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James-Webb-Weltraumteleskop: Hat die NASA Beweise gegen James Webb zurückgehalten?

Das größte Weltraumteleskop soll anders heißen, fordern manche. Der Vorwurf: James Webb war homophob. Nun öffentliche E-Mails zeigen, dass die NASA über seine damaligen Handlungen mehr weiß als behauptet.
Der Ingenieur Ernie Wright beobachtet, wie die ersten sechs flugbereiten Primärspiegelsegmente des James Webb Space Telescope im Marshall Space Flight Center der NASA für die abschließenden Kryotests vorbereitet werden. (Archiv)

Traurig, enttäuscht, frustriert, wütend. So lassen sich die Reaktionen von LGBTQ+-Astronomen auf die Entscheidung der NASA zusammenfassen, das James-Webb-Weltraumteleskop (JWST) nicht umzubenennen. LGBTQ+ steht für »lesbian«, »gay«, »bi«, »trans« und »queer«, auf Deutsch also lesbisch, schwul, bisexuell, trans, queer, und beschreibt verschiedene Formen für sexuelle Orientierungen und Identitätsformen. Das Plus bezieht dabei alle weiteren Richtungen und Identitäten mit ein, die nicht direkt aufgezählt werden. Viele LGBTQ+-Personen lehnen den Namen »James Webb« für das Teleskop ab, weil es Hinweise darauf gibt, dass der ehemalige NASA-Verwalter aus der Apollo-Ära in den 1950er und 1960er Jahren an der Verfolgung von schwulen und lesbischen Angestellten im Staatsdienst beteiligt war.

Seit Anfang 2021 haben sich daher besonders vier Forschende dafür eingesetzt, dass die NASA den Namen der zehn Milliarden Dollar teuren Mission ändert. Ohne Erfolg, denn laut NASA seien die Vorwürfe nicht ausreichend belegbar. Im Dezember 2021 startete daher das nach Webb benannte Weltraumteleskop, um uns fortan einzigartige Einblicke ins Universum zu liefern. Ende März 2022 kamen nun jedoch neue Details der Namensdebatte ans Licht, weil »Nature« fast 400 Seiten E-Mail-Verkehr im Internet veröffentlichte. Die Fachzeitschrift hatte den internen schriftlichen Austausch auf Grund eines Antrags auf Informationsfreiheit erhalten (englisch: Freedom of Information Act, kurz FOIA). Die E-Mails verdeutlichen, dass die NASA hinter den Kulissen sehr wohl wusste, dass Webbs Erbe problematisch ist. Gleichwohl lehnte die Leitung der Behörde es ab, den Namen des Projekts zu ändern.

»Wenn man sich manche E-Mails durchliest, bekommt man den Eindruck, dass wir LGBTQ+-Wissenschaftler und die von uns geäußerten Bedenken nicht von Belang sind«, sagt Yao-Yuan Mao von der US-amerikanischen Rutgers University, der die so genannte »Astronomy and Astrophysics Outlist« pflegt, eine Liste mit Namen von LGBTQ+-Forschern auf dem Gebiet der Astronomie und Astrophysik, die sich auf diese Weise vernetzen und mehr Gehör verschaffen wollen.

JWST als Teil eines beunruhigenden Trends

Die geballte Inkompetenz, die dabei zur Schau gestellt worden sei, ist laut Astronom Scott Gaudi von der Ohio State University, USA, fast schon zum Lachen. Die Verantwortlichen hätten überhaupt nicht darüber nachgedacht, wie wichtig dieses Thema für die queere astronomische Gemeinschaft ist. Und wie wichtig die NASA auch für queere Heranwachsende ist, die ihren Weg noch suchen.

Als Nachfolger des berühmten Hubble-Weltraumteleskops wird der Name des James-Webb-Teleskops wahrscheinlich eines Tages Schulkindern, Eltern und Senioren gleichermaßen bekannt sein. Daher sind LGBTQ+-Astronomen der Meinung, der Namensgeber des Observatoriums sollte nicht jemand sein, der angeblich an der Erlassung homophober Vorschriften beteiligt war. Viele von ihnen sehen den Widerstand der NASA gegen die Umbenennung des JWST als Teil eines beunruhigenden Trends: Die Handlungen der Behörde stehen im Widerspruch zur erklärten Politik, Vielfalt und Inklusion innerhalb der Belegschaft zu fördern.

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Im März 2022 hatten NASA-Beamte beispielsweise große Mühe damit, das plötzliche Ende einer Initiative zu erklären, die es Mitarbeitern des Goddard Space Flight Center erleichtern sollte, in der behördeninternen Kommunikation vielfältige Pronomen zu nutzen.

Der Beratungsausschuss für Astrophysik der NASA verkündete am 30. März 2022, dass die Untersuchung der Behörde über Webbs mögliche Verwicklung in die Verfolgung von LGBTQ+ noch nicht abgeschlossen sei. In den kommenden Monaten wolle man einen Abschlussbericht vorlegen. Man suche im Moment noch nach weiteren Beweisen, die dem bisherigen Verständnis von James Webbs Rolle in dieser Sache widersprechen, sagte der amtierende Chefhistoriker der NASA, Brian Odom. Der Direktor der Abteilung Astrophysik der NASA, Paul Hertz, zeigte sich auf der gleichen Sitzung sogar ein wenig reumütig und räumte ein, dass »die Entscheidung der NASA für einige schmerzlich ist und vielen von uns falsch erscheint«.

»Die Umbenennung von JWST wäre eine einfache, aber sehr wirkungsvolle Sache – sowohl für Astronomen als auch für die breite Öffentlichkeit«Johanna Teske, Astronomin

Um ihren beschädigten Ruf bei der LGBTQ+-Gemeinde wiederherzustellen, sollte sich die Behörde nun dem wachsenden Druck beugen und den Namen Webb von ihrem Flaggschiff-Teleskop streichen, meinen einige Astronomen. Die Umbenennung von JWST wäre »eine einfache, aber sehr wirkungsvolle Sache – sowohl für Astronomen als auch für die breite Öffentlichkeit«, sagt etwa Johanna Teske, Astronomin an der Carnegie Institution for Science in Washington, D.C. »Warum sollte die NASA diese Gelegenheit nicht ergreifen und ihren Grundwerten nachkommen?«, fragt sie.

Ursprünglich hieß das Gerät Next Generation Space Telescope, also sozusagen ein Weltraumteleskop der nächsten Generation. Im Jahr 2002 wurde es aber in James Webb umgetauft; die Entscheidung traf der damalige NASA-Administrator Sean O'Keefe. Zu jener Zeit war noch wenig über Webbs Rolle in einer Phase der amerikanischen Geschichte bekannt, die als »Lavender Scare« bekannt ist. In dieser Phase Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgte regelrecht eine Art Hexenjagd auf schwule und lesbische Bundesbedienstete. Sie wurden als Risiko für die nationale Sicherheit angesehen und in der Folge überwacht, schikaniert und entlassen.

Verdächtiges Material

Bevor er der NASA vorstand, war Webb stellvertretender Leiter des US-Außenministeriums. In einer der E-Mails, die »Nature« am 3. September 2021 im Rahmen der FOIA erhalten hat, erwähnt ein Redakteur, was in Archivdokumenten stehen soll, die in einem Geschichtsbuch von 2004 beschrieben werden: Webb habe sich demnach am 22. Juni 1950 mit Präsident Truman getroffen, um zu klären, wie das Weiße Haus, das Außenministerium und das Huey-Komitee bei der Untersuchung von Homosexuellen zusammenarbeiten könnten. Zwei Jahre später wurde eine große Anzahl von LGBTQ+-Mitarbeitern aus dem Außenministerium entlassen, noch bevor Webb dort von seinem Posten zurücktrat.

Kritiker behaupten, seine Homophobie habe Webb mit zur NASA genommen. Während seiner Amtszeit als Verwalter der Behörde zwischen 1961 und 1968 – einer Zeit, in der kritische Vorbereitungen für die erste bemannte Mondlandung im Jahr 1969 stattfanden – wurde etwa ein mutmaßlich schwuler Mitarbeiter, Clifford Norton, vom Sicherheitschef der NASA stundenlang über einen sexuellen Zwischenfall ausgefragt und schließlich wegen »unmoralischen, unanständigen und schändlichen Verhaltens« entlassen. Dieser Vorfall war einer der Gründe für die Forderung nach einer Umbenennung des JWST, auf die die NASA mit einer internen Untersuchung über Webbs Mitschuld an solchen Aktionen reagierte.

Am 27. September 2021 veröffentlichte der derzeitige Administrator der Behörde, Bill Nelson, eine einseitige Erklärung, in der es hieß: »Wir haben derzeit keine Beweise gefunden, die eine Änderung des Namens des James-Webb-Weltraumteleskops rechtfertigen.« Wie aus den jetzt veröffentlichten E-Mails hervorgeht, stellte jedoch ein unbekannter Verfasser bereits im April 2021 klar: Laut Aussage des Beamten, der Norton entlassen habe, sei die Kündigung erfolgt, weil seine Berater ihm gesagt hätten, dass eine Entlassung wegen homosexuellen Verhaltens als »Brauch innerhalb der Behörde« gelte.

Noch vor Nelsons Erklärung empfahl ein in dem Dokument ebenfalls geschwärzter Autor einer E-Mail vom 3. September 2021 nachdrücklich, den Namen des Teleskops zu ändern: »Dass Webb eine führende Rolle während der ›Lavender Scare‹ spielte, lässt sich nicht bestreiten«, steht da. »Es hat den Anschein, dass die gesamte Forschungsarbeit von Anfang an durch die Tatsache beeinträchtigt wurde, dass das Ziel darin bestand, die aufkommende Kritik abzutun«, sagt Lucianne Walkowicz, eine Astronomin am Adler Planetarium in Chicago und eine der Wissenschaftlerinnen, die den Vorstoß zur Änderung des JWST-Namens anführten.

Besonders ärgert viele LGBTQ+-Astronomen eine in den E-Mails erwähnte Episode, in der NASA-Direktor Hertz nach eigenen Angaben mehr als zehn Mitglieder der Astrophysik-Gemeinschaft kontaktiert hätte. Keiner von diesen hätte sich jedoch gegen den problematischen Namen ausgesprochen. Allerdings identifizierte sich auch keine der Personen als LGBTQ+. »Ich habe über ein Jahrzehnt eng mit Paul Hertz zusammengearbeitet und betrachte ihn als Kollegen und Mentor«, sagt Gaudi. »Er kennt mich. Er weiß, dass ich schwul bin. Aber mich hat er nicht gefragt. Wieso nicht, verdammt noch mal?«

Webb – kein Hassprediger, sondern lediglich eine komplexe Figur?

Die Reaktion der NASA auf die Kontroverse verdeutlichte, dass Bundesbehörden bei der Benennung und auch Umbenennung hochkarätiger Projekte nur selten eindeutig und nachvollziehbar vorgehen. Stattdessen werden die Entscheidungen offenbar oft nach Lust und Laune von hochrangigen Beamten gefällt, ohne Rücksicht auf andere Interessen, einschließlich derjenigen der breiten Öffentlichkeit. Ende 2019 benannte die National Science Foundation zum Beispiel ihr derzeit im Bau befindliches Large Synoptic Survey Telescope zu Ehren der verstorbenen Astronomin Vera C. Rubin um, die maßgeblich an der Entdeckung der Dunklen Materie beteiligt war und sich für Frauen in der Wissenschaft einsetzte. Laut Matt Mountain, Präsident der Association of Universities for Research in Astronomy, geht diese Änderung auf einen Vorschlag des Ausschusses für Wissenschaft, Raumfahrt und Technologie des US-Repräsentantenhauses zurück und nicht auf eine große Initiative der Bevölkerung.

Das Wide-Field Infrared Survey Telescope der NASA, das sich derzeit in der Entwicklung befindet, wurde in ähnlicher Weise nach Nancy Grace Roman umbenannt, einer erfolgreichen Astronomin und der ersten weiblichen Führungskraft bei der NASA, obwohl die Behörde in diesem Fall einer formellen Richtlinie für die Vergabe von Namen für Großprojekte folgte. Die meisten Namensänderungen der NASA geschahen vor der Fertigstellung oder dem Start eines Projekts, aber es gibt auch Präzedenzfälle für Änderungen nach dem Start. Der Swift Gamma-Ray Burst Explorer wurde in Neil Gehrels Swift Observatory umbenannt, nach dem verstorbenen ehemaligen Forschungsleiter der Mission, während das National Polar-Orbiting Operational Environmental Satellite System Preparatory Project drei Monate nach seinem Start nach dem Meteorologen Verner E. Suomi umbenannt wurde.

Die Kosten für solche Namensänderungen, die die Anpassung offizieller Dokumente, Internetseiten und grafischer Gestaltungen beinhalten, sind anscheinend vernachlässigbar. Das Budget des Rubin-Observatoriums in Höhe von etwa 40 Millionen Dollar pro Jahr hat sich während der Namensänderung nicht wesentlich erhöht, sagt Mao. Das deutet darauf hin, dass solche Umbenennungen nur minimale finanzielle Risiken mit sich bringen, dafür aber einen beträchtlichen Nutzen haben könnten. »Meiner Meinung nach wertet die Namensänderung die Vera-Rubin-Wissenschaftsgemeinschaft auf«, sagt Mao etwa. Der Name inspiriere ihn nicht nur zu spannender Forschung, sondern erinnere auch daran, dass man eine Verantwortung trage, die Wissenschaft integrativer zu gestalten.

Teilweise beruht der Widerstand gegen die Änderung des JWST-Namens auf der Überzeugung, dass Webb kein Hassprediger war, sondern lediglich eine komplexe Figur – ein Mann seiner Zeit, der wie jeder Mensch Gutes und Schlechtes getan hat. »Es ist verlockend, nach Monstern zu suchen«, sagt Walkowicz. Er glaubt jedoch, dass Monster ein Mythos sind, mit dem wir uns Vorurteile und Diskriminierung erklären. Die Gesellschaft habe eine comicmäßige Vorstellung von Diskriminierung, anstatt zu erkennen, dass das Phänomen eine politische Entscheidung auf mehreren Ebenen ist, die von vielen Menschen getroffen werde, denkt Walkowicz. Auch wenn Webb Respekt gebühre, weil er in seiner Amtszeit Astronauten auf den Mond gebracht hat, so trage er dennoch die Verantwortung für die homophoben Maßnahmen seiner Verwaltung, findet Walkowicz.

Unabhängig davon, wie die NASA in Zukunft bei solchen heiklen Entscheidungen vorgehen wird, wird es Zeit und Mühe kosten, den angerichteten Schaden in der Beziehung zur LGBTQ+-Gemeinschaft wieder zu beheben: »Ich habe den Glauben verloren, und ich denke, so geht es vielen«, sagt Chanda Prescod-Weinstein, eine theoretische Kosmologin an der University of New Hampshire und eine Anführerin der Initiative zur Umbenennung des JWST. Aber Veränderungen sind immer noch möglich, sagt sie: »Als Wissenschaftler erkennen wir oft, dass wir uns geirrt haben – und dann schlagen wir einen neuen Kurs ein.«

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