Koalitionsforschung : Wer knackt den Koalitions-Code?

Herr Debus, mit welchem Forschungsinteresse blicken Sie auf die Bundestagswahl?
Aus Sicht der Koalitionsforschung ist die Wahl in vielerlei Hinsicht enorm spannend. Das Naheliegende ist: Wer zieht mit wie vielen Sitzen ins Parlament ein, und wer bildet am Ende die Regierungskoalition? Uns interessiert aber auch, wie lange es nach der Wahl dauert, bis ein Koalitionsabkommen steht. Braucht es mehrere Anläufe, wie aktuell in Österreich? Und wie sieht das Abkommen am Ende aus, wie werden die Posten unter den Koalitionsparteien verteilt? Doch auch vor der Wahl stellen sich schon Fragen: Mit welchen Positionen, die für die späteren Koalitionsfindungsprozesse wichtig sind, gehen die Parteien ins Rennen?
Hier wird es bei dieser Wahl kompliziert. Welche Rolle spielen rote Linien und Brandmauern?
Generell gilt: Je stärker Parteien abschneiden, die nicht als Koalitionspartner gewünscht werden, desto komplizierter wird es für die verbleibenden Parteien, Kompromisse und tragfähige Mehrheiten zu finden. Sehr wichtig und lehrreich war in dieser Hinsicht 2008 die Landtagswahl in Hessen. Die Vielzahl der im Vorfeld öffentlichkeitswirksam abgelehnten Koalitionen hat hier dazu geführt, dass sich nach der Wahl lange keine Mehrheit bilden konnte. Schließlich brach die SPD ihre Koalitionsaussage, nach der Wahl nicht mit der Linken zusammenarbeiten zu wollen, und verhandelte eine rot-grüne Minderheitsregierung mit der Linken als Stützpartei.

Was war die Folge?
Die Folge waren große innerparteiliche Konflikte innerhalb der SPD. Eine Hand voll SPD-Abgeordnete wollte diesen Kursschwenk nicht mittragen, und die damalige SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti konnte daher nicht zur Ministerpräsidentin gewählt werden. Es kam zu Neuwahlen, und dabei nahmen die Wählerinnen und Wähler der SPD den vorherigen Bruch ihrer Koalitionsaussage so übel, dass die Partei um 13 Prozentpunkte abstürzte und nur noch knapp 24 Prozent erreichte. Das Beispiel zeigt also klar: Die Wählerinnen und Wähler nehmen sehr deutlich wahr, was Parteien vor der Wahl versprechen, und sie belohnen es nicht, wenn ein Koalitionsversprechen nach der Wahl über den Haufen geworfen wird.
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund auf die Brandmauer unserer Tage?
Die so genannte Brandmauer gegenüber der AfD hat für die Unionsparteien die Implikation, dass sie Mehrheitskoalitionen häufiger mit Parteien links der Mitte bilden müssen, da ein Bündnis von Parteien aus dem Mitte-Rechts-Lager auf Grund der hohen Sitzanteile für die von der Koalitionsbildung ausgeschlossene AfD vielfach nicht reicht, wie die letzten Landtagswahlen und aktuelle Umfragen zeigen. Dies wiederum führt zu dem Problem, dass die Christdemokraten in Koalitionsverhandlungen auf die Parteien links der Mitte – SPD und Grüne – programmatisch zugehen müssen und der Koalitionskompromiss, beispielsweise in Fragen der Migrationspolitik, dann links der Idealposition der Union liegt. Dies kann zu Unzufriedenheit bei den Unionswählerinnen und -wählern führen und möglicherweise die AfD weiter stärken.
»In Deutschland ist Regierungsbildung eine Art Freistil-Aushandlungsprozess«
In Deutschland suchen die ins Parlament gewählten Parteien selbst nach möglichen Koalitionspartnern. In Österreich hingegen beauftragt der Bundespräsident einen von ihm bestimmten Politiker mit der Regierungsbildung. Wie wirkt sich dieser Unterschied aus?
Das ist ein zentraler institutioneller Unterschied. In Österreich gibt es mit dem – direkt vom Volk gewählten – Bundespräsidenten einen so genannten Formateur, der von außen die Regierungsbildung einleitet. In Belgien, den Niederlanden oder Luxemburg ernennt der jeweilige Monarch einen Formateur, der zunächst sondiert, welche Parteien sich auf eine Koalition für die kommende Wahlperiode einigen könnten. In Deutschland haben wir so etwas nicht, hier ist die Regierungsbildung eine Art Freistil-Aushandlungsprozess: Die Parteien machen das unter sich aus, der Bundespräsident nimmt das Geschehen nur wahr. Erst wenn eine Koalition steht, schlägt er dem Bundestag einen Kandidaten für die Kanzlerwahl vor, den der Bundestag dann mit der Koalitionsmehrheit wählt. In Österreich ernennt der Bundespräsident den Bundeskanzler ohne weitere Wahl durch das Parlament. Eine zentrale Rolle kommt dem Bundespräsidenten in Deutschland hingegen in dem Fall zu, wenn erst im dritten Wahlgang ein Kandidat mit relativer Mehrheit zum Kanzler gewählt werden würde. Dann liegt es beim Bundespräsidenten, ob er den vom Bundestag gewählten Kanzler auch ernennt oder aber den Bundestag auflöst.
Macht das deutsche System Minderheitsregierungen unwahrscheinlich?
Ja, wir kennen in Deutschland eigentlich nur den positiven Parlamentarismus, der durch eine Investiturabstimmung gekennzeichnet ist: Der Regierungschef muss von einer Mehrheit ins Amt hineingewählt werden. Minderheitsregierungen, wie wir sie etwa aus Dänemark und Schweden kennen, werden dann wahrscheinlicher, wenn eine solche Investiturabstimmung nicht vorgesehen ist, wie es im so genannten negativen Parlamentarismus der Fall ist. Dann wird ein Premierminister auf Grund der gegebenen Mehrheitssituation vom Staatsoberhaupt ernannt, und es zeigt sich erst nach der Ernennung, ob die Mehrheit für die neue Regierung im Parlament auch wirklich steht.
Aber ausgeschlossen ist eine Minderheitsregierung auf Bundesebene in Deutschland nicht?
Nein. Vielleicht kommt es ja aus der Not heraus dazu. Wenn wir nach der bevorstehenden Bundestagswahl ein Sieben- oder gar Acht-Parteien-Parlament hätten – wenn nämlich auch noch die Freien Wähler über Direktmandate einzögen –, dann müssten die Parteien möglicherweise sogar etwas Neues ausprobieren. Denn dann könnte es äußerst schwierig werden, Kompromisse zwischen drei oder vier Partnern für ein Koalitionsabkommen auszuhandeln. Die größte Hürde für eine Minderheitsregierung wäre die Kanzlerwahl, aber danach könnte sich eine Minderheitskoalition theoretisch auch in Deutschland von Fall zu Fall Unterstützung bei den Oppositionsparteien suchen.
Welche Bedeutung haben Koalitionsaussagen vor der Wahl für die spätere Regierungsbildung?
Koalitionsaussagen sind eine wichtige Variable, aber sie sind in den letzten 10 bis 15 Jahren eher selten geworden, auch vor dem Hintergrund der Erfahrung, die die Parteien 2008 in Hessen gemacht haben. Früher haben Parteien vor Bundestagswahlen sehr häufig gesagt, mit wem sie gern koalieren würden, und auch, mit welchen Parteien nicht. Das war weitgehend vorbei, erlebt aber in den letzten Wochen eine kleine Renaissance, wenn man bedenkt, dass etwa der FDP-Vorsitzende Christian Lindner Koalitionen mit den Grünen nach der jetzigen Bundestagswahl ausgeschlossen hat.
Solche Negativaussagen mehren sich: Keiner will mit der AfD regieren und auch die CSU wohl nicht mit den Grünen. Ist es sinnvoll, bestimmte Koalitionen im Vorhinein auszuschließen, weil das den Wählern Orientierung gibt, oder führen rote Linien eher zu Problemen, weil man hinterher vielleicht zurückrudern muss und dadurch Zweifel am politischen System nährt?
Rote Linien oder Brandmauern sind schon hilfreiche Indikatoren. Als Wähler bekomme ich klare Signale, was die Parteien nach der Wahl mit meiner Stimme machen oder nicht machen wollen.
Auf welcher theoretischen Grundlage arbeiten Sie als Koalitionsforscher?
Da gibt es zum einen officeorientierte Theorien. Demnach haben solche Koalitionen eine höhere Chance, gebildet zu werden, die den beteiligten Parteien jeweils einen maximalen Anteil an Kabinettsposten bescheren. Eher selten kommt es zu Surplus-Koalitionen: Dabei werden weitere Parteien an der Regierung beteiligt, die rein rechnerisch eigentlich nicht benötigt werden.
So wie aktuell in Sachsen-Anhalt mit der so genannten Deutschland-Koalition, wo CDU und SPD seit 2021 theoretisch auch ohne die FDP regieren könnten.
Das wäre so ein Beispiel. Diese Koalition ist mit einer rein officeorientierten Theorie schwer erklärbar, hier muss man noch den Kontext einbeziehen: In der CDU in Sachsen-Anhalt ging man davon aus, dass bei manchen Abstimmungen eigene innerparteiliche Abweichler einer »nur« großen Koalition Probleme bereiten könnten, denn eine Koalition aus CDU und SPD hätte lediglich eine hauchdünne Mehrheit gehabt. Daher wollte man durch den weiteren Koalitionspartner FDP einen kleinen Puffer gewinnen – auf Kosten eigener Ämter.
Surplus-Koalitionen sind aber ein Sonderfall?
In der Regel formen sich keine solchen übergroßen Koalitionen, sondern so genannte kleine Gewinnkoalitionen. Es gibt noch die Zuspitzung, wonach sich unter allen vorstellbaren kleinen Gewinnkoalitionen am Ende diejenige bildet, welche die knappste Mehrheit hat. Dies ist dann die kleinstmögliche Gewinnkoalition. Da in Koalitionsregierungen die Ämter in aller Regel proportional zur Stärke der Koalitionsparteien vergeben werden, müsste der Theorie nach also die kleinstmögliche Gewinnkoalition das wahrscheinlichste Outcome sein.
Welche Theorien gibt es noch?
Zum anderen gibt es policyorientierte Theorien. Hier geht man davon aus, dass Parteien dann miteinander koalieren, wenn sie auf zentralen Politikfeldern inhaltlich möglichst nahe beieinanderliegen – natürlich abhängig davon, wie stark sie überhaupt im Parlament vertreten sind.
Spielt die Anzahl der Partner als solche bei der Koalitionsfindung keine Rolle?
Natürlich verhandelt es sich in aller Regel leichter, wenn nur zwei statt drei Parteien am Tisch sitzen. Doch wenn diese drei Parteien programmatisch näher beieinanderliegen als zwei andere Parteien, die ebenfalls eine Mehrheit hätten, dann kann es durchaus sein, dass es mit den drei Parteien einfacher ist. Außerdem kommt es noch darauf an, wie wichtig einzelne Politikfelder für die Partner sind. Koalitionen zwischen Parteien, die auf für sie besonders wichtigen Politikfeldern sehr unterschiedliche Positionen vertreten, bilden sich weniger wahrscheinlich. Für Schwarz-Grün wäre Migration ein solches Feld: Sowohl Union als auch Grüne finden das Thema wichtig für sich – nur liegen die Positionen weit auseinander.
»Die Masse an Umfragen, die ständig veröffentlicht wird, kann durchaus als Problem wahrgenommen werden«
Leichter wird es also, wenn Koalitionäre nicht dieselben Lieblingsthemen haben.
So ist es. Wenn die programmatischen Profile der Parteien so unterschiedlich sind, dass sie sich nicht groß im Wege stehen, spricht man in der Forschung von Tangentialität. Dann kommt jede Partei auf ihrem Spielfeld zum Zug und kann eigene Akzente in der Regierungsarbeit setzen, ohne der anderen Partei massiv in die Quere zu kommen.
Ist es für Politiker hilfreich oder hinderlich, wenn sie in kurzer Taktung durch Umfragen gespiegelt bekommen, wie sie selbst oder ihre Partei gerade in der Wählergunst stehen?
Die Masse an Umfragen, die ständig veröffentlicht werden, kann durchaus als Problem wahrgenommen werden. Das hat sich zum Beispiel auch bei der Ampel-Regierung gezeigt. Die FDP wusste irgendwann, dass sie in dieser Dreierkoalition auf keinen grünen Zweig mehr kommen würde, dass es unter den eigenen Wählern massiv gärte. Und das ist letztlich der Regierung zum Verhängnis geworden. Früher waren es die Landtagswahlen, die das Regieren im Bund erschwert haben, wenn die Regierungsparteien dort schlecht abschnitten. Wenn aber heute ständig Umfragen reingespült werden, kann das zu sehr kurzfristigem Verhalten führen – sowohl in der eigentlichen Politikgestaltung als auch in der Zusammenarbeit der Menschen in der Regierung.
Ist es positiv, wenn die Phase der Koalitionsfindung möglichst kurz ist?
Es ist wünschenswert, dass sich nach der Bundestagswahl relativ rasch eine Koalition bildet, damit die neuen Politikergebnisse demokratisch legitimiert sind. Der bisher längste Regierungsbildungsprozess in Deutschland auf Bundesebene dauerte 2017/18 sechs Monate. Erst waren die Jamaika-Verhandlungen gescheitert, dann wurde mühsam Schwarz-Rot geformt. Was wäre gewesen, wenn es nach der Wahl 2021 ähnlich lange gedauert hätte? Der Angriff Russlands auf die Ukraine wäre in diese Phase gefallen. Natürlich hätte es weiterhin noch eine geschäftsführende Regierung gegeben. Aber diese Regierung hätte auf keinem aktuellen Koalitionsabkommen mehr basiert und wäre ja auch nicht mehr durch die letzte Bundestagswahl legitimiert gewesen, in der eine Mehrheit der Wähler sich für eine andere Konstellation entschieden hat. Das ist dann schon ein echtes normatives Problem.
Ist die Dauer von Koalitionsverhandlungen ein Indikator für die Stabilität der späteren Regierung?
Das ist eine sehr gute Frage. In jedem Fall spielen die gleichen Faktoren eine Rolle: Je polarisierter und inhaltlich heterogener eine Koalition in zentralen Sachfragen ist, desto größer das Risiko, dass sie zerbricht – oder dass sie früher zerbricht. Ganz ähnliche Faktoren beeinflussen auch die Dauer von Koalitionsbildungsprozessen.
Hätte man durch sorgfältige Inhaltsanalyse des Ampel-Koalitionsvertrags erkennen können, dass es mit den vollen vier Jahren schwierig werden würde?
Nicht unbedingt. Generell wurden Koalitionsabkommen im Zeitverlauf immer länger und detaillierter. Die koalierenden Parteien bauen mitunter auch Verfahrensregeln ein: Wer bekommt welche Kabinettsposten, gibt es einen Koalitionsausschuss, wer sitzt im Koalitionsausschuss, wie stimmt man im Dissensfall auf EU-Ebene ab und so weiter. Diese Passagen in Koalitionsabkommen geraten umso ausführlicher, je unterschiedlicher die Koalitionsparteien programmatisch sind und je ungleicher ihre jeweilige Sitzstärke im Parlament ist.
Das bedeutet?
Bei einer sehr großen und einer sehr kleinen Koalitionspartei, die noch dazu programmatisch sehr unterschiedlich sind, wird das Koalitionsabkommen wahrscheinlich einen differenzierten, längeren Abschnitt zu den Verfahrensregeln enthalten. Geht es hingegen um zwei inhaltlich ähnliche Parteien mit in etwa gleich vielen Sitzen im Parlament, dann wird das Abkommen im Hinblick auf die Verfahrensregeln vermutlich schlanker ausfallen. Das gilt auch für inhaltliche Fragen: Wenn zwei Koalitionsparteien zum Beispiel sehr unterschiedliche Auffassungen in außenpolitischen Fragen haben, wird der Abschnitt zur Außenpolitik im Koalitionsabkommen sehr wahrscheinlich entsprechend lang ausfallen.
»Die Wählerinnen und Wähler nehmen sehr deutlich war, was Parteien vor der Wahl versprechen«
Vergleicht man die geplatzte Jamaika-Verhandlung von 2017 mit der erfolgreichen Ampel-Verhandlung von 2021, dann verlief letztere deutlich geräuschloser und diskreter. Ist Vertraulichkeit auch ein Datenpunkt für Sie?
Das zwischenmenschliche Vertrauen zwischen den Akteuren und wie gut sie miteinander können, ist ein superspannender Aspekt, den ich für absolut relevant halte. Aber so etwas ist sehr schwer zu quantifizieren. Wir haben das gerade für 127 Regierungsbildungsprozesse in der Folge aller Landtagswahlen zwischen 1990 und 2023 untersucht. Ein interessantes Ergebnis lautet, dass der Amtsinhaberbonus die Regierungsbildung beeinflusst: Eine amtierende, gut funktionierende Koalition hat – sofern sie nach einer Wahl noch über eine Mehrheit verfügt – eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit, sich erneut zu bilden. Dieser Effekt schwächt sich jedoch ab, wenn während der Legislaturperiode ein Ministerpräsidentenwechsel stattgefunden hat. Oder anders formuliert: Wenn die zentrale Figur, der Regierungschef oder die Regierungschefin, vor einer Wahl ausgewechselt wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sich die Koalition nach der Wahl erneut bildet, auch wenn die Mehrheit noch vorhanden ist. Das könnte ein Näherungsindikator für Vertrauen – oder Vertrautheit – zwischen Akteuren innerhalb eines Kabinetts sein.
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