Migräne: So viel mehr als bloß Kopfschmerz
Anfangs waren es nur drei bis vier Attacken im Jahr. Marion Deike wurde ungeheuer übel, Nacken und Glieder schmerzten. Sie konnte Licht und Lärm nur schwer ertragen, manchmal brummte auch der Schädel. Dann musste sie sich erbrechen, alle fünf bis zehn Minuten, bis zu 14 Stunden lang. Schon als Grundschulkind hatte sie Anfälle. Der Hausarzt diagnostizierte Magen-Darm-Infekte. Deike schob ihr Leiden auf eine empfindliche Verdauung.
Während der Attacken zog sie sich in einen dunklen Raum zurück, schloss die Augen und wartete, bis sie vorüber waren. Doch die Schmerzen kamen immer wieder, im Erwachsenenalter sogar häufiger als zuvor. Pläne schmieden, Verabredungen machen – für Deike undenkbar. Bis ein Vertretungsarzt in ihrer Hausarztpraxis einen Verdacht äußerte: Sie könnte unter Migräne leiden. »Ich war total erstaunt! Damals dachte ich noch, als Migränikerin muss man starke Kopfschmerzen haben. Ich dagegen litt ja vor allem unter Erbrechen«, erzählt die heute 52-Jährige.
Ihr Fall zeigt: Migräne ist eine komplexe neurologische Erkrankung mit vielen Facetten. Schätzungsweise eine Milliarde Menschen weltweit sind betroffen, in Deutschland rund 15 Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer. Die meisten Patientinnen und Patienten haben während eines Anfalls tatsächlich starke, pochende Kopfschmerzen auf einer Seite des Schädels. Häufig ist ihnen zudem übel, sie müssen sich erbrechen oder sind empfindlich gegenüber Lärm und Licht – wie Marion Deike –, seltener gegenüber Gerüchen.
Was alle Migräneformen eint: Attacken können Tage dauern
Neben der typischen Ausprägung gibt es Sonderformen. Migräne mit Aura etwa. Dabei haben die Patienten neurologische Symptome, am häufigsten Sehstörungen, zum Beispiel in Form flimmernder Figuren. Die Aura beginnt in der Regel vor den Kopfschmerzen, kann aber auch isoliert auftreten. Unbekannter hingegen ist die familiäre hemiplegische Migräne, bei der eine Körperseite vorübergehend gelähmt ist. Bei der vestibulären Migräne wiederum stehen Schwindelgefühle im Vordergrund. Und bei der abdominellen Migräne schmerzt nicht der Kopf, sondern der Bauch. Erleben die Betroffenen über einen Monat lang mehr Tage mit Migräne als ohne, ist sie chronisch geworden.
»Wahrscheinlich haben viele Migräniker zwischen den schweren Attacken auch leichtere, die sich fälschlicherweise wie Spannungskopfschmerzen anfühlen können«
Tim Jürgens, Oberarzt
Nicht nur wegen ihrer Vielseitigkeit ist die Erkrankung schwer zu diagnostizieren. »Es gibt keine objektiven Tests, zum Beispiel Hirnscans, durch die sich eine Migräne nachweisen lässt«, erklärt Tim Jürgens, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universitätsmedizin Rostock und Präsident der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. Um sie von anderen Krankheiten zu unterscheiden, fragen Mediziner daher nach charakteristischen Merkmalen. Gemeinsam ist allen Migräneformen, dass die Attacken vier Stunden bis drei Tage anhalten. Die Symptome verschlimmern sich bei körperlicher Aktivität.
Am wichtigsten ist die Abgrenzung zu den Spannungskopfschmerzen, der häufigsten Kopfschmerzerkrankung überhaupt. Sie betrifft den gesamten Schädel, nicht nur eine Seite, verbessert sich mit körperlicher Aktivität und geht nicht mit Übelkeit oder Erbrechen, Licht- und Lärmempfindlichkeit einher. Ob Patienten mal unter der einen Kopfschmerzform, mal unter einer anderen leiden können, ist umstritten. »Wahrscheinlich haben viele Migräniker zwischen den schweren Attacken auch leichtere, die sich fälschlicherweise wie Spannungskopfschmerzen anfühlen können«, sagt Jürgens.
Die Veranlagung zu Migräne lässt sich vererben. In einer großen Studie hat ein internationales Forscherteam 44 Genvarianten entdeckt, die das Risiko für die Krankheit erhöhen. »Nicht alle Patienten haben alle Genvarianten. Das könnte erklären, warum sich die Migräne im klinischen Bild so unterschiedlich äußert«, erklärt Oberarzt Jürgens.
Eine im Hirn wandernde Welle sorgt für Migräne
Über die genauen Ursachen der Erkrankung rätselt die Wissenschaft. »Viele Zusammenhänge bei der Auslösung von Migräneattacken haben wir noch nicht verstanden«, sagt die Kopfschmerzspezialistin Ruth Ruscheweyh, die am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Thema forscht. Eine Rolle scheint eine Übererregbarkeit der Hirnrinde zu spielen: Normalerweise nimmt die neuronale Antwort auf einen wiederholten Reiz wie einen Ton mit der Zeit ab, weil der Mensch sich an ihn gewöhnt. Bei Migränepatienten ist dieser Filtermechanismus beeinträchtigt, selbst zwischen den Attacken. »Wenn drei Leute gleichzeitig etwas von ihnen wollen oder im Restaurant leise Hintergrundmusik läuft, können Menschen mit Migräne das schlecht ausblenden«, sagt Neurologin Ruscheweyh. Doch die Sensibilität mache aufmerksamer für Details, Betroffene gelten als leistungsstark und kreativ.
Migräne? Hier finden Sie Hilfe
Auf den Internetseiten der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft finden Sie die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Kopfschmerz und Migräne. Es gibt Informationen über medikamentöse Behandlungsformen, ebenso ein Verzeichnis mit Kopfschmerzexperten, die sich regelmäßig fortbilden, und Kopfschmerzkalender zum Runterladen.
Die MigräneLiga e. V. Deutschland unterstützt betroffene Migränepatienten mit Aktionen und Informationen rund um die Migräne. Auf der Website lässt sich nach Selbsthilfegruppen in der Nähe suchen.
Die App »M-sense« hat die Zulassung vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bekommen und ist damit als App auf Rezept zu verschreiben. Die Anwendung erlaubt eine personalisierte und mobile Migränetherapie. Sie bietet ihren Nutzerinnen und Nutzern verschiedene Funktionen: ein Tagebuch, um Schmerzattacken, potenzielle Einflussfaktoren und Medikamenteneinnahmen festzuhalten, sowie beispielsweise Wetterdaten.
Kurz vor einem Anfall reagiert der Kortex besonders empfindlich. Dann kann es zu der Aura kommen. Sie wird offenbar durch eine Welle der Aktivierung in der Hirnrinde ausgelöst, die vom Hinterkopf über das Gehirn wandert. »Diese Aktivierung trägt wahrscheinlich auch zur Entstehung der Kopfschmerzen bei«, erklärt die Neurologin. »Wo genau im Gehirn eine Attacke beginnt, wird in der Forschung jedoch heiß diskutiert.« Fest steht, dass die Migräne sich durch unspezifische Vorboten ankündigt: Manche Menschen fühlen sich in den Stunden oder Tagen davor müde, gereizt oder depressiv, andere sind aufgedreht oder haben Heißhunger. Im Jahr 2016 entdeckte eine Arbeitsgruppe am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, dass eine Hirnregion in jener Vorphase besonders aktiv ist: der Hypothalamus. »Diese Region spielt offensichtlich eine wichtige Rolle für den Beginn einer Migräneattacke«, sagt die Kopfschmerzforscherin.
Auch Migränepatientin Marion Deike nahm deutlich wahr, wann die nächste Attacke auf sie zurollte. »Dann konnte ich mich kaum konzentrieren. Mein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt«, erzählt sie.
»Ich schluckte zwei bis drei Triptane täglich, um meinen Beruf weiter ausüben zu können«
Marion Deike, Migränepatientin
Die Veränderungen im zentralen Nervensystem führen zu einer Aktivierung des Trigeminusnervs. Seine feinen Fasern reichen in die Hirnhäute hinein und verästeln sich in den Wänden der Blutgefäße. Als Folge der Aktivierung werden dort verschiedene Botenstoffe, unter anderem das Neuropeptid CGRP, ausgeschüttet, die die Gefäße weiten, eine Entzündungsreaktion auslösen und die Nervenfasern noch sensibler machen. Dadurch spüren viele Menschen mit Migräne den Blutfluss in den Hirnhäuten als pulsierenden Schmerz, vor allem wenn sie den Schädel bewegen.
Weil sie sich so gut tarnt, wird die Erkrankung oft nicht oder nur schlecht behandelt. »Zu wenige Menschen suchen einen Arzt wegen ihrer Beschwerden auf«, sagt der Mediziner Tim Jürgens. Von fast 2000 Patienten, die sich von 2010 bis 2018 in der Kopfschmerzambulanz des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf meldeten, war rund ein Drittel nicht nach modernen Therapiestandards behandelt worden, ergab eine Befragung. Rund 60 Prozent derjenigen mit drei oder mehr Attacken pro Monat erhielten nicht die Medikamente, die sie gebraucht hätten.
Was hilft, Attacken zu mildern
Dabei kennt die Medizin heute zahlreiche Wege, um Migräne zu lindern. Reichen rezeptfreie Schmerzmittel wie Ibuprofen und Aspirin während einer Attacke nicht aus, verschreiben Ärzte Triptane. Die Medikamente bewirken, dass sich die Blutgefäße in den Hirnhäuten wieder verengen und weniger entzündungsfördernde Botenstoffe ausgeschüttet werden. Triptane dürfen Patienten jedoch maximal neun Tage im Monat einnehmen. Zu viele Schmerzmittel können ihrerseits Kopfschmerz auslösen und zu einer chronischen Migräne führen.
Das hat auch Marion Deike erlebt. Ein Triptan erschien ihr erst wie ein Wundermittel. Nach dem Besuch beim Vertretungsarzt konnte sie die nächste Attacke mit dem Medikament bei den ersten Anzeichen beenden und sogar auf eine Geburtstagsfeier gehen, statt sich stundenlang zu erbrechen. Weil das Triptan so gut anschlug, war klar: Sie litt unter einer Sonderform der Migräne. Die Diagnose lautete »Syndrom des zyklischen Erbrechens«, das offenbar eng mit der klassischen Migräne zusammenhängt.
Trotz der Medikamente traten Deikes Anfälle mit der Zeit immer häufiger auf, zuletzt jeden Tag. »Ich schluckte zwei bis drei Triptane täglich, um meinen Beruf weiter ausüben zu können«, erzählt Marion Deike. An den Wochenenden verzichtete sie zwar auf die Tabletten, nahm Erbrechen und Schmerzen in Kauf. Doch die Attacken während dieser Medikamentenpausen wurden jeweils schwerer.
»Um einen Ausweg zu finden, müssen Patienten die Einnahme der Akutmedikamente einschränken. Besonders wirksam ist ein Entzug kombiniert mit einer vorbeugenden Behandlung«, erklärt der Arzt Tim Jürgens. Zur Prophylaxe gibt es Arzneien, die die Häufigkeit oder Intensität der Attacken senken. Ihre Wirksamkeit als Migränemittel wurde meist zufällig entdeckt: Betablocker, auch Arzneimittel gegen Schwindel, Epilepsie und Depressionen gehören dazu. Nicht alle wirken bei jeder Patientin, und nicht immer werden sie gut vertragen.
»Die Antikörper sind meist sehr gut verträglich und wirken schnell, wir haben aber noch wenig Erfahrungen im Einsatz über lange Zeit«
Ruth Ruscheweyh, Neurologin
Seit 2018 gibt es erstmals ein Prophylaxe-Medikament, das speziell für Menschen mit Migräne entwickelt wurde: monoklonale Antikörper. Sie blockieren den Botenstoff CGRP, der während der Attacke in den Hirnhäuten ausgeschüttet wird. Da sie relativ teuer sind, übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten aktuell nur, wenn alle Standardmedikamente zur Vorbeugung nicht anschlagen oder kontraindiziert sind. »Die Antikörper sind meist sehr gut verträglich und wirken schnell, wir haben aber noch wenig Erfahrungen im Einsatz über lange Zeit«, sagt die Forscherin Ruscheweyh. Zudem helfen auch diese Mittel nicht allen Erkrankten. »Migräne funktioniert nicht bei jedem gleich. Es gibt noch weitere Botenstoffe und andere Mechanismen, die bei manchen Patienten eine größere Rolle spielen als CGRP und die wir nur teilweise kennen«, sagt die Forscherin weiter. Teams versuchen vorherzusagen, welche Patienten auf welche Therapie ansprechen, zum Beispiel indem sie die Menge von CGRP im Blut oder in der Tränenflüssigkeit bestimmen. Weitere Medikamente sind in den USA bereits zugelassen (siehe »Neues aus der Migräneforschung«).
»Heilen können wir Migräne nicht, aber die Schwelle hochsetzen, ab der eine Attacke beginnt«, erklärt Jürgens. Im Alltag Stress zu vermeiden, Ruhepausen einzuplanen, Entspannungsverfahren und Ausdauersport können helfen. Regelmäßige Schlafens- und Essenszeiten senken die Wahrscheinlichkeit für eine Attacke zusätzlich. Völlig kontrollieren lässt sich die Erkrankung häufig trotzdem nicht. Was manchen womöglich beruhigt: »Mit zunehmendem Alter lässt die Migräne oft von selbst nach«, sagt der Arzt weiter.
Marion Deike bekam durch die Corona-Pandemie und die flexiblen Arbeitszeiten im Homeoffice eine ungeahnte Chance. Mit ihrem Neurologen entschloss sich die 52-Jährige im Jahr 2020, die übermäßige Einnahme von Triptanen zu beenden. Seit Mitte August nimmt sie nur noch monoklonale Antikörper zur Vorbeugung. »Die erste Zeit war die Hölle«, sagt sie. Ihre Arbeit holte sie nach, sobald die Migräne sich etwas verbesserte. Regelmäßig nahm sie sich zudem zehnminütige Auszeiten, schloss die Augen und genoss die Stille. Unterstützung bekam sie auch durch eine Selbsthilfegruppe der MigräneLiga, die sie selbst leitet. Die Erfahrungen hat sie in ihrem Buch »Migräne – mehr als nur Kopfschmerz« verarbeitet. Mit der Zeit wurden die Phasen zwischen den Attacken länger. »Im November musste ich mich nur einmal erbrechen«, erzählt sie. »Mein Kopf fühlt sich viel freier und ruhiger an.« Sie fasst neuen Mut: »Ich will mich von der Migräne nicht knebeln lassen, sondern sie als Teil von mir akzeptieren. Jetzt erobere ich mir mein Leben zurück.«
Neue Mittel und Lehren aus der Migräneforschung
Klinische Studien und Laboruntersuchungen liefern weitere Angriffspunkte für Migränebehandlungen. Das sind aktuelle Erkenntnisse:
Lasmiditan. Menschen mit Migräne und einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sollten Triptane meiden, da diese die Blutgefäße verengen und den Blutdruck erhöhen. In den USA ist nun ein Medikament ohne diese Nebenwirkung zugelassen: Lasmiditan. Während Triptane den Rezeptor 5-HT1B für den Botenstoff Serotonin blockieren, besetzt Lasmiditan den Rezeptor 5-HT1F. Unter dem neuen Arzneimittel treten seltener Herz-Kreislauf-Probleme auf. Die häufigste Nebenwirkung war Schwindel.
Rimegepant. Das zweite neue Medikament in den USA gegen akute Migräneattacken enthält sehr kleine Moleküle, die die Rezeptoren für CGRP blockieren, Gepante genannt. Zwei Fallbeschreibungen zeigen, dass das Mittel auch Patienten hilft, die bereits monoklonale Antikörper nehmen, obwohl beide Medikamente an den gleichen Rezeptoren ansetzen. Die kleinen Gepante könnten womöglich mehr Rezeptoren erreichen als die deutlich größeren Antikörper.
Akupunktur.Die Behandlung mit Nadeln kann Migräneattacken ohne Aura vorbeugen, wie eine Studie zeigt. Die Teilnehmenden erhielten acht Wochen lang entweder ihre übliche Behandlung, zusätzlich Akupunktur oder eine vorgetäuschte Akupunktur, bei der Nadeln nur scheinbar in die Haut gestochen werden. Nach drei bis fünf Monaten erlebte die Gruppe mit echter Akupunktur weniger Migränetage als die anderen Teilnehmer. Zuvor hatten mehrere Untersuchungen die Überlegenheit der echten gegenüber der vorgetäuschten Akupunktur angezweifelt.
Levcromakalim.Mit dem Molekül lassen sich Migräneattacken absichtlich auslösen. Das hilft, die Erkrankung besser zu verstehen. Das Mittel kommt bereits bei Bluthochdruck zum Einsatz. Levcromakalim öffnet Kaliumkanäle, die auch an den Zellen des Trigeminusnervs und der Blutgefäße des Kopfes sitzen. Die Kanäle könnten ein Ansatzpunkt für neue Migränemedikamente sein.
Nitroglyzerin. Auch mit diesem Stoff haben Forscher Migränesymptome erzeugt, unter anderem bei Ratten. Eine Studie bestätigt, dass diese künstlichen Attacken mit der echten Migräne vergleichbar sind. Es kommt zu Allodynie – einem Migränesymptom, bei dem selbst leichte Berührungen schmerzen. Migränepatienten, die zu Allodynie neigen, hatten diese Beschwerden auch häufiger bei einem mit Nitroglyzerin erzeugten Anfall. Ihnen halfen dieselben Medikamente wie bei einer spontanen Attacke.
Weitere Informationen finden Sie im »Nature«-Artikel »Research round-up: headache«.
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