Kosmologie: Energie, dunkel, dringend gesucht
Im Moment guckt sich Euclid noch Europa an, aber schon bald ist der Rest des Universums dran. »Wir befinden uns in der letzten Phase des Projekts und warten darauf, dass uns die einzelnen Instrumente geliefert werden«, sagt René Laureijs von der europäischen Weltraumagentur ESA.
Die einzelnen Instrumente, das sind vor allem die Kameras, mit denen das Weltraumteleskop Euclid ins All hinausschauen soll. Sie stammen von verschiedenen europäischen Instituten, wo Forscher sie derzeit noch testen. Schon bald werden sie die Geräte nach Toulouse in Frankreich schicken. Dort bauen Ingenieure sie zum tatsächlichen Teleskop, der so genannten Nutzlast, zusammen.
Weiter geht es dann nach Lièges in Belgien, wo diese Nutzlast getestet wird. Danach nach Turin, Italien, um den Satelliten zusammenzubauen. Und wieder zurück nach Frankreich, Cannes, wo ein allerletzter Test des Gesamtkonstrukts auf dem Plan steht. »In dieser Hinsicht ist es ein wirklich europäisches Projekt«, sagt Laureijs. »Eine Art Europa-Tournee.«
Der Siegeszug der Dunklen Energie
Der Höhepunkt dieser Tournee im Jahr 2022: der Weltraum, unendliche Weiten. Von dort aus soll Euclid eine Frage beantworten, die Astrophysiker aller Art seit geraumer Zeit umtreibt: Wann ist das Universum wie schnell expandiert? Oder, sexy formuliert: Wie ist das denn nun mit der Dunklen Energie?
Was ist Dunkle Energie?
Der Begriff »Dunkle Energie« (englisch: dark energy) stammt aus den 1990er Jahren, das dahinterliegende Konzept ist aber bereits 100 Jahre alt. Es spielte eine Rolle bei der Entwicklung von Albert Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie, der bis heute vorherrschenden Theorie von Raum, Zeit und Schwerkraft. 1917 sah sich Einstein gezwungen, einen Zusatz in seine Gleichungen aufzunehmen, die kosmologische Konstante.
Einstein wollte damit den Zusammensturz des Universums verhindern. Forscher hielten es damals für ein statisches Gebilde. Doch damit müsste das All früher oder später unter seiner eigenen Schwerkraft kollabieren, folgerte Einstein – und ersann die kosmologische Konstante. Sie verkörperte einen nach außen gerichteten Gegendruck, der dem Kollaps Einhalt gebietet. Doch als in den 1920er Jahren klar wurde, dass der Kosmos nicht statisch ist, sondern expandiert, verwarf Einstein die Idee wieder. Stattdessen setzte sich das Konzept des Urknalls durch, der dem All den nötigen Schwung für die Ausdehnung mitgab.
1998 erkannten Kosmologen jedoch, dass das Universum seit rund sieben Milliarden Jahren an Geschwindigkeit zulegt; die Expansion beschleunigt sich. Erklären lässt sich das mit der Dunklen Energie, die wie eine Art Antigravitation wirkt. Während gewöhnliche Materie, Dunkle Materie und elektromagnetische Strahlung mit wachsendem Volumen ausdünnen, scheint ihre Menge in einem Kubikmeter Weltall konstant zu bleiben – so wie es auch bei Einsteins kosmologischer Konstante der Fall war.
So nennen Astrophysiker die mysteriöse Kraft, die das All nach Überzeugung vieler Experten immer schneller expandieren lässt. Aber der Reihe nach: Früher dachten Wissenschaftler, dass das Universum gar nicht expandiert. Doch dann, in den 1920er Jahren, kamen Astronomen wie der Belgier Georges Lemaitre und der US-Amerikaner Edwin Hubble. Sie erkannten, dass sich der Kosmos sehr wohl ausdehnt.
Den Rest des 20. Jahrhunderts verbrachten Kosmologen unter anderem damit, sich zu überlegen, wann und wie sich diese Ausdehnung verlangsamt haben sollte. Schließlich ist das Universum voller Materie. Ihre Anziehungskraft, so die Logik, müsste früher oder später die Oberhand gewonnen und das auseinanderstrebende Universum abgebremst haben.
Doch 1998 stießen zwei Forscherteams auf etwas völlig Unerwartetes: Die Ausdehnungsrate des Universums verlangsamt sich gar nicht. Stattdessen beschleunigt sie sich. Das Universum wird immer schneller immer größer. 2011 gab es für diese Entdeckung den Nobelpreis für Physik – wohlgemerkt, ausdrücklich für die Entdeckung der beschleunigten Expansion des Universums. Von Dunkler Energie steht dort nichts.
Dennoch hat sie mittlerweile einen festen Platz im Gedankengebäude der Physik: »Irgendwie wirkt die Dunkle Energie wie eine Anti-Schwerkraft und löst die beschleunigte Expansion des Universums aus«, sagt Nathalie Palanque-Delabrouille vom französischen Forschungszentrum CEA. Verantwortlich scheint eine sonderbare Eigenschaft der rätselhaften Energieform zu sein: Während sich Materie im Universum auf Grund der Expansion im Lauf der Zeit immer weiter ausdünnt, scheint die Dichte der Dunklen Energie konstant zu bleiben.
Epochenwechsel vor sieben Milliarden Jahren
Ein Kubikzentimeter Weltall müsste demnach also immer gleich viel des Stoffs enthalten. Damit gewann die Dunkle Energie mit der Zeit langsam, aber sicher die Oberhand über die Materie: Nahm die Expansionsgeschwindigkeit nach dem Urknall wegen der dicht geballten Materie zunächst ab, trat die Dunkle Energie mit der Zeit immer deutlicher hervor. Schätzungen zufolge erreichte das All vor etwa sieben Milliarden Jahren einen Wendepunkt – und strebt seitdem immer schneller auseinander.
Diese unter Kosmologen weit verbreitete Sichtweise verrät einem allerdings nur, wie die Dunkle Energie wirkt – und nicht, was sie ist. Da Wissenschaftler das wirklich gerne ändern würden, planen sie für die kommenden Jahre mehrere neue Experimente und Teleskope. Sie sollen die Expansionsgeschichte des Universums gründlicher rekonstruieren als je zuvor und können so vielleicht das Wesen der Dunklen Energie ergründen.
»Wir wollen ergründen, wann die Dunkle Energie wirklich anfängt, eine Rolle zu spielen«
René Laureijs, ESA
Was diese neuen Projekte angeht, hat Nathalie Palanque-Delabrouille einen kleinen Vorsprung gegenüber René Laurejis. Während Letzterer noch auf den Start des Weltraumteleskops Euclid wartet, ist das Instrument, an dem Palanque-Delabrouille mitarbeitet, bereits an Ort und Stelle. Das »Dark Energy Spectroscopic Instrument«, kurz DESI, ist schon seit 2019 am Mayall-4-Meter-Teleskop im US-amerikanischen Bundesstaat Arizona installiert. Im Lauf des Jahres 2020 soll es offiziell in Betrieb gehen.
Mit dem Instrument können die Forscher Licht aller Art in seine Einzelteile zerlegen. So können die Astronomen die Rotverschiebung von fernen Himmelsobjekten ermitteln. Sie gibt Aufschluss darüber, wie lange das Licht unterwegs war beziehungsweise wie stark es vom expandieren All gestreckt wurde. Konkret wollen die DESI-Forscher 35 Millionen Galaxien beobachten, fünf Jahre haben sie dafür Zeit.
Der Fokus von DESI liegt dabei darauf, in einem ausgewählten Himmelsausschnitt sukzessive in die Vergangenheit zu blicken. Je stärker die Rotverschiebung, desto älter eine Galaxie. Das Universum wird so in zeitliche Zwiebelschalen unterteilt, eine älter als die andere.
Die Struktur des Alls – gestern und heute
Palanque-Delabrouille und ihre Kollegen wollen dabei die großräumigen Strukturen der Galaxien zu verschiedenen Zeitpunkten in der Vergangenheit des Universums rekonstruieren, also die Verteilung der Galaxien in hellen Haufen, dünne Filamenten und die großen Leerräumen dazwischen. Die Saat für diese Struktur wurde bereits kurz nach dem Urknall gesät, als das Universum noch so dicht war, dass sich darin Schallwellen ausbreiten konnten und einige Regionen massereicher machten als andere.
Diese Keime führten im damals noch winzigen Universum dazu, dass sich dort bevorzugt Galaxien ansiedelten. Wichtig ist dabei der Abstand zwischen zwei Maxima der damaligen Dichteschwankungen. Ihn können Forscher aus dem kosmischen Mikrowellenhintergrund herauslesen, quasi ein Babybild des Universums, als es 380 000 Jahre alt war, hochgenau vermessen vom Weltraumteleskop Planck der ESA.
Seit diesem Zeitpunkt ist das All stark gewachsen – und damit auch der Abstand zwischen benachbarten Materiezentren. »Heutzutage beträgt die bevorzugte Distanz zwischen solchen Strukturen rund 450 Millionen Lichtjahre«, sagt Palanque-Delabrouille. Dieses Wissen ermöglicht Forschern eine Rekonstruktion der kosmischen Expansion: Indem sie ähnliche Bilder zu verschiedenen Zeitpunkten aufnehmen und die bevorzugten Distanzen zwischen Materieansammlungen vermessen, können sie darauf schließen, wie schnell sich das Universum in jenen Zeiträumen ausgedehnt hat. BAO, kurz für baryonische akustische Oszillationen, heißt diese Methode.
Die Ausdehnungsrate des Universums kann für einen gegebenen Zeitraum mit dem so genannten Hubble-Parameter angegeben werden. Oft liest man auch von der Hubble-Konstante, was allerdings nicht ganz richtig ist: Sie bezeichnet lediglich die Ausdehnungsrate zum heutigen Zeitpunkt, 13,8 Milliarden Jahre nach dem Urknall. Seit dem Anfang allen Seins hat sich die Ausdehnungsrate – beziehungsweise der Hubble-Parameter – jedoch deutlich verändert. Mit der BAO-Methode wollen Forscher den Hubble-Parameter zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte des Universums messen. Trägt man diese Werte dann auf einer Zeitlinie auf, kann man die Expansionsgeschichte des Universums nachvollziehen.
Derartige Untersuchungen sind eines der Standardwerkzeuge der Kosmologie. Aber noch nie wurden sie so systematisch durchgeführt, wie es die Forscher im Rahmen des DESI-Projekts planen. »Wir wollen nicht nur einen Wert für den Hubble-Parameter vermessen, sondern viele Punkte. Und jeder dieser Punkte wird präziser sein als alle Werte, die wir heute zur Verfügung haben«, sagt Palanque-Delabrouille. Besonders interessieren sich die Forscher dabei für den Zeitpunkt vor rund sieben Milliarden Jahren, als die Dunkle Energie die Oberhand gewann: Hat sich das wirklich so zugetragen, wie es sich die Kosmologen derzeit vorstellen? »Das wird wirklich aufregend«, sagt Palanque-Delabrouille.
Aufregend wird es in diesem Jahr auch am Vera C. Rubin Observatory in Chile, das bis 2019 noch Large Synoptic Survey Telescope (LSST) hieß. Das 8,4-Meter-Teleskop steht auf einem 2600 Meter hohen Berg in Nordchile und soll im Lauf des Jahres 2020 seinen Dienst aufnehmen. Im Gegensatz zu DESI liegt der Fokus hier darauf, eine komplette Durchmusterung des Südhimmels durchzuführen. Dafür wird das Teleskop zwar weniger tief in die Vergangenheit blicken können, dafür aber einen riesigen Himmelsausschnitt in verschiedenen Wellenlängen beobachten.
Neben großräumigen Strukturen wollen die Astronomen auf diesem Weg etwas sichtbar machen, das man per Definition nicht sehen kann: die Dunkle Materie. Der Name klingt ähnlich wie die Dunkle Energie, gemeinsam ist beiden jedoch nur, dass Forscher nicht wissen, um was es sich dabei handelt. Im Gegensatz zur Dunklen Energie scheint sich die Dunkle Materie weitgehend brav an die bekannten Naturgesetze zu halten, zumindest unterliegt sie offenbar den Gesetzen der Schwerkraft.
So sorgt die Dunkle Materie wohl unter anderem dafür, dass Galaxien wie die unsrige nicht auseinanderfliegen. Und weil sie anziehend wirkt, können Forscher ihre Verteilung im Universum recht genau kartieren, indem sie beobachten, wie das Licht von dahinterliegenden, leuchtenden Objekten von ihr abgelenkt und verzerrt wird. Forscher sprechen vom »schwachen Gravitationslinseneffekt«.
Starlink sorgt für Probleme
Über die unterschiedliche Verteilung der Dunklen Materie über die Jahrmilliarden unseres Universums erhoffen sich die Astronomen am Vera C. Rubin Observatory weitere Einblicke, wie unser Universum genau expandiert ist. Wenn das Teleskop denn so beobachten kann, wie es sich die Verantwortlichen vorstellen: Das Observatorium könnte besonders stark von Satelliten-Megakonstellationen wie dem Starlink-Projekt von SpaceX betroffen sein.
Derartige Probleme wird Euclid nicht haben. Es soll rund 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt im All schweben, am Lagrange-Punkt L2. Dort wird es völlig ungestört von irdischen Aktivitäten rund ein Drittel der Hemisphäre beobachten können. Die Forscher wollen dieses Drittel in zehn bis zwölf Schalen unterschiedlichen Alters einteilen und dafür die Verteilung der Galaxien berechnen. Dank des schwachen Gravitationslinseneffekts und der BAO-Technik könnte das auch dabei helfen, die Dunkle Energie besser zu verstehen. »Wir wollen ebenfalls ergründen, wann die Dunkle Energie wirklich anfängt, eine Rolle zu spielen«, sagt René Laureijs.
Gerne würden die Forscher auch etwas zu einer Debatte beitragen, die derzeit die Gemüter vieler Kosmologen erhitzt. Bei ihr geht es um die bereits erwähnte Hubble-Konstante, also die heutige Ausdehnungsrate des Universums. Diese beträgt derzeit rund 70 Kilometer pro Sekunde pro Megaparsec (etwa 3,26 Millionen Lichtjahre), ist also eine Geschwindigkeit geteilt durch eine Entfernung. Der Knackpunkt ist das »rund«: Je nach Messmethode liegt der genaue Wert mal bei 66 und mal bei etwa 74.
Doch leider können vermutlich weder Euclid noch DESI noch das Rubin Observatory etwas zur Auflösung des Streits beitragen, da sie lediglich frühere Werte des Hubble-Parameters ermitteln. »Mit DESI vergleichen wir die Werte der Vergangenheit mit den heutigen sowie dem Mikrowellenhintergrund. Wir messen nicht den heutigen Wert«, sagt etwa Nathalie Palanque-Delabrouille.
Ein weiterer Newcomer dürfte dagegen Fortschritte in der Frage bringen: das NASA-Teleskop WFIRST. Ab 2025 könnte es dem Weltraumteleskop Euclid am Lagrange-Punkt L2 Gesellschaft leisten. »Mit Euclid haben wir die Methoden des BAO und des schwachen Gravitationslinseneffekts gemeinsam«, erzählt Jason Rhodes von der NASA. Tatsächlich überlegen sich NASA und ESA bereits jetzt schon, wie sich die beiden Missionen gut ergänzen lassen. Gleichzeitig ist es wiederholt in die Schusslinie der Politik geraten; ob und wann WFIRST am Ende wirklich Realität wird, ist daher noch offen.
Sollte es wirklich starten, wird WFIRST auch Ausschau nach Supernovae halten. Sie sind jene Himmelsobjekte aus dem näheren Universum, die den Stein um die beschleunigte Expansion des Universums überhaupt erst ins Rollen gebracht haben: Die Entdecker der beschleunigten Expansion hatten einen besonderen Typ der Sternexplosionen genutzt, um das Weltall genauer zu kartieren, als es bis dahin möglich war. »Mit Hilfe von WFIRST können wir diese Methode fast bis zu zehn Milliarden Jahre in die Vergangenheit hinein benutzen, nicht nur im lokalen Universum«, sagt Rhodes.
Und damit pirscht sich auch diese Methode an den Zeitpunkt an, der alle Forscher auf der Jagd nach der Dunklen Energie interessiert: den Übergang von einem Universum, in dem die Dunkle Energie wenig bis gar keine Rolle spielte, hin zu einem, in dem sie für eine beschleunigte Ausdehnung sorgte.
Auch im Jahr 2020 – in dem sich die ESA noch überlegt, mit welcher Rakete sie das Weltraumteleskop Euclid gen Himmel schießen will, in dem DESI und die LSST wirklich loslegen werden, in dem sich die Forscher der NASA über das grüne Licht für WFIRST freuen – dehnt sich das Universum aus. Immer schneller, immer schneller, bis irgendwann sein Materiegehalt sich null annähert und wirklich gähnende Leere herrscht. Es ist ein guter Zeitpunkt, herauszufinden, warum das so ist – und wann es angefangen hat.
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