Marines Geoengineering: Eine alkalische Lösung für den Klimawandel
An einem sonnigen Tag im Februar steht ein Mann auf einer schwimmenden Plattform an der Uferlinie der Kieler Förde. Er trägt grellgrüne Regenkleidung und gelbe Gummistiefel und schaut gedankenverloren in die Ferne. Das alternde Holz unter seinen Füßen ist von grünen Algen überzogen, in den Ritzen zwischen den Bohlen kleben Miesmuscheln, Möwen ziehen kreischend Kreise über seinem Kopf. Plötzlich beginnt der Untergrund bedrohlich zu schaukeln. Während der Mann Halt an einem umlaufenden Seil sucht, fällt sein Blick auf ein großes Schiff, das in den Kieler Hafen einläuft und die Wasseroberfläche gewaltig durcheinanderwirbelt. »Das ist einer der Gründe, warum wir dringend negative Emissionen brauchen«, sagt er und zeigt auf die dicke, schwarze Rauchwolke, die die Fähre hinter sich herzieht. »Viele solche Schiffe werden auch in 30 Jahren noch mit Schweröl fahren – da bin ich mir sicher.«
Der Mann heißt Kai Schulz und ist Meeres-Biogeochemiker an der australischen Southern Cross University. Zusammen mit seinem Kollegen Ulf Riebesell, Leiter der Forschungseinheit Biologische Ozeanographie am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, koordiniert er ein großes Experiment am Westufer der Förde. Insgesamt sind 36 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Forschungseinrichtungen in Deutschland, Europa, den USA, Kanada, Australien und Asien an dem Projekt »Ocean Alk-Align« beteiligt. Sie alle eint die Hoffnung, das Meer als Verbündeten im Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel zu gewinnen.
Denn reichert man das Meerwasser mit bestimmten Mineralen an und erhöht somit den pH-Wert, steigt dessen natürliche Fähigkeit, Kohlendioxid (CO2) aus der Atmosphäre aufzunehmen. Das zumindest folgt aus biogeochemischen Überlegungen. Noch ist allerdings nicht klar, welche Auswirkungen das auf die komplexen Lebensgemeinschaften im Meer hat.
Unter Philanthropen, Regierungsvertretern und Firmen, die sich mit technologischen Lösungen für den Klimawandel beschäftigen, sorgt die relativ simple chemische Reaktion bereits jetzt für eine regelrechte Goldgräberstimmung. Sollte sich herausstellen, dass die Risiken der so genannten Ozeanalkalinitätserhöhung (OAE) vernachlässigbar klein sind, ließe sich mit Emissionszertifikaten viel Geld verdienen. Dieses marktbasierte Instrument der Umweltpolitik soll dabei helfen, die weltweite Erwärmung zu begrenzen, indem anfallende Treibhausgasemissionen kompensiert werden. Es wird geschätzt, dass der globale Emissionshandel bis zur Mitte des nächsten Jahrzehnts ein Volumen von einer Billion Euro erreichen könnte. Erst im Sommer 2023 hat der frühere Chief Technology Officer des Konzerns Meta, Mike Schroepfer, 50 Millionen US-Dollar in die gemeinnützige »Carbon to Sea«-Initiative investiert. Deren Gründer möchten evaluieren, ob OAE eine sichere, skalierbare und dauerhafte Methode sein könnte, Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entfernen.
Das wollen auch die Forscherinnen und Forscher in Kiel herausfinden. Dort laufen die Vorbereitungen für den Start des Experiments auf Hochtouren. Bei kühlen fünf Grad Celsius Außentemperatur wuselt etwa ein Dutzend Menschen in roten Schwimmwesten und wetterfester Kleidung auf der Forschungsstation umher. Zwei Taucher treiben daneben im nicht minder kalten Wasser. Ihr aller Interesse gilt zwölf großen, runden Behältern aus transparentem Kunststoff, die nach und nach sicher an der Plattform verankert werden. Zu sehen sind jedoch lediglich die zwei Meter breiten Öffnungen der nach unten hin vier Meter langen Plastikschläuche. Wie riesige Mäuler öffnen sie sich zum Ufer hin. Die überdimensionierten Reagenzgläser, auch Mesokosmen genannt, sollen am nächsten Tag mit je 8000 Litern Fördewasser gefüllt werden – samt den natürlich darin enthaltenen Organismen.
Weltmeere rücken zunehmend in den Fokus
Wenn Kai Schulz von »dringend nötigen negativen Emissionen« spricht, dann meint er, dass mehr Kohlendioxid aus der Atmosphäre entfernt und langfristig gebunden werden muss, als wir Menschen mit Industrieprozessen, Verkehr und Landwirtschaft erzeugen. Das ist wichtig, um die globale Erwärmung auf weniger als 2 Grad – oder besser noch auf unter 1,5 Grad – im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen, wie es die Pariser Klimaziele von 2015 festlegen.
Auf politischer Ebene wurde schon viel darüber diskutiert, mehr Bäume für den Klimaschutz zu pflanzen. Allerdings kann der dabei aufgenommene Kohlenstoff durch Waldbrände oder großflächige Rodung wieder freigesetzt werden. Andere Entnahmeverfahren fokussieren sich auf technische Anlagen, die wie riesige Staubsauger CO2 aus der Luft ziehen, das anschließend in den Boden gepresst wird. Die Methode nennt sich Carbon Capture and Storage, kurz CCS. Noch benötigen solche Anlagen jedoch sehr viel Energie. Der Aufwand rechtfertigt den Nutzen kaum. Experten und Expertinnen sind sich mittlerweile jedoch einig: Ohne zusätzliche technologische Anstrengungen geht es nicht. Selbst wenn die ganze Welt sofort ihre Treibhausgasemissionen nachhaltig und effektiv senken würde, ist das 1,5-Grad-Ziel bereits recht sicher außer Reichweite.
Deshalb rücken zunehmend die Weltmeere in den Fokus der Forscherinnen und Forscher. Sie sind schon ohne unser Zutun der zweitgrößte Kohlenstoffspeicher unseres Planeten – mehr steckt nur in der Gesteinshülle der Erde. Der Ozean enthält etwa 40 000 Milliarden Tonnen Kohlenstoff, wobei der größte Teil davon im Meerwasser gelöst ist. Mit diesem Kohlenstoffreservoir übertrifft er den Kohlenstoffgehalt der Atmosphäre um das 50-Fache. Beide Systeme stehen in einem steten Austausch. Das kann man sich in etwa vorstellen wie einen Wassersprudler. Weil die CO2-Konzentration in der Atmosphäre und damit der Gasdruck durch die vom Menschen verursachten Emissionen steigt, absorbiert auch der Ozean mehr Kohlendioxid. In den zurückliegenden Jahrzehnten haben alle Meere zusammen etwa 25 Prozent der menschengemachten CO2-Emissionen aus der Atmosphäre aufgenommen und die Erderwärmung maßgeblich gebremst.
Das geht so: Sobald sich Kohlendioxid im Meerwasser löst, durchläuft ein Großteil des Gases eine Abfolge chemischer Reaktionen. Dabei werden die Moleküle in Form von Hydrogenkarbonaten und Karbonaten chemisch im Meerwasser gebunden. Allerdings werden im Zuge dieser Reaktionskette auch einzelne Protonen frei, das heißt positiv geladene Wasserstoffionen. Dadurch sinkt der pH-Wert, der Ozean versauert. In welchem Umfang sie freigesetzt werden, hängt vom Säurebindungsvermögen des Wassers ab – dem so genannten Alkalinitätsgrad. Dieser wiederum wird in erster Linie durch die Menge säurebindender Bestandteile mineralischer Herkunft bestimmt, die im Lauf vieler Jahrmillionen aus verwittertem Gestein an Land gelöst und vom Regen- und Grundwasser über Bäche und Flüsse ins Meer eingetragen wurden.
Diesen Verwitterungsprozess wollen die Kieler Forscherinnen und Forscher nun künstlich beschleunigen und den pH-Wert des Meeres erhöhen, damit es mehr CO2 aufnimmt. Derzeit kommen verschiedene Materialien dafür in Betracht. Natürlich vorkommende Minerale wie Kalkstein und Kreide oder silikathaltige Gesteine wie Basalte und Olivin könnten an Land abgebaut, fein zermahlen und anschließend an Stränden oder direkt auf dem Meer verteilt werden. Auch böten sich kalzium- oder magnesiumreiche Reststoffe oder Abfallprodukte aus der Zementherstellung an, etwa Branntkalk (Kalziumoxid), Löschkalk (Kalziumhydroxid), Periklas (Magnesiumoxid), Brucit (Magnesiumhydroxid) sowie Natriumhydroxid. Allerdings variiert die Löslichkeit der Materialien im Meerwasser, ebenso wie der Energieaufwand, um diese Stoffe herzustellen oder abzubauen. Während sich Natriumhydroxid sehr gut in Wasser löst, jedoch aufwändig industriell hergestellt werden muss, kommt Magnesiumhydroxid als Brucit zwar natürlich vor, löst sich dagegen aber deutlich schlechter.
»Es zeigt sich mehr und mehr, dass Maßnahmen an Land nicht den erhofften Effekt bringen. Wir sollten die Weltmeere nicht länger ignorieren, wenn man bedenkt, in welcher Situation wir uns befinden«Greg Rau, Biogeochemiker
Was Kai Schulz mit seinem Team heute in der Kieler Ostsee praktisch erforscht, hat der US-amerikanische Biogeochemiker Greg Rau bereits vor 25 Jahren theoretisch untersucht. Er war einer der ersten Wissenschaftler, die sich mit der Idee der Ozeanalkalinisierung beschäftigt haben. Rau glaubt, dass es eine der derzeit vielversprechendsten Methoden ist, um negative Emissionen zu erreichen. »Es zeigt sich mehr und mehr, dass Maßnahmen an Land nicht den erhofften Effekt bringen. Wir sollten die Weltmeere nicht länger ignorieren, wenn man bedenkt, in welcher Situation wir uns befinden«, sagt er im Videotelefonat. Mehr als 35 Jahre lang erforschte Rau die marine Kohlenstoff-Biogeochemie an der University of California in Santa Cruz. Im August 2019 gründete er schließlich zusammen mit den Umweltingenieuren Mike Kelland und Brock Battochio das Start-up »Planetary Technologies«, um die Theorie in die Praxis umzusetzen. Auf ihrer Website werben sie dafür, mit Methoden der OAE »den Ozean heilen und das Klima wiederherstellen« zu wollen.
Schon im Oktober 2023 leiteten sie erstmals 280 Tonnen Brucit in den Hafen der kanadischen Stadt Halifax ein. Ziehe man die Emissionen ab, die durch den Abbau des Minerals in China und den Transport nach Kanada entstanden sind, so lautet die Überschlagsrechnung von Greg Rau, seien damit etwa 100 Tonnen CO2 aus der Atmosphäre gezogen worden. Das allerdings ist nur eine sehr grobe erste Schätzung. Für genauere Angaben sind die Strömungen im Meer und andere Einflüsse aktuell noch viel zu schlecht vorhersagbar. Weitere Experimente und Modellierungsstudien sollen dabei helfen, die Netto-CO2-Reduktion künftig deutlich besser vorherzusagen. »Die Technologie könnte ein echter Gamechanger sein«, sagt Rau. »Wir versuchen, die Prozesse nachzuahmen, die in der Natur ohnehin ablaufen – und beschleunigen sie zusätzlich.«
Doch lässt sich das Prinzip wirklich mit vertretbarem Energieaufwand und geringem Risiko für das marine Ökosystem umsetzen? Falls ja, würde man einerseits der zunehmenden Versauerung entgegenwirken und andererseits die Kohlenstoffaufnahme verstärken. Werden also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen?
Kleine Veränderungen können große Auswirkungen haben
Kai Schulz ist da noch etwas skeptischer als Greg Rau. »Die chemischen Prozesse sind gut verstanden«, sagt er, »aber die biologischen Auswirkungen sind noch völlig ungewiss.« So könne es zunächst unbedeutend erscheinen, den pH-Wert lokal um ein paar Nachkommastellen zu erhöhen – sich dann allerdings doch auf großen Skalen gravierend bemerkbar machen. Verschiebt sich etwa die Blüte einer Alge geringfügig zeitlich nach vorne oder hinten, kann das Folgen für das gesamte Nahrungsnetz im Ozean haben. Steht zu einem Zeitpunkt weniger oder mehr Nahrung zur Verfügung als üblich, droht das Gleichgewicht zu kippen.
In früheren Experimenten hatten die GEOMAR-Wissenschaftler bereits herausgefunden, dass die Kalk bildende, einzellige Alge Gephyrocapsa huxleyi in einer zu sauren Umgebung langsamer wächst und so ihre Konkurrenzfähigkeit verliert. Ist die Algenpopulation zu klein, stört das den Transport von organischem Material in die Tiefe des Ozeans, da die Kalkplättchen der Alge als Ballast dienen. Im Ozean sinkt ständig organisches Material auf den Meeresboden hinab, wo es von zahlreichen Kleinstlebewesen zersetzt wird. »Ohne das Kalkgewicht sinken die Partikel langsamer, und Bakterien haben mehr Zeit, das organische Material in oberen Wasserschichten zu verarbeiten«, erklärt Schulz, der an der Studie mitgewirkt hat. So bleibt mehr CO2, das in dem organischen Material gebunden ist, an der Oberfläche. Umgekehrt könnte aber auch ein zu hoher pH-Wert manchen Organismen zu schaffen machen, vermuten Fachleute. Sie suchen nach genau solchen Zusammenhängen.
Mit dem Experiment in der Förde möchte das Forschungsteam untersuchen, wie die Planktongemeinschaft auf die Alkalinitätserhöhung reagiert. Plankton, das heißt die Gesamtheit aller aquatischen Kleinstlebewesen, ist ein wichtiger Indikator für den Zustand eines Gewässers, da es sehr sensibel auf Veränderungen reagiert. Zudem spielen die Organismen eine Schlüsselrolle im Nahrungsnetz; sie bilden die Lebensgrundlage für viele höhere Tiere. Vielleicht zeichnet sich eine Art Schwellenwert ab, bis zu dem sich die Organismen unbeeindruckt zeigen – das wäre eine gute Nachricht für die Befürworter der OAE. Vorab-Experimente vor der Insel Helgoland im Jahr 2023 hatten bereits nahegelegt, dass stark erhöhte pH-Werte die Algenblüte verschieben und zu einem Ungleichgewicht zwischen Zoo- und Phytoplankton führen könnten. Das könnte letztlich weitere, derzeit noch unbekannte, möglicherweise unwiderrufliche Folgen haben – ähnlich einem Dominoeffekt.
Wasser marsch!
Am Tag nach der Installation der Mesokosmen durchbricht in aller Frühe das laute Stampfen und Dröhnen einer Pumpe die Idylle an der Kieler Uferlinie. Über ein spezielles Schlauchsystem werden die riesigen Plastikschlunde gleichmäßig mit dem Wasser aus der Förde befüllt. »Stopp!«, ruft GEOMAR-Mitarbeiter Carsten Spisla in Richtung Pumpensteuerung. Einer der zwölf Trichter sprudelt über; der zugehörige Schlauch hat einen Knick, der den Wasserdurchfluss hemmt. Um die Effekte später vergleichen zu können, müssen alle zwölf Behältnisse in etwa die gleiche Menge Wasser und eine möglichst ähnliche Planktonzusammensetzung enthalten. Über den Ansaugstutzen der Pumpe ist ein Netz mit drei Millimetern Maschenweite gespannt. Es hindert größere Organismen wie Fische oder Quallen daran, in die Mesokosmen zu gelangen.
Nach zwölf Stunden Pumpzeit sind die Mesokosmen schließlich voll. Eine Taucherin befestigt noch je ein Gewicht von unten an allen Plastikschläuchen. Wegen natürlicher Dichteschwankungen des umgebenden Ostseewassers könnte es sonst passieren, dass sie unerwartet starken Auftrieb haben. Die Organismen darin sind zwar in Bezug auf Temperatur und Licht denselben Bedingungen ausgesetzt wie die in der Förde; ein Wasseraustausch erfolgt jedoch nicht, und damit keine Anpassung des wetterbedingten Salzgehalts. Zudem soll sich im unteren Bereich des Schlauchs, in der so genannten Sedimentfalle, herabsinkende Biomasse sammeln, die dann während des Experiments regelmäßig abgezapft und im Labor untersucht wird. Auch feste Partikel, die nicht in Lösung gegangen sind oder wieder ausgefällt wurden, häufen sich dort an. Daran lässt sich ablesen, wie gut löslich die verschiedenen Mineralzugaben sind.
Das Experiment wird im ersten Untersuchungszeitraum knapp zwei Monate laufen und während des Jahres 2024 insgesamt dreimal stattfinden, da die Zusammensetzung der Planktongemeinschaft über das Jahr schwankt. Es ist der bislang größte Versuch dieser Art in Deutschland; und noch in keiner anderen Gegend der Welt wurden die kleinskaligen Effekte der Alkalinitätserhöhung so systematisch und umfassend getestet. Auf die gesamte Methode bezogen ist es jedoch nur ein Aspekt von vielen. Eine Arbeitsgruppe an der Dalhousie University im kanadischen Halifax etwa – dort, wo Planetary Technologies tonnenweise Brucit ausgebracht hatte – konzentriert sich darauf, die Verteilung des alkalischen Materials im offenen Ozean zu verstehen und anschließend am Computer zu simulieren. So wollen die Forscherinnen und Forscher besser vorhersagen können, wie viel zusätzliches CO2 im Meer gebunden wird.
Idealismus und Klimawandelbewusstsein allein können aber die Forschung zur Alkalinitätserhöhung nicht vorantreiben. Sie muss auch finanziert werden. Das »Ocean Alk-Align«-Projekt wird von der »Carbon to Sea«-Initiative mit insgesamt elf Millionen US-Dollar gefördert. Das entspricht umgerechnet rund zehn Millionen Euro. Neben dem Kieler GEOMAR sind daran die kanadische Dalhousie University, die australische Southern Cross University und die University of Tasmania sowie die Universität Hamburg beteiligt. Die Initiative fördert außerdem zahlreiche, insbesondere nordamerikanische Start-ups.
Mit diesem Geld möchte Ulf Riebesell sein Lebenswerk vollenden. Riebesell, seit 20 Jahren Professor für Biologische Ozeanographie am GEOMAR, ist Leibniz-Preisträger und war Koordinator des deutschen Forschungsverbunds zur Ozeanversauerung. Seit 2015 beschäftigt er sich mit der Frage, wie der Ozean zum Klimaretter werden könnte. »Ich war frustriert von den Ergebnissen der Weltklimakonferenzen«, erzählt der 64-Jährige, während er durch die schwach beleuchteten Gänge des marode wirkenden ehemaligen GEOMAR-Gebäudes am Westufer der Kieler Förde läuft. »Ich habe immer gewarnt, dass der Klimawandel massive Auswirkungen auf den Ozean hat, aber es hat sich nie etwas bewegt, und auch jetzt scheint die Erkenntnis zu vielen Politikern erst langsam durchzusickern.« Er habe dann beschlossen, den Rest seiner wissenschaftlichen Karriere an Lösungen zu arbeiten.
Dieser Rest könnte nun kürzer ausfallen als gedacht. Während einer Forschungsmission in Norwegen im Jahr 2022 zeigte Riebesell plötzlich neurologische Ausfallerscheinungen – das Sprechen fiel ihm schwerer, und ihm rutschten aus unerklärlichen Gründen Dinge aus der Hand. Nach einer längeren Untersuchungsodyssee dann die Diagnose: ALS, amyotrophe Lateralsklerose, eine unheilbare Erkrankung des für die Motorik zuständigen Nervensystems. Mit fortschreitendem Verlauf kommt es bei Betroffenen zunehmend zu Muskelschwund und Lähmungserscheinungen. Ein prominenter ALS-Patient war der Astrophysiker Stephen Hawking. Auch deshalb liegt ein Großteil der Versuchskoordination nun in den Händen seines Kollegen Kai Schulz.
Weitere Methoden für marines Geoengineering
Neben der Ozeanalkalinitätserhöhung gibt es noch etliche weitere Ideen, wie man den Ozean dazu bringen könnte, mehr CO2 zu speichern, als natürlicherweise gebunden wird. Die relevantesten sind:
Ozeandüngung
Bei der Ozeandüngung handelt es sich um einen der frühesten Vorschläge zum marinen Geoengineering. Indem man dem Ozean Eisen oder andere Nährstoffe zuführt, soll das Wachstum von mikroskopisch kleinen marinen Pflanzen angeregt werden. Diese nutzen im Wasser gelöstes Kohlendioxid, um zu wachsen. Durch die Düngung verbrauchen sie mehr CO2 und entziehen es der Atmosphäre – so jedenfalls die Theorie. Die US-amerikanische Akademie der Wissenschaften (NAS) bescheinigt der Methode in einem im Jahr 2022 erschienenen Bericht ein mittleres bis hohes Wirkungspotenzial bei geringen Kosten.
Künstlicher Auftrieb
Etwa die Hälfte der weltweiten Fotosytheseleistung geht auf pflanzliches Plankton im Meer zurück. Ein Teil der Kleinstalgen sinkt natürlicherweise in die Tiefe und transportiert so den an der Oberfläche aufgenommenen Kohlenstoff zum Meeresboden. In manchen Gegenden ist das Meerwasser jedoch weniger nährstoffreich und das Wachstum des Phytoplanktons eingeschränkt. Würde man nährstoffreiches Tiefenwasser nach oben pumpen, hätte das eine düngende Wirkung und könnte die Fotosyntheseleistung erhöhen. Allerdings ist das sehr aufwändig. Der NAS-Bericht attestiert der Methode ein niedriges Wirkungspotenzial bei mittleren bis hohen Kosten.
Blue Carbon Management
Vegetationsreiche Küstenökosysteme wie Salzmarschen, Seegraswiesen, Mangroven- und Tangwälder sind riesige Kohlenstoffspeicher. Doch ihre Flächen schrumpfen weltweit. Gründe dafür sind der menschengemachte Klimawandel, Küstenbefestigung, Land- und Aquakulturwirtschaft, Meeresverschmutzung, Überfischung und anderweitige intensive Nutzung. Solche Meeres- und Küstenökosysteme zu erhalten und wiederherzustellen, ist daher für den globalen Kohlenstoffhaushalt enorm wichtig. Laut NAS ist das Wiederaufforstungspotenzial weltweit jedoch auf nur wenige Millionen Hektar begrenzt und lässt sich entsprechend nur schwer hochskalieren. Die Kosten sind im Vergleich zu anderen Methoden aber gering.
Elektrochemische Verfahren
Minerale im Meerwasser zu lösen braucht Zeit. Deshalb dauert es unter Umständen mehrere Monate, bis alkalinisiertes Meerwasser seine Wirkung entfaltet und zusätzliches Kohlendioxid aus der Atmosphäre aufnimmt. Um diesen Prozess zu beschleunigen, entwickeln Fachleute derzeit elektrochemische Verfahren. Legt man zwischen zwei Elektroden eine Spannung an, verwandeln sie sich in eine positiv geladene Anode und eine negativ geladene Kathode. Schickt man Meerwasser hindurch, lässt sich durch Ladungstrennung die Kohlendioxidkonzentration im Meerwasser beeinflussen. Je nach Ansatz zielen die Methoden entweder darauf ab, die Alkalinität des Meerwassers zu erhöhen oder aber Kohlendioxid direkt aus dem Meerwasser zu entnehmen und anschließend zu speichern. Das prognostizierte Wirkungspotenzial ist hoch, die Kosten allerdings auch.
Ab 2015 habe er sich zunächst mit einer vom Europäischen Forschungsrat finanzierten fünfjährigen Studie zu künstlichem Auftrieb beschäftigt, berichtet Riebesell. Dabei wird nährstoffreiches Tiefenwasser an die Oberfläche gepumpt, um dort das Algenwachstum zu verstärken. Die absinkenden Kleinstalgen deponieren den Kohlenstoff dann in der Tiefsee und am Meeresboden, wo er unter optimalen Umständen für tausende Jahre eingelagert wird. Das Problem dabei: Der technische Aufwand ist hoch, die klimarelevante Wirkung nur moderat.
Erst vor ein paar Jahren habe die Wissenschaftsgemeinschaft dann die Verfahren zur Alkalinitätserhöhung verstärkt in den Blick genommen. »Zu Beginn hieß es immer, man müsse jedes Jahr ein Matterhorn abtragen und ins Meer kippen, um nennenswerte Effekte zu erzielen«, sagt Riebesell und lacht. Er wird sofort wieder ernst. »Natürlich ist uns bewusst, dass niemand Wunder erwarten sollte.« Außerdem sei ihm wichtig zu betonen, dass es maximal um den Ausgleich von nicht vermeidbaren Restemissionen gehen könne. Der Begriff der Restemissionen ist zwar nicht genauer definiert, aber gemeint sind damit die Emissionen aus Industrieprozessen, die sich nach derzeitigem Kenntnisstand schlecht oder gar nicht dekarbonisieren lassen. Der erste und wichtigste Schritt müsse eine sofortige und radikale Reduktion der Emissionen sein. »Die Menschheit pustet derzeit jährlich 37 Gigatonnen CO2 in die Luft. Das lässt sich unmöglich vollständig aus der Atmosphäre ziehen«, sagt Riebesell.
In einer Ausgabe des »World Ocean Review«, der von der gemeinnützigen Organisation »maribus« herausgegeben wird und sich mit der Frage beschäftigt, ob der Ozean die Klimakrise aufhalten kann, wird die Dimension des Problems dargestellt: »Geht man davon aus, dass die Bundesrepublik Deutschland auch im Jahr 2045 noch immer Emissionen in Höhe von jährlich 60 bis 130 Millionen Tonnen Treibhausgasen ausstoßen wird, entfällt auf jeden einzelnen der 83,2 Millionen Einwohner ein Anteil von 0,7 bis 1,5 Tonnen«, heißt es dort im November 2023. »Würden nun alle Bürger Deutschlands diese Restemissionen allein durch eine Alkalinitätserhöhung des Ozeans kompensieren wollen, müsste jeder von ihnen pro Tag 6,5 bis 14 Kilogramm Basalt oder 5 bis 11 Kilogramm Kalk im Meer auflösen.« Zum Vergleich: Derzeit beträgt der deutschlandweite Zementverbrauch rund 30 Millionen Tonnen pro Jahr. Das ist nur etwa ein Zehntel des Materials, das für die Alkalinisierung des Ozeans nötig wäre.
Klimapolitik hat versagt
Dass überhaupt über Sinn und Unsinn solcher Verfahren diskutiert werden muss, zeigt, dass die Klimapolitik der zurückliegenden Jahrzehnte auf ganzer Linie versagt hat. Viel Zeit wurde vergeudet, weil die Umsetzung naheliegenderer Maßnahmen jahrzehntelang verschleppt wurde. Dabei ist seit mehr als 50 Jahren belegt, dass der CO2-Gehalt in der Atmosphäre kontinuierlich steigt.
1957 startete David Keeling in Mauna Loa auf Hawaii die Messung des atmosphärischen Kohlendioxids. Aus dem bis heute fortgesetzten Dauerbetrieb dieser Station ergibt sich eine Messreihe, die einen steten Anstieg des Treibhausgases aufzeigt und als Startpunkt der modernen Klimawissenschaften gilt. Lag der CO2-Anteil in der Erdatmosphäre Anfang der 1950er Jahre noch bei etwa 310 parts per million (kurz ppm – das bedeutet, dass von einer Million Molekülen in der Luft 310 CO2-Moleküle vorkamen), hat er im Frühjahr 2013 an der Messstation am Mauna Loa erstmals 400 ppm überstiegen und lag im Mai 2022 bei 420 ppm.
In Kiel ist es nach zwei Tagen intensiver Vorarbeit so weit: Das Experiment kann starten und das Gesteinsmehl in die Mesokosmen gestreut werden. Kai Schulz steht in der gleichen grünen Kluft wie auch an den beiden Tagen zuvor auf der Plattform, doch diesmal hält er eine Schale mit zehn kleinen Kunststofffläschchen in den Händen. »Fünf Mesokosmen werden gleich mit Kalziumhydroxid in unterschiedlichen Mengen versetzt«, erklärt er. »In weitere fünf werde ich das Magnesiumhydroxid streuen. Je ein Mesokosmos pro Versuchsreihe bekommt keine Mineralzugabe und dient als Kontrolle.« Welches Behältnis wie stark manipuliert wird, ist zufällig verteilt. Anders als in früheren Experimenten werden die Minerale erstmals nicht als Lösung, sondern tatsächlich als Gesteinsmehl hinzugegeben, was der wahrscheinlichsten Anwendungsform auf großen Skalen entspricht.
Aus Laborversuchen wissen die Forscher und Forscherinnen des GEOMAR bereits, dass das fein gemahlene Mineral Brucit (Magnesiumhydroxid) nur schlecht in Lösung geht. Bachelor- und Masterstudierende haben daher die zurückliegenden Wochen damit zugebracht, das Pulver zu sieben und noch stärker zu zermahlen, um wirklich nur feinstes Gesteinsmehl für das Experiment verwenden zu können. Das zweite Material, das getestet werden soll, Löschkalk (Kalziumhydroxid), bekommt man in der benötigten Korngröße und Qualität ganz einfach im Baumarkt.
»Im Moment sieht es leider noch nicht danach aus, dass es das eine Material gibt, das alle notwendigen Kriterien erfüllt«, sagt Schulz. Entweder sei die Löslichkeit unzureichend, die Herstellung zu energieintensiv oder die Verunreinigung mit Schwermetallen wie Nickel, Chrom oder Zink zu groß. Außerdem führt der Abbau von Mineralen in Steinbrüchen häufig zu Nutzungskonflikten um das betroffene Land, zu Eingriffen in lokale Ökosysteme sowie zu einer steigenden Lärm- und Staubbelastung für die Menschen in der direkten Umgebung. Unklar ist bisher auch, welcher Energieaufwand und welche Investitionen notwendig sein werden, um die Gesteine im industriellen Maßstab abzubauen, sie zu verarbeiten und an die Küste oder später auf das Meer hinauszutransportieren. Bei jedem dieser Schritte entstehen Treibhausgasemissionen, welche die Gesamtbilanz verschlechtern.
Eine weitere Herausforderung – möglicherweise die größte – ist aktuell noch, quantitativ zu bestimmen, wie viel CO2 der Ozean am Ende zusätzlich zur natürlichen Aufnahme gebunden hat. Es gibt zwar etliche computergestützte Modellrechnungen, die sich dieser Frage nähern. Die Weltmeere mit all ihren komplexen Charakteristiken, Strömungen und Stoffkreisläufen lassen sich jedoch nicht präzise genug simulieren.
Nötig wären deshalb aussagekräftige Feldstudien im offenen Meer. Doch die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland dafür sind gegenwärtig streng – so streng, dass es Forschungsinstitutionen hier zu Lande nicht nur untersagt ist, OAE-Experimente in nationalen Gewässern durchzuführen, sondern beispielsweise auch, deutsche Schiffe für Experimente in den Meeresgewässern anderer Staaten einzusetzen. Allerdings handhaben das nicht alle Staaten weltweit derart strikt.
»Ich sehe es mit großer Skepsis, bewusst manipulativ in die Umwelt einzugreifen. Schon die Auswirkungen von kleineren Feldstudien können gravierend sein«Wera Leujak, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Umweltbundesamt
»Ich sehe bei Experimenten zum marinen Geoengineering zurzeit durchaus die Gefahr des globalen Wildwuchses«, sagt Wera Leujak. Die Meeresbiologin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet »Schutz der Meere« beim Umweltbundesamt. »Wir sind aktuell noch meilenweit von einer verantwortungsvollen Anwendung entfernt und brauchen dringend international verpflichtende Regeln für marines Geoengineering sowie eine Überwachung, dass diese Regeln auch eingehalten werden«, sagt sie. Das Umweltbundesamt ist für die Genehmigung der Forschungsprojekte zu marinem Geoengineering verantwortlich und kann eingehende Anträge begründet annehmen oder ablehnen. »Ich sehe es aber grundsätzlich mit großer Skepsis, überhaupt bewusst manipulativ in die Umwelt einzugreifen. Schon die Auswirkungen von kleineren Feldstudien können gravierend sein.«
Bei Experimenten im Meer sei das Risikobewusstsein der Menschen meist weniger ausgeprägt als bei Versuchen an Land, da es nicht direkt der eigene Lebensraum ist. »Bevor wir also über eine kommerzielle Anwendung nachdenken, muss erst einmal verantwortungsvoll geforscht werden«, fordert sie. »In den Statements vieler Forscher und Politiker klingen solche Entnahmeverfahren wie ein Allheilmittel zur Bekämpfung des Klimawandels, aber das ist gefährlich: Es besteht das Risiko des Missbrauchs und des Weiter-so.« Dadurch laufe man Gefahr, dass der CO2-Ausstoß nicht in erforderlichem Maß reduziert wird, weil man sich zu sehr auf die Methoden zum marinen Geoengineering verlasse.
Regeln zum Schutz der Ozeane
International werden die Aktivitäten im Bereich des marinen Geoengineerings vor allem über die Londoner Konvention aus dem Jahr 1972 geregelt (offiziell: »Übereinkommen über die Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen und anderen Stoffen«) sowie durch das Londoner Protokoll aus dem Jahr 1996. Beide wurden mit der Absicht entwickelt, das Einbringen von schädlichen Abfällen und anderen Stoffen in den Ozean zu regulieren. Das Protokoll ist ein eigenständiger völkerrechtlicher Vertrag und enthält seit 2013 explizite Regelungen für das marine Geoengineering. Der Konvention sind bis zum Januar 2021 87 Staaten beigetreten; dem Protokoll 53.
Das Londoner Protokoll ist das einzige internationale Rechtsinstrument, das einen Regulierungsansatz für marines Geoengineering vorschreibt, bislang jedoch nur für die Ozeandüngung. Dabei werden dem Meer Eisenpartikel oder andere Nährstoffe zugeführt, die das Wachstum von mikroskopisch kleinen Algen anregen, wodurch der Atmosphäre CO2 entzogen wird. Laut Umweltbundesamt (UBA) soll das Protokoll sicherstellen, »dass die Erprobung und etwaige Umsetzung von marinen Geoengineering-Techniken nicht nur auf Mutmaßungen beruht oder durch betriebswirtschaftliche Interessen einiger Akteure beeinflusst wird«. So wurde festgelegt, dass Vorhaben zur kommerziellen Anwendung derzeit generell verboten sind. Feldversuche sollen wegen der Umweltrisiken nur im Rahmen von verantwortungsvoller, also hochqualitativer Forschung zugelassen werden. Es wird geprüft, ob diese Regulierung auf weitere Methoden des marinen Geoengineerings wie OAE ausgeweitet werden kann.
Die Bundesrepublik gehört zu den Staaten, die das Londoner Protokoll sowie den Zusatz zur Ozeandüngung ratifiziert und in nationales Recht überführt haben. Das Hohe-See-Einbringungsgesetz verbietet entsprechend »jede Zuführung von Stoffen und Gegenständen in die Hohe See im Rahmen des marinen Geoengineerings«. Das liege insbesondere dann vor, so heißt es dort, »wenn damit den vom Menschen verursachten Klimaänderungen oder ihren Auswirkungen entgegengewirkt werden soll«. Genehmigungsfähig durch das UBA sind derzeit nur Forschungsvorhaben zur Meeresdüngung. Damit hat Deutschland das Londoner Protokoll strenger als erforderlich ausgelegt.
Das sehen auch Kai Schulz und Ulf Riebesell so – allerdings mit einem etwas anderen Fokus: »Wenn die Forschung nicht erlaubt wird, kommen wir nicht weiter«, sagen sie. Hoffnung macht ihnen daher ein Eckpunkte-Papier für die deutsche Carbon-Management-Strategie von Februar 2024 sowie ein Entwurf zur Änderung des Kohlendioxidspeicherungsgesetzes. Bislang geht es dabei zwar vor allem um Technologien zur Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid unter dem Meeresboden. Die Forscher spekulieren allerdings darauf, dass langfristig auch die Maßnahmen zur Alkalinitätserhöhung von der Politik in den Blick genommen werden. In einer Stellungnahme des GEOMAR zu den geplanten Gesetzesänderungen heißt es: »Da viele Start-ups die Kommerzialisierung von ozeanbasierter Kohlendioxid-Entnahme bereits vorantreiben, sind wir gefordert, die Forschung und eventuelle spätere Anwendung auf eine verantwortungsvolle Basis zu stellen.«
Wie tolerant sind die Meeresorganismen?
In Kiel bricht schon der vierte Tag des ersten Versuchszyklus an. Es ist kurz vor sieben Uhr am Morgen und klirrend kalt. Der Himmel über der Förde färbt sich langsam rosarot. Die Uferlinie ist menschenleer. Auf der Forschungsstation hockt Andrea Ludwig gebückt vor den Mesokosmen, in der einen Hand eine große Glasflasche, in der anderen einen Kunststoffschlauch, auf dem Kopf eine warme Mütze und eine Stirnlampe. Ihre Kollegin bedient eine Standluftpumpe, wie man sie auch zum Aufblasen einer Luftmatratze nutzen würde. Die beiden Frauen entleeren nacheinander die Sedimentfallen der Mesokosmen in beschriftete Glasflaschen. Der Inhalt wird später im Labor analysiert.
Ludwig war schon bei den Experimenten in Norwegen und auf Helgoland dabei. Sie ist die Logistikkoordinatorin im Team von Kai Schulz und Ulf Riebesell. Damit gehört sie zwar nicht zum wissenschaftlichen, sondern zum technischen Personal, aber ohne sie würde hier wahrscheinlich nichts laufen. »Ich bin für die Materialbeschaffung zuständig, versuche insgesamt den Überblick zu behalten und führe die Basismessungen durch«, sagt Ludwig. Dazu verwendet sie ein ozeanografisches Messgerät, das die elektrische Leitfähigkeit des Wassers sowie die Temperatur in Abhängigkeit von der Wassertiefe bestimmt. Aus Leitfähigkeit und Temperatur errechnet die Sonde den Salzgehalt. Ergänzend gibt es noch einen Sensor für den pH-Wert, den Sauerstoff- und den Chlorophyllgehalt. Langsam und gleichmäßig lässt sie die Sonde an einem Seil nacheinander in jeden Mesokosmos hinabgleiten. Im Lauf des Experiments werden die Werte alle zwei Tage erhoben und mögliche Veränderungen verglichen. »Das ist wichtig, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich das Wasser jeweils schichtet oder ob eine Algenblüte beginnt«, erklärt Ludwig.
Eine knappe Stunde später lässt sie die Sonde in den letzten der zwölf Mesokosmen hinunter. Die Sonne steht jetzt vollständig, wenn auch noch immer recht tief, am Himmel. Die ersten Teammitglieder trudeln ein. Auch Kai Schulz ist dabei. Es ist Tag der Probennahme. Eine Zweiergruppe führt nacheinander in jeden Mesokosmos senkrecht von oben ein zwei Meter langes Rohr ein und schließt mit einem Seilzug das untere Ende. Auf diese Weise beproben die beiden die Wassersäule von der Oberfläche bis in die unteren Schichten und entnehmen jeweils etwa fünf Liter Wasser. Eine andere Zweiergruppe geht mit einem trichterförmigen, feinmaschigen Netz auf Zooplanktonjagd. Im Labor werden die Forscher später ihre Ausbeute zählen und die verschiedenen Arten bestimmen. »Sollten etwa die Ruderfußkrebse negativ auf eine Alkalinitätserhöhung reagieren, dann insbesondere im Larvenstadium«, erklärt einer der Studierenden. Man würde dann im Verlauf des Experiments und je nach Höhe des pH-Werts eine sinkende Organismenzahl verzeichnen.
Welche Auswirkungen das wiederum auf das gesamte marine Ökosystem hätte, ist schwer vorherzusagen – gerade, weil sich die Organismengemeinschaften ständig gegeneinander ausbalancieren und so Veränderungen teilweise kompensieren. »Viele Zooplanktonarten zum Beispiel sind erstaunlich robust und können Umweltveränderungen ziemlich gut tolerieren«, erklärt Schulz. »Bis zu welcher Intensität der Alkalinisierung ihre Toleranz jedoch tatsächlich reicht, werden unsere Forschungsergebnisse hoffentlich zeigen.« Erst dann werde man genügend Argumente an der Hand haben, um Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft von größeren Feldversuchen zu überzeugen.
Dass dazu noch einiges an Arbeit vor ihnen liegt, ist allen hier bewusst. »Es wird Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis wir alle Daten gesichtet und ausgewertet haben und verlässliche Aussagen treffen können«, sagt Kai Schulz zum Abschied am Nachmittag des vierten Tages. Es sei also noch nicht allzu bald mit handfesten Ergebnissen oder gar Veröffentlichungen zu rechnen.
Erste Resultate: Algenblüte verschiebt sich
Umso überraschender kommt daher ein Anruf einige Monate nach Abschluss des ersten Versuchszyklus. Im Gespräch gibt sich Schulz demonstrativ zufrieden mit dem Verlauf des Experiments. Alles habe reibungsfrei funktioniert, ohne größere Überraschungen oder Zwischenfälle. Und: Es gebe sogar schon erste Resultate – die jedoch noch mit großer Vorsicht zu genießen seien. »Wie schon bei den Versuchen vor der Küste Helgolands sehen wir, dass sich die Algenblüte mit steigendem pH-Wert nach hinten verschiebt«, erzählt er. Anders als damals gebe es aber keinen klaren Schwellenwert. »Der Effekt macht sich eher linear und schon bei kleinen Konzentrationen bemerkbar.« Ein unerwarteter Befund. Allerdings: Der Effekt zeige sich beim relativ schlecht löslichen Magnesiumhydroxid deutlich stärker als beim Kalziumhydroxid. Das deute darauf hin, dass er etwas mit der Partikelgröße und der unterschiedlich guten Löslichkeit des Gesteinsmehls zu tun habe.
»Unsere Hypothese, die wir nun in den kommenden Versuchen überprüfen müssen, lautet, dass sich Ketten bildende Kieselalgen in den größeren Partikeln verheddern und dadurch nach unten ins Sediment absinken«, erklärt er. »Wenn sich die Partikel währenddessen auflösen, steigt der pH-Wert lokal sehr stark an. Dadurch wiederum könnten die Silikatschalen der Algen beschädigt werden.« Um das zu überprüfen, habe man sich für den zweiten Versuchszyklus nun eine spezielle Ultrazentrifugalmühle besorgt, um das Material noch feiner zu zermahlen. Der Teufel steckt eben im Detail.
Doch eine entscheidende Frage bleibt: Lohnt sich der ganze Aufwand? Wie viel mehr Kohlendioxid kann das Meer denn nun aufnehmen, wenn die Alkalinität erhöht wird? Eindeutig lässt sich das bisher leider nicht beantworten. »Unsere kanadischen Kolleginnen und Kollegen von der Dalhousie University machen derzeit parallel viele Modellierungsstudien, um herauszufinden, wie sich die Partikel im offenen Meer auflösen, verteilen und wie viel CO2 dadurch tatsächlich gebunden werden kann«, sagt Schulz. Doch immer wieder zeige sich, dass die Realität deutlich komplexer ist als die Theorie. Jedes weitere Experiment bringt zwar Antworten – wirft aber auch neue Fragen auf. All das kostet Zeit. Ein Gut, das die Menschheit eigentlich nicht hat. Denn die Uhr des Klimawandels tickt, und mit jedem Tag, der verstreicht, scheint die Zeit ein wenig schneller zu verrinnen.
Auch für Ulf Riebesell. Seine ALS-Erkrankung schreitet unaufhaltsam fort. »Es geht hierbei aber nicht um mich«, sagt er. »Es geht hier um all die Generationen, die noch kommen – dass auch sie einen lebensfreundlichen Planeten vorfinden.« Doch bei aller Bescheidenheit merkt man ihm an, dass er hofft, einer Lösung für den menschengemachten Klimawandel auf der Spur zu sein – einer alkalischen Lösung.
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