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John Lawson: Der falsche Entdecker

Fremde Völker, ferne Länder, exotische Tiere – im 19. Jahrhundert waren die Menschen fasziniert von abenteuerlichen Reiseberichten. Einer wusste die Begeisterung zu seinen Gunsten zu nutzen.
Symbolbild für eine Tigerjagd im 19. Jahrhundert.

Lautes Schreien riss die Expedition aus dem Schlaf. Es war der 28. Oktober 1872, früh am Morgen. Captain John Lawson, Entdecker und unerschrockener Expeditionsleiter, war sofort auf den Beinen und stürzte vor sein Zelt. Der Australier Billy hatte die Truppe geweckt – ein Tiger hatte sich ins Lager geschlichen, den Lastenträger Abu gepackt und in den Wald gezogen. Lawson griff nach seiner Flinte und stellte an der Spitze seiner Mannschaft dem Raubtier nach. Wenig später fanden sie Abu. Er hatte glücklicherweise nur eine Schulterverletzung davongetragen und war sonst unversehrt. Atemlos erzählte der Einheimische, dass er mit der freien Hand auf den Tiger eingeschlagen habe, bis dieser von ihm abließ.

Lawson berichtete über diese Episode neben anderen fantastischen Geschichten in seinem Reisebericht »Wanderings in the Interior of New Guinea«. Darin erzählt er auch, dass ihn selbst schon Tiger angegriffen hätten. Ebenso habe er gesehen, wie andere solche Raubtierattacken überlebt hätten. Doch Abus heldenmutiger Kampf hatte sicherlich zum erstaunlichsten Ausgang eines Tigerangriffs geführt.

Lawson und seine Leute mussten viele Abenteuer auf ihrer außergewöhnlichen Reise überstehen. Der Engländer bereiste das den Europäern noch weitgehend unbekannte Inland von Papua-Neuguinea. Und die Entdeckungen, die er machte, hätten nicht beeindruckender sein können: Als erster Europäer erblickte und bestieg er den gewaltigen Mount Hercules; er ließ als erster Europäer seinen Blick über den weiten Lake Alexandrina schweifen; als erster Europäer nahm er unter höchster Gefahr Kontakt zu den Bewohnern des Inlandes auf; und wo andere Entdecker wochen- oder sogar monatelang durch den Urwald streiften, um eines Tigers oder scheuen Vogels habhaft zu werden, entdeckte Lawson jeden Tag neue Arten: Paradiesvögel, Ochsen, Affen, Spinnen, Käfer, Fische, den höchsten Baum der Welt und natürlich den Moolah, den riesenhaften Tiger der Insel.

Alles Fiktion!

Lawsons Reisen faszinierten seine Landsleute. Sein Bericht erschien 1875 im Verlag Chapman & Hall in London und wurde ein Bestseller. Lawson dürfte also sehr gut an seinem Buch verdient haben, auch wenn keine genauen Zahlen überliefert sind. Kaum hatten die Leser das Buch aus der Hand gelegt, wollten sie schon von seinen nächsten Entdeckungen hören. Der englische Reisende war plötzlich ein gefragter Mann: Der bedeutende Forscher Sir John Lubbock (1834–1913) von der Royal Society lud ihn zu einem Vortrag ein. Auch die Royal Geographical Society und die Zoological Society seien bei ihm vorstellig geworden, ließ Lawson verkünden.

Es gibt nur ein Problem mit der ganzen Geschichte: Lawsons Reise war von vorne bis hinten erfunden. Alles reine Fiktion. Es gibt keinen Mount Hercules, keinen Lake Alexandrina, keine riesenhaften Moolah-Tiger und keine ulmenartigen Baumkolosse.

Vielen Experten war schnell klar, dass das, was Lawson da erlebt haben wollte, nicht stimmen konnte. In der »Times«, im »Geographical Magazine« und im »Athenæum«, dem Journal des gleichnamigen englischen Akademikerklubs, erschienen teils vernichtende Buchkritiken. Der Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823–1913), der in Europa die erste Schrift zu Neuguinea herausgegeben hatte und nach dem die berühmte Wallace-Linie benannt wurde, griff selbst zur Feder, um Lawsons Behauptungen mit einer Stellungnahme in der Zeitschrift »Nature« entgegenzutreten. Rein gar nichts an Lawsons Schilderungen entspreche der Wahrheit. Doch dessen Leserschaft ließ sich nicht so einfach überzeugen. So plausibel und detailliert sei alles erzählt, so hoch angesehen der Verlag. Und wäre es nicht überdies eine Tragödie, schrieb etwa der Schriftsteller Henry James (1843–1916) für das Magazin »The Nation«, wenn all diese Wunder doch nicht existieren sollten?

Mount Hercules | In »Wanderings in the Interior of New Guinea« ließ John Lawson eine kolorierte Zeichnung des Mount Hercules beifügen. Der Berg existiert allerdings nicht.

Captain Lawson trat keineswegs den Rückzug an oder lieferte eine Entschuldigung – ganz im Gegenteil: Mit Spott und Hohn teilte er gegen diejenigen aus, die ihn als Betrüger entlarvt hatten. Nicht er sei im Unrecht, sondern sie. Schließlich sei er, John Lawson, der Entdecker, der Weltreisende; seine Kritiker dagegen daheim gebliebene Besserwisser. Doch unter Lawsons Gegnern waren auch wahrhaftige Entdecker. Vorneweg Captain John Moresby (1830–1922), der Neuguinea zur selben Zeit besucht hatte, wie auch Lawson es behauptete. Kurz bevor Moresby seinen eigenen Reisebericht veröffentlichte, schrieb er einen langen Brief an das Magazin »Athenæum« und zerlegte darin eine Behauptung Lawsons nach der anderen. Doch jener blieb unbeeindruckt. All das, die großartigen Tiere und Pflanzen, die er gesehen hätte, habe Moresby eben nicht gesehen und könne sich daher auch nicht als Experte über das Inland Neuguineas äußern.

Wo ist das Moolah-Fell, Mr. Lawson?

Lawson war ein Meister darin, mit Beharrlichkeit und Spott die trockene Beweisführung seiner Gegner in Zweifel zu ziehen. Gegen Moresby trieb er es auf die Spitze: Er äußerte die Vermutung, dass es gar nicht Moresby sei, der da sein Werk verreiße, sondern jemand, der sich als Moresby ausgebe. Die Leser hatten spätestens jetzt den Überblick verloren, was Wahrheit und was Lüge war. So wurde eine seiner Schriften vor der versammelten, darwinskeptischen Anthropological Society of London vorgelesen – für Lawson ein Beweis, dass er echte Zweifel säen konnte.

Doch seine Geschichte endete jäh – zumindest zeitweise. Als der Herausgeber des »Athenæum« den englischen Möchtegernentdecker aufforderte, das Moolah-Fell vorzulegen, das er angeblich aus Neuguinea mitgebracht hatte, war von Lawson plötzlich nichts mehr zu hören. War er seiner Lügen endgültig überführt worden? Hatte er aufgegeben?

Vermutlich nicht. Vielmehr scheint es, als hätte er seine Zeit für etwas anderes genutzt. Ein Jahr später erschien ein Reisebericht über Burma, Siam und die malaiische Halbinsel, »A Narrative of Travel and Sport in Burma, Siam and the Malay Peninsula«. Autor war ein gewisser John Bradley. Gleich auf der ersten Seite eröffnete er seinen Lesern: »Es gibt, wie ich glaube, zwei Gruppen von Reisenden und Entdeckern: jene, die die Sammlung wissenschaftlicher Informationen zum Ziel haben, und jene, die ihrer Liebe zum Abenteuer und zum Kulissenwechsel frönen wollen. Ich gehöre zur letzteren Gruppe, und Länder zu durchwandern, die noch kaum ein Europäer zuvor gesehen hat, ist mir ein angeborenes Vergnügen.«

Überall Tiger, die Bradley zur Strecke bringt

Bradley hatte in Samuel Tinsley einen guten Herausgeber gefunden. Das Buch wurde ein Erfolg – denn was der Autor auf der ersten Seite verspricht, hält er auch. Der Bericht steckt voller Abenteuer: Bradley wurde von einem Tiger angegriffen, durch den Dschungel geschleift und nur durch den mutigen Einsatz seiner Begleiter gerettet. Überhaupt: Überall begegnete er den Raubkatzen. Die Länder, die er bereiste, waren regelrecht von ihnen heimgesucht. In einem Dorf hatte ein Tiger innerhalb weniger Monate 19 Menschen getötet. Bradley und seine Begleiter jagten das Untier und brachten es zur Strecke. Der Wald war ebenfalls voller Gefahren, überall wimmelte es von wilden Tieren, die dem begeisterten Jäger vor die Flinte rannten. Seine ereignisvolle Reise endete erst in Georgetown.

Kaum war das Buch erschienen, fielen einigen Lesern Ähnlichkeiten mit einem anderen Buch auf. Die »Civil Service Gazette« war wohl die erste Zeitung, die John Bradley als Captain John Lawson identifizierte. Kurze Zeit später stand es auch im »Athenæum«. Dort machte man sich sofort daran, Bradleys Buch Zeile für Zeile nach Fehlern zu durchforsten – schließlich handelte es sich bei Bradley offenbar um einen alten Gegner.

Lawsons Papua-Neuguinea | Im Süden erstreckt sich der Lake Alexandrina, nördlich davon der Mount Hercules, der 32 783 Fuß in die Höhe ragt. Umgerechnet sind das fast 10 000 Meter. Sagenhaft!

Die Rezension beginnt mit dem Ende des Buchs: Die Stadt Georgetown, die letzte Station der Reise, nenne niemand außer Bradley so. Außerhalb von offiziellen Dokumenten und Landkarten sei der Ort einzig und allein als Penang bekannt. In der indischen Armee gäbe es nur einen John Bradley – und der sei bereits 1865 in Madras als Invalide geführt. Bradleys angebliche Begleiter seien ebenfalls nicht auffindbar. Abgesehen von der fragwürdigen Identität des Autors sei das Buch zudem voller Fehler: Mond- sowie Tag-und-Nacht-Zyklus, Temperaturen, Beschreibung von Waldbewohnern, Tier- und Pflanzenwelt – alles deute darauf hin, dass Bradley nie in den Urwäldern gewesen sein könne, in denen sich seine Abenteuer abgespielt haben sollen.

Diesmal entspann sich kein öffentlicher Schlagabtausch. Denn im Gegensatz zu »Lawson« beanspruchte »Bradley« keine bahnbrechenden Entdeckungen für sich. Doch wer auch immer hinter diesen Pseudonymen steckte, er (oder sie) fing mit seiner Erzählweise die Leser ein und vermittelte ein Gefühl von Authentizität, das selbst Experten nur schwer zerstreuen konnten. Wer schrieb wie ein Entdecker, war in den Augen vieler auch ein Entdecker.

Wer war John Lawson alias John Bradley?

Die Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts – mit oder ohne wissenschaftlichen Anspruch – beruhte darauf, dass der Autor das Erlebte bezeugen konnte. Der Leser schenkte dem Berichterstatter Vertrauen. Doch die Beziehung zwischen Schreiber und Leserschaft ließ sich ausnutzen. Genau das tat John Lawson alias John Bradley. Das Resultat waren eine verärgerte Forschergemeinschaft, eine verwirrte Öffentlichkeit und ein voller Geldbeutel für Lawson. Neben dem Profit, den er mit seinen Schwindeleien erwirtschaftete, mag es ihm großen Spaß bereitet haben, die Legitimation der tatsächlichen Experten ins Wanken zu bringen. Vielleicht glaubte er seine Lügen sogar selbst? Ein dreister Fälscher, ein Soziopath – es lässt sich nur spekulieren. Wer weiß, wie lange der Provokateur und vermeintliche Abenteurer sein Spiel noch hätte treiben können. Weitere Bücher aus seiner Feder sind jedenfalls nicht bekannt oder noch nicht identifiziert.

Wer hinter Lawson und Bradley steckte, wurde nie geklärt. Seit seine Bücher erschienen waren, versuchten Bibliophile, Bibliothekare und Forscher, ihm auf die Schliche zu kommen. Viele tippten auf Robert Henry Armit – ein Lieutenant der Royal Navy, der eine Weile als Gründer der New Guinea Colonising Association in Erscheinung traten; einer Organisation, die sich die Kolonisation Neuguineas auf die Fahnen geschrieben hatte. Ähnlichkeiten im Schreibstil und Armits unbedarfter Umgang mit dem hochumstrittenen Buch Lawsons zu Werbezwecken für die Colonising Association machen ihn zu einem möglichen Kandidaten. Aber geklärt ist die Frage keineswegs. Die wahre Identität von Lawson und Bradley bleibt ein Rätsel.

Seine Gegner beim Magazin »Athenæum« nahmen seine fantastischen Erfindungen letzten Endes offenbar mit Humor. Die Besprechung zu seinem zweiten Buch endet mit den Worten: »Sollte Mr. Bradley enttäuscht sein, dass wir sein Werk nicht loben können, lässt er sich vielleicht durch unsere Beteuerung trösten, dass seine Großtaten als Schlächter wilder Tiere alles in den Schatten stellen, was wir in modernen Zeiten je gelesen haben.« Die größten Abenteuer sind zweifellos die erfundenen.

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