Prosozialität: Wandel durch Handel
Nur noch ein Klick, dann landen 250 Euro von meinem Konto auf dem einer fremden Person aus dem Internet. Ob der gebrauchte Computer im Gegenzug bei mir ankommt? Ich vertraue meinem Gegenüber, ohne es zu kennen. Ich weiß nicht einmal, ob der angezeigte Name im Chat-Fenster des Kleinanzeigenportals sein richtiger ist. Trotzdem laufen solche Geschäfte meist reibungslos ab. Ist das nicht verwunderlich? Gerade in unserer viel gescholtenen Ellenbogengesellschaft, in der doch angeblich jeder nur den eigenen Gewinn im Blick hat?
Dieses Wohlwollen zwischen Unbekannten passt so gar nicht zum weit verbreiteten Bild des Menschen, der durch die Vorherrschaft des Geldes zum kühl kalkulierenden Krämer verkommen ist. Karl Marx' entsprechende Kritik am Kapitalismus ist wohl am bekanntesten: Je größer der gesellschaftliche Einfluss von Handelsbeziehungen, »umso egoistischer, gesellschaftsloser, seinem eigenen Wesen entfremdeter wird der Mensch«, behauptete der Philosoph im Jahr 1844.
Weit weniger populär ist die entgegengesetzte »Doux-commerce«-These, also die Idee eines besänftigenden Handels, der Menschen verbindet und Kriege verhindert. In seinem Buch »Vom Geist der Gesetze« schrieb der politische Philosoph Charles de Secondat, Baron de Montesquieu 1748: Der Markt »verfeinert und mildert, wie wir täglich sehen, die rohen Sitten«. Deshalb gelte »die Regel, dass es da, wo sanfte Sitten herrschen, auch Handel gibt und dass überall, wo es Handel gibt, auch sanfte Sitten herrschen«.
Ab dem 19. Jahrhundert geriet diese Idee in den Hintergrund. Seit Kurzem erfährt die »Doux-commerce«-These in der Verhaltensforschung jedoch einen ungeahnten Aufschwung. Wieso steigt das Interesse ausgerechnet jetzt, fast 300 Jahre nach ihrer ursprünglichen Formulierung? »Ich denke, die Antwort ist, dass wir jetzt die Daten haben, um die Frage zu klären«, sagt der Anthropologe Joe Henrich von der Harvard University. Neue Forschungsergebnisse sollen den jahrhundertealten Streit um das Verhältnis von Markt und Moral ein für alle Mal beilegen. Die Frage führt uns einmal um den Globus: zu Experimenten in Südamerika, nach Afrika bis hin zu den Inseln des Pazifiks. Nach einem Abstecher nach Grönland und einer Reise in die Vergangenheit mündet sie in Forschungslaboren des europäischen Festlands.
Experimente rund um den Globus
Auch Joe Henrich kommt viel herum in der Welt. Ich habe das Glück, ihn für einen Videocall in seinem Büro in Boston zu erwischen. Ein paar Wochen später antwortet er nur noch knapp per Mail, er sei gerade in Namibia und der Empfang nicht der beste. »Ich bin eher über Umwege zu diesem Thema gekommen«, erzählt er. Henrich wollte das menschliche Verhalten an Versuchspersonen aus möglichst verschiedenen Kulturen untersuchen, denn bis heute sind die meisten Probandinnen und Probanden, die für Verhaltensexperimente rekrutiert werden, Studierende aus Industrienationen. Hierfür prägte Henrich gemeinsam mit dem Kulturpsychologen Steven Heine und dem Sozialforscher Ara Norenzayan das Akronym WEIRD: white, educated, industrialized, rich, democratic.
Henrich bildete also ein internationales Team aus Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die mit Indigenen aus der ganzen Welt zusammenarbeiten. Menschen aus insgesamt 15 verschiedenen Kleingesellschaften nahmen so an einem einfachen Experiment teil: Im »Ultimatumspiel« erhält Person A ungefähr einen Tageslohn und legt fest, wie viel davon sie an Person B weitergeben würde. Person B kann wiederum entscheiden, ob sie mit dem Betrag einverstanden ist – falls nicht, gehen beide leer aus. Die beiden Versuchspersonen sehen sich dabei nicht und wissen nichts übereinander. Deshalb gilt die Höhe des Angebots als Maß für die Kooperationsbereitschaft zwischen Fremden. Das 2001 veröffentlichte Ergebnis unterschied sich deutlich von den bis dahin publizierten Resultaten: Probanden aus Industriegesellschaften verschenken typischerweise etwas mehr als 40 Prozent der angebotenen Summe; in der kulturübergreifenden Stichprobe reichten die Offerten von 26 bis 58 Prozent. Dabei fiel ein Muster auf: Je stärker die Gemeinschaften auf Handel angewiesen waren, desto großzügiger waren ihre Angebote.
Das Team um Henrich erklärte sich das so: Durch Geschäftsbeziehungen kommen Menschen häufiger mit Unbekannten in Kontakt. Da beide Seiten von diesem Austausch profitieren, entsteht eine positive Haltung gegenüber Personen, die nicht aus dem eigenen Umfeld stammen. Daraus entwickeln sich soziale Normen, die besagen, dass nicht nur Bekannte fair behandelt werden sollten, sondern alle Menschen. Solche Einstellungen nennt man universalistisch, weil sie allgemein gültig und nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt sind.
Henrich entschloss sich, diese Idee genauer zu untersuchen, und wiederholte die Experimente in weiteren Teilen der Erde. Dabei repräsentierten die Gemeinschaften verschiedene Grade der »Marktintegration«, gemessen am Anteil der zugekauften Kilokalorien an der Gesamtnahrung: Die Hadza in Tansania etwa leben als Jäger und Sammler und versorgen sich komplett selbst. Die Sursurunga in Papua-Neuguinea betreiben Wanderfeldbau und decken ihren Nahrungsbedarf zu einem Viertel über den Markt. Bei den Menschen, die in der kolumbianischen Sanquianga-Region leben, liegt dieser Anteil bei über drei Viertel. Sie handeln unter anderem mit Fisch. Zwei weitere Gemeinschaften – aus der ghanaischen Hauptstadt Accra und aus dem ländlichen Missouri – kaufen fast alle ihre Lebensmittel ein. Auch jetzt lautete das Ergebnis: je mehr Handel, desto fairer das Angebot gegenüber einer fremden Person.
Aber zeigen derartige Experimente wirklich, dass Handel universalistische Werte hervorbringt? Kennen Versuchspersonen aus marktbasierten Gesellschaften sich nicht einfach besser mit solchen ökonomischen Spielchen aus? Henrich glaubt, dass Erfahrung höchstens einen Teil zu den Ergebnissen beiträgt. »Um sicherzugehen, haben wir erhoben, wie gut die Menschen die Spiele verstanden, wie viele Beispieldurchgänge sie benötigten und wie viele Jahre sie in der Schule verbracht hatten.« Mit diesen Faktoren ließen sich die Unterschiede der einzelnen Gesellschaften im Verhalten gegenüber Fremden nicht ausreichend erklären.
Vorsicht bei Fremden
Die Befunde bedeuten nicht, dass Menschen in traditionell lebenden Gesellschaften grundsätzlich weniger hilfsbereit und rücksichtsvoll sind. Es geht darum, gegenüber wem sie sich so verhalten: »An vielen Orten, an denen ich geforscht habe, sind die Menschen supersozial, vorausgesetzt man ist Teil ihres sozialen Netzwerks«, sagt Henrich. »Es ist nur so, dass sie Fremden weniger vertrauen.« Er unterscheidet daher zwischen »zwischenmenschlicher« und »unpersönlicher« Prosozialität.
Esther Chevrot-Bianco von der Goethe-Universität Frankfurt und Gustav Agneman von der schwedischen Universität Lund differenzierten in einer Studie von 2023 ähnlich. Denn auch wenn Henrichs Forschung mögliche Einflüsse wie Wohlstand und Bildung statistisch berücksichtigte: Sind Wanderfeldbauern aus Papua-Neuguinea wirklich mit Protestanten aus dem Mittleren Westen der Vereinigten Staaten vergleichbar? Wie kann man sich bei all den Unterschieden zwischen den Gruppen sicher sein, dass ausgerechnet der Markt die entscheidende Rolle spielt? Die Fragen führten Chevrot-Bianco und Agneman nach Grönland. Dort läuft seit knapp einem Jahrhundert eine Art zufälliges Experiment, von dem sie sich etwas für die Beantwortung versprachen. Denn durch die Bemühungen vergangener Regierungen floriert selbst in den entlegenen Gegenden der Rieseninsel eine moderne Marktwirtschaft. Selbstversorgende Jäger und Fischer leben neben Juristinnen und Vertrieblern. Folglich gibt es große Unterschiede in der Bedeutung des Marktes für den Einzelnen, bei einigermaßen gleichen politischen und kulturellen Rahmenbedingungen.
Für ihr Experiment rekrutierten die beiden 543 Bewohnerinnen und Bewohner Grönlands aus 13 Ortschaften. Diese sollten unbeobachtet würfeln und erhielten einen Geldbetrag entsprechend der angegebenen Augenzahl: zehn dänische Kronen pro Punkt, was etwa 1,30 Euro entspricht. Ob eine einzelne Versuchsperson schummelte und eine höhere Augenzahl nannte, als sie gewürfelt hatte, konnten Chevrot-Bianco und Agneman nicht überprüfen. Schauten sie sich aber gleich eine ganze Gruppe von Teilnehmenden an, flog der Schwindel auf. Hier lag der Clou des Ansatzes: Wenn etwa die Zahl Sechs bei vielen Durchgängen viel häufiger vorkommt als statistisch wahrscheinlich, kann man davon ausgehen, dass etwas nicht stimmt. Bei einem Teil der Probanden und Probandinnen hieß es, die Differenz aus dem gewonnenen Betrag und der maximalen Auslöse von 60 Kronen gehe an eine nicht weiter benannte Person. Den übrigen teilte man mit, dass jemand aus ihrem Heimatort das Geld erhalten würde, doch sie erfuhren nicht, von wem es stammte. Damit konnten die Forscher zwischen zwischenmenschlicher und unpersönlicher Prosozialität unterscheiden.
Bei den Marktteilnehmern unter den Grönländerinnen und Grönländern gab es unter allen drei Bedingungen keine statistisch bedeutsamen Abweichungen vom erwarteten Durchschnittserlös von 35 Kronen. Sie waren also wahrscheinlich größtenteils ehrlich gewesen. Hingegen nannten die Selbstversorger höhere Zahlen, als rechnerisch zu erwarten war – außer wenn sie wussten, dass sie mit ihrer Schummelei einem Ortsansässigen schaden würden. Die Ergebnisse blieben selbst dann signifikant, wenn die Forscher eine Reihe möglicher Einflussfaktoren wie Bildung und Religiosität berücksichtigten. Das Muster scheint sich demnach auch innerhalb einer Gesellschaft fortzusetzen: Je größer der Einfluss des Marktes, desto fairer verhalten sich Menschen gegenüber Personen, die nicht aus dem eigenen Umfeld stammen.
Kausalität oder Korrelation
Fördert der Markt also die Moral? Gibt es ihn wirklich, den Wandel durch Handel? Solche Aussagen über Ursache und Wirkung lassen sich aus den Feldstudien nicht ableiten. Vielleicht entscheiden sich nämlich besonders selbstlose Menschen schlicht häufiger für Tätigkeiten, bei denen sie viel mit Unbekannten zu tun haben. Oder Gesellschaften mit einem universellen Wertesystem neigen eher dazu, Märkte zu etablieren. Um derartige kausale Zusammenhänge zu untersuchen, müsste man in die Vergangenheit reisen und prüfen: Was kam zuerst, der Markt oder die Moral? Auf eine solche Expedition ins Einst begab sich der Wirtschaftswissenschaftler Benjamin Enke von der Harvard University – zumindest auf dem Papier: In einer Studie aus dem Jahr 2022 analysierte er Folkloren von fast 1000 vorindustriellen Gesellschaften, über die ganze Welt verteilte volkstümliche Überlieferungen. Wie oft kamen darin Wörter wie »Markt«, »Handel«, »Geld« oder »Gewinn« vor? Dadurch schätzte er ab, wie wichtig der Markt für eine bestimmte Gruppe war. Ähnlich ging er vor, um Einsichten in ihre Moral zu erlangen. Handelten die Erzählungen davon, anderen zu helfen? Spielte Vertrauen eine Rolle? Ließ sich aus den Texten ein moralischer Universalismus ableiten?
Auch hier ging die Wichtigkeit des Marktes mit einem erhöhten Maß an Moral einher. Doch der spannendste Aspekt der Studie ist vielleicht ein anderer: Die Bedeutung von Märkten und damit das Wohlwollen gegenüber Fremden war bei Gemeinschaften höher, die nahe an Handelswegen lebten. Diese Routen entstanden allerdings erst nach den Siedlungen. Demnach waren es nicht etwa besonders fremdenfreundliche Gesellschaften, die die Nähe zu Märkten suchten. Naheliegender ist die Erklärung, dass der zufällige Kontakt mit Märkten die Moral veränderte. Im Rahmen seiner Möglichkeiten schloss Enke weitere Einflussfaktoren aus, wie zum Beispiel das Aufkommen rechtlicher und politischer Institutionen oder Bildungsanstalten. »Auch dies deutet darauf hin, dass eine universalistische Moral zumindest teilweise durch Markterfahrungen an sich und nicht durch einen umfassenderen Modernisierungsprozess entsteht«, fasst der Forscher in seiner Arbeit zusammen.
Geld oder Leben
2013 sorgte eine Studie der Wirtschaftswissenschaftler Armin Falk von der Universität Bonn und Nora Szech vom Karlsruher Institut für Technologie für Aufregung. In ihren mittlerweile berühmten Experimenten mit 787 Versuchspersonen ging es um Geld oder Leben, genauer gesagt um das Leben einer Maus. Mitglieder der ersten Versuchsgruppe bekamen zehn Euro zur Verfügung. Behielten sie den Betrag für sich, verlor ein Nager sein Leben. Sie konnten es aber auch ausgeben, um ihn vor dem Tod zu bewahren. Das war keine fiktive Entscheidung: Die Mäuse waren Überbleibsel aus Tierversuchen und wären normalerweise aus Kostengründen getötet worden. Wenn eine Versuchsperson auf den eigenen Profit verzichtete, wurden damit die Tiere gekauft, um sie in eine artgerechte Haltung zu überführen. 46 Prozent der Probanden entschieden sich dagegen und für das Geld. Eine zweite Versuchsgruppe stellte man vor die gleiche Entscheidung, allerdings in einer marktähnlichen Situation: Nun feilschte ein »Verkäufer« mit einem »Interessenten« um das Mäuseleben. Für wie viel Geld würde der Verkäufer die Maus abtreten und somit sterben lassen? Der Interessent bekam ein Budget von 20 Euro. Bei einer Einigung musste er davon den beschlossenen Preis an den Verkäufer zahlen. Lehnte Letzterer das Angebot ab, blieb die Maus am Leben. In dieser Versuchsbedingung ließen nicht mehr 46 Prozent, sondern ganze 72 Prozent der Versuchspersonen ihre Maus für zehn Euro oder weniger sterben. Das Fazit der Autoren: Unter bestimmten Umständen können Märkte moralische Werte erodieren.
Eine Studie von Björn Bartling und seinen Kollegen an der Universität Zürich von 2021 legt jedoch eine andere Erklärung nahe. Die Ökonomen wiederholten das Experiment in leicht abgewandelter Form; anstatt um Mäuseleben ging es nun um Spenden für Leprapatienten in Indien. Während die Versuchspersonen in der Studie von Falk und Szech die Verhandlungen immer zehnmal wiederholen mussten, baute das Team um Bartling eine Versuchsbedingung ein, in der nur einmal gefeilscht wurde. Das ließ den Anteil derer, die bereit waren, für zehn Franken auf eine Spende zu verzichten, auf dasselbe Niveau sinken wie in der Kontrollbedingung ohne Marktsimulation. Möglicherweise lässt sich der Effekt auch durch einen moralischen Freifahrtschein erklären: Es ist gut belegt, dass Menschen gewissenloser handeln, wenn sie zuvor schon etwas Gutes geleistet haben.
Trotzdem bleibt ein Restzweifel: Weder die Studien mit indigenen Kleingesellschaften noch das Experiment in Grönland oder die Literaturanalyse Enkes können erklären, welche Aspekte des Marktes genau zu einem faireren Verhalten gegenüber Fremden führen sollen. Darüber könne man nur spekulieren, erklärt Andreas Ziegler von der University of Essex. Wie wirkt es sich etwa aus, dass der Wert von Dingen oder Dienstleistungen in Geld gemessen wird? Was macht Wettbewerb mit dem Wertesystem? Dafür braucht es Experimente, die einzelne Merkmale von Märkten voneinander isolieren und messbar machen.
Widersprüchliche Ergebnisse
Es führt also doch kein Weg an den Forschungslaboren mit WEIRDen Versuchspersonen vorbei. In den 2010er Jahren hat sich ein ganzer Forschungszweig gebildet, der ergründet, wie sich das Verhalten von Menschen verändert, wenn sie sich in einer ökonomischen Verhandlung befinden (siehe »Geld oder Leben«). Oft kommen diese Studien genau zum gegenteiligen Ergebnis wie die Feldstudien aus aller Welt: Müssen sie mit einem Gegenüber feilschen, lassen Probanden schneller außer Acht, ob für den persönlichen Profit Dritte zu Schaden kommen. Wettbewerb scheint in solchen Experimenten eher an der Moral zu nagen. Allerdings hängen die Ergebnisse stark vom Versuchsaufbau ab. Das zeigte Christoph Huber von der Wirtschaftsuniversität Wien mit Anna Dreber Almenberg und Felix Holzmeister von der Universität Innsbruck in einer Studie von 2023. Die Wissenschaftler ließen 45 unabhängige Forschungsteams jeweils ein eigenes Experiment konzipieren und durchführen. Zwar zeigten die dutzende Versuche mit mehr als 18 000 Teilnehmenden insgesamt, dass wirtschaftlicher Wettbewerb sich leicht negativ auf moralisches Verhalten auswirkt. Die Ergebnisse waren jedoch nur in 4 der 45 Experimente überhaupt statistisch bedeutsam. Und in diesen könnte auch die so genannte Ersatzausrede zum Erodieren der Moral geführt haben, das heißt der Gedanke: »Wenn ich es nicht mache, macht es halt jemand anderes.«
»Diese psychologische Veränderung hin zu mehr Kooperation könnte die Grundlage für die Entstehung der Menschenrechte bilden«Joe Henrich, Anthropologe
Fraglich ist zudem, inwieweit sich die Ergebnisse aus dem Versuchslabor auf das alltägliche Verhalten übertragen lassen. Denn in der Regel laufen Geschäfte heute nicht als Auktion ab wie in vielen solcher Studien, so die Kritik von Friedrich Breyer von der Universität Konstanz und Joachim Weimann von der Universität Magdeburg. Wir seien es gewohnt, dass Preise für Produkte vorgegeben sind. Außerdem fehlen in den Experimenten wichtige Elemente des Marktes: Es gibt klare Regeln und Instanzen, die diese durchsetzen. Und überhaupt – die Erkenntnis, dass derartige Verhandlungen womöglich moralisch nachlässig machen, steht nicht im Widerspruch zu den kulturübergreifenden Studien, die einen positiven Einfluss des Marktes auf die Moral finden, erklärt der Verhaltensökonom Ziegler. »Letztere messen einen langfristigen Effekt der Marktpräsenz«, erklärt er. »Es geht also darum, wie sich Gesellschaften oder Individuen verändern, wenn sie über eine längere Zeit marktorientiert sind.« Soziale Normen entstehen eben nicht von heute auf morgen. Joe Henrich, der mit seinen Untersuchungen die »Doux-commerce«-These erneut aufleben ließ, ist davon überzeugt, dass die Auswirkungen gewaltig sind: »Ich denke, diese psychologische Veränderung hin zu mehr Kooperation und einem größeren Vertrauen in Fremde bildet die Grundlage für die Entstehung von Konzepten wie den universellen Menschenrechten.«
Vernetzt, aber einsam
Doch während in marktorientierten Gesellschaften die unpersönliche Prosozialität zunimmt, schwindet die zwischenmenschliche, so die These des Harvard-Anthropologen. »Heute bezahlt man eben einen Babysitter, der auf die Kinder aufpasst, statt einen Nachbarn darum zu bitten«, sagt er. »Das ist schon ein gewisser Verlust.« Mit anderen Worten: Die Menschheit ist global vernetzter denn je – und gleichzeitig beklagen viele eine Epidemie der Einsamkeit. »Menschen kritisieren den Kapitalismus und Märkte zu Recht dafür, dass sie mit der Zeit in den zwischenmenschlichen Bereich eingedrungen sind«, so Henrich. Die Ausdehnung von Märkten in Bereiche des Lebens, in die sie nicht hineingehören, kritisiert auch der Philosoph Michael Sandel in seinem 2012 erschienenen Buch »Was man für Geld nicht kaufen kann«. Der Wirtschaftsethiker Ingo Pies von der Universität Halle-Wittenberg ist da zwiegespalten: »Es stimmt, dass Leute aus dem Raster fallen, etwa wenn sie psychisch erkranken«, sagt er. »Und es gibt Menschen, die allein in einem Hochhaus sterben, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt.« Doch Pies meint: »Durch den Markt erleben wir auch eine Intimisierung unserer Beziehungen.« Denn wenn die Bedeutung der Familie oder der Dorfgemeinschaft abnimmt, kann man sich freier entscheiden, mit wem man seine Zeit verbringen möchte. »Heute wird man nicht mehr in Beziehungen hineingeboren, sondern man wählt sie sich selbst.«
»Durch den Markt erleben wir auch eine Intimisierung unserer Beziehungen«Ingo Pies, Wirtschaftsethiker
Können wir die Frage nach dem Einfluss des Marktes auf die Moral folglich ad acta legen, wie Joe Henrich meint? Die Forschungsergebnisse zeigen, dass es dafür noch zu früh ist. Sie machen aber deutlich: Behauptungen wie »Der Kapitalismus korrumpiert die Moral« oder die »Doux-commerce«-These sind im Kern keine philosophischen, sondern empirische Aussagen, die sich untersuchen lassen. Ein sinnvoller nächster Schritt wäre es, Studien zur Ursache-Wirkungs-Beziehung auf Versuchspersonen auszuweiten, auf die das Label WEIRD nicht zutrifft – ganz im Sinn von Henrichs ursprünglichem Anliegen. Ach ja, und der gebrauchte Computer hat übrigens seinen Weg zu mir gefunden – auf ihm ist dieser Text entstanden. Vielen Dank, Fremder aus dem Internet.
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