen wie die, wegen derer sie angeklagt wurden. So erging es auch der Keplerin.
Zwei Tage nach dem Gerichtstag wurden die Protokolle der Verhandlung an die Tübinger Rechtsfakultät geschickt, »damit Professoren dort entschieden, ob Katharina Kepler der Folter zu unterziehen sei oder nicht«, erläutert Rublack. Für die vom Ankläger beantragte Folter, so die Rechtsgelehrten, reichten die Indizien jedoch nicht aus, sie solle der Beschuldigten aber angedroht werden. Bliebe sie bei ihrer Unschuldsbeteuerung, sei sie frei zu lassen.
Das Gutachten erreichte auch Johannes, der setzte vermutlich seine Mutter darüber in Kenntnis, sie blieb standhaft angesichts der Folterwerkzeuge, wies jede Schuld von sich. Und das genügte: Am 2. Oktober 1621 wurde Katharina freigesprochen, vier Tage darauf – nach 13-monatiger Haft – endlich auch tatsächlich frei gelassen. Lange genießen konnte sie ihre Freiheit nicht. Nur ein halbes Jahr danach, am 22. April 1622, verstarb die vermeintliche »Hexe von Leonberg« im 75. Lebensjahr.
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