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Off-Label-Use: Warum Ärzte Medikamente manchmal zweckentfremden

Magenmittel bei der Geburt, Antiepileptika gegen Migräne – das ist in der Medizin keine Seltenheit. Off-Label-Uses ersetzen oft fehlende Medikamente, vor allem bei Kindern.
Medikamente

In den Tagen nach dem 11. Februar 2020 sorgt das Medikament Cytotec deutschlandweit für Schlagzeilen. Die »Süddeutsche Zeitung« und der Bayerische Rundfunk hatten berichtet, dass es mitunter zu schweren Komplikationen kommen kann, wenn Ärzte die Tablette Schwangeren verabreichen, um eine Geburt einzuleiten: In seltenen Fällen seien Mütter infolge der Medikamentengabe nach einem Gebärmutterriss verstorben oder Kinder mit einem durch Sauerstoffmangel bedingten Hirnschaden zur Welt gekommen.

Doch Cytotec ist nicht einfach nur ein Medikament mit Nebenwirkungen: Eigentlich ist es nicht für Schwangere bestimmt, sondern für Menschen, die Probleme mit dem Magen haben. Dort vermindert es der Gebrauchsinformation zufolge die Produktion von Säure und schützt die Magenschleimhaut. Als Wehenmedikament ist Cytotec gar nicht zugelassen – der Beipackzettel rät auf Grund des Risikos für eine Fehlgeburt sogar Schwangeren und Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, von der Einnahme ab. Trotzdem kommt das Medikament einer nicht veröffentlichten Studie der Universität Lübeck zufolge in rund der Hälfte aller deutschen Kliniken in der Geburtshilfe zum Einsatz.

Für viele Menschen lässt das den Fall Cytotec auf den ersten Blick besonders brisant erscheinen. Dabei ist die »Zweckentfremdung« von Arzneimitteln in der Medizin eigentlich keine Seltenheit.

Seit 1976 müssen Arzneimittel, die in Deutschland neu auf den Markt kommen, zunächst ein Zulassungsverfahren beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), beim Paul-Ehrlich-Institut für Sera und Impfstoffe (PEI) oder bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) durchlaufen. Hier müssen die Hersteller mit Hilfe von klinischen Studien die Wirksamkeit sowie die Unbedenklichkeit ihres Produkts belegen. Die Zulassung erfolgt allerdings in aller Regel immer nur für bestimmte Anwendungsbereiche und/oder Personengruppen. So kann ein Krebsmedikament zum Beispiel nur für Patienten mit einer bestimmten Form von Brustkrebs zugelassen werden. Im Rahmen ihrer Therapiefreiheit haben Ärzte jedoch die Möglichkeit, Medikamente auch zulassungsüberschreitend zu verschreiben, wenn sie der Ansicht sind, dass dies die beste Therapieoption für einen Patienten darstellt. Das bezeichnet man als »Off-Label-Use«.

Genaue Zahlen gibt es nicht

Wie verbreitet Off-Label-Anwendungen von Medikamenten genau sind, ist schwer zu sagen. Dem BfArM liegen dazu keine Zahlen vor. Grundsätzlich scheint der Einsatz jedoch stark von Fachgebiet zu Fachgebiet zu variieren. Besonders häufig kommt Off-Label-Use Studien zufolge in der Kinder-, Krebs- und Palliativmedizin vor sowie in der Psychiatrie. Laut einer großen Metaanalyse von Forschern aus Singapur erhalten 13 bis 71 Prozent aller Krebspatienten während ihrer Behandlung mindestens ein Off-Label-Chemotherapeutikum. Hat der Tumor bereits gestreut oder ist die Krankheit schon weit fortgeschritten, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Arzneimittel verordnet werden, die für diesen Zweck nicht zugelassen sind. In der Palliativmedizin – also bei der Versorgung unheilbar Kranker – ist das bei schätzungsweise bis zu 25 Prozent aller Verordnungen der Fall.

Besonders häufig kommt Off-Label-Use Studien zufolge in der Kinder-, Krebs- und Palliativmedizin vor sowie in der Psychiatrie

Mit am stärksten wird in der Kinderheilkunde auf Off-Label-Medikamente zurückgegriffen. Ein Team um Bernd Mühlbauer vom Klinikum Bremen Mitte untersuchte 2009 die Arzneimittelverordnungen für rund 289 000 Kinder und Jugendliche zwischen 0 und 16 Jahren, die bei der GEK versichert waren (heute: Barmer GEK). Dabei stellten die Forscher fest, dass etwa 3,2 Prozent der Wirkstoffe off-label verordnet worden waren. Bei weiteren knapp zehn Prozent der Verordnungen ließ sich der Zulassungsstatuts der Medikamente nicht eindeutig feststellen. Neugeborene und Säuglinge waren jedoch deutlich häufiger von Off-Label-Use betroffenen: Bei ihnen verschrieben Ärzte nur in 42 beziehungsweise 82 Prozent der Fälle zugelassene Arzneimittel. Noch einmal höhere Zahlen nennt der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI): Ihm zufolge sind 65 bis 90 Prozent aller in der Pädiatrie verwendeten Arzneimittel »nicht wissenschaftlich für Kinder geprüft«. Je jünger die Patienten sind und je seltener ihre Erkrankung ist, desto häufiger greifen Ärzte auf Mittel zurück, die eigentlich nicht für Kinder – oder nicht für das entsprechende Krankheitsbild – zugelassen sind. Auch das BfArM spricht auf seiner Internetseite davon, dass »viele Arzneimittel«, die bei Kindern eingesetzt würden, nicht ausreichend an Kindern geprüft und deshalb nicht für diese zugelassen seien.

Kritiker sehen darin vor allem deshalb ein Problem, weil Kinder – wie oft zu lesen – eben keine kleinen Erwachsenen sind. Ihr Organ- und Nervensystem entwickelt sich noch, weshalb es schwierig ist, Medikamentendosen, die eigentlich für Erwachsene gedacht sind, auf sie herunterzurechnen. Und auch eine geeignete Darreichungsform fehlt oft: Kleinkinder können nun mal keine Tablette schlucken. Und ob der Wirkstoff noch dieselbe Wirkung entfaltet, wenn man die Tablette zerkleinert oder pulverisiert, ist fraglich.

Wirkung und Risiken von Off-Label-Produkten sind oft schlechter erforscht

Nicht nur für Kinder, auch für Erwachsene bringen Medikamente, die off-label verschrieben werden, gewisse Nachteile mit sich. »Während für die zulassungskonforme Anwendung hinreichend Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit vorliegen, so dass ein behördlich geprüftes und bestätigtes positives Nutzen-Risiko-Verhältnis vorliegt, ist das bei Anwendung von Arzneimitteln außerhalb ihrer Zulassungsbedingungen häufig nicht der Fall«, erklärt Maik Pommer, Pressesprecher des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. Der Medizinethiker Bert Heinrichs vom Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich sieht das ähnlich: »Bei Off-Label-Produkten weiß man oft sehr viel weniger über etwaige Risiken. Die Risiko-Nutzen-Abwägung wird damit für den behandelnden Arzt schwieriger.« Zudem sei es komplizierter, solche Arzneimittel auf wirtschaftlicher Ebene mit alternativen Medikamenten zu vergleichen, etwa, wenn es um die Kostenerstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen geht (die derzeit Off-Label-Medikamente nur unter bestimmten Voraussetzungen bezahlen).

Das dritte Problem ist in den Augen von Bert Heinrichs die Aufklärung der Patienten. Entscheidet sich ein Arzt dazu, ein Medikament zu verschreiben, das für diese Patientengruppe oder dieses Krankheitsbild eigentlich gar nicht zugelassen ist, müssen die Betroffenen darüber aufgeklärt werden und ihre Einwilligung geben. Das bedeute auch, dass man ihnen ausführlich erläutert, was Off-Label-Use eigentlich ist – und das sei für die Patienten oft schwer zu verstehen.

Doch wenn die Off-Label-Anwendung von Arzneimitteln mit so vielen Problemen verbunden ist, warum greifen Ärzte dann überhaupt auf diese Praxis zurück? Häufig tun sie das, wenn kein passendes zugelassenes Medikament zur Verfügung steht. Und diese fehlen vor allem aus finanziellen Gründen. Die Medikamentenzulassung ist für Pharmaunternehmen aufwändig und teuer. Versuchspersonen müssen gesucht, eine Vielzahl von klinischen Studien durchgeführt und deren Ergebnisse ausgewertet werden. Deshalb sind Unternehmen vor allem bestrebt, Medikamente für Erkrankungen zu entwickeln und zuzulassen, die besonders häufig vorkommen und sich damit vielfach verkaufen lassen. Menschen mit seltenen Erkrankungen haben in dieser Hinsicht oft das Nachsehen. Ohne Off-Label-Use stünden für sie manchmal kaum genügend Therapieoptionen zur Verfügung.

Mitunter ist die Forschung schneller als die Zulassung

Zum anderen bringt Off-Label-Use aber Vorteile mit sich, denn die medizinische Forschung ist manchmal schneller als Zulassungsverfahren. Möglicherweise liegen für ein Medikament längst ausreichend Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit vor, aus denen geschlossen werden kann, dass sich ein Einsatz bei anderen Krankheitsbildern ebenfalls lohnt. Das kann zum Beispiel in der Krebsmedizin der Fall sein, wenn sich etwa herausstellt, dass von einem Medikament, das eigentlich nur für Frauen mit Brustkrebs zugelassen ist, auch Patienten mit Darmkrebs profitieren können. In solchen Fällen ist es sogar die Pflicht eines Arztes, den Betroffenen keine womöglich wirksame Therapie vorzuenthalten – vor allem, wenn alle anderen Alternativen bereits ausgeschöpft sind.

Eine Untersuchung von Forschern der McGill University in Montreal, Kanada, deutet darauf hin, dass Off-Label-Use in Fällen, in denen genug wissenschaftliche Evidenz vorliegt, ähnlich sicher ist wie In-Label-Use. Gibt es nur wenige qualitativ hochwertige Studien, sollten Ärzte hingegen Vorsicht walten lassen.

»Off-Label-Use muss ein Provisorium sein und darf nur vorübergehend verwendet werden«
Bert Heinrichs, Forschungszentrum Jülich

Das BfArM steht weiterhin zur ärztlichen Therapiefreiheit – selbst wenn es In-Label-Use eindeutig bevorzugt. Und auch Bert Heinrichs sagt: »Ich glaube nicht, dass man Off-Label-Use samt und sonders verdammen sollte.« Die Wissenschaft lebe nun mal auch von Zufällen, davon, dass Ärzte zufällig entdecken, dass ein Medikament noch für eine ganz andere Erkrankung gut sein kann, und dieser Erkenntnis nachgehen. Doch er ist davon überzeugt, dass Off-Label-Use im besten Fall nur ein Übergangsstadium sein sollte, bis ein Arzneimittel, das sich als nützlich erwiesen hat, dann schließlich tatsächlich für einen neuen Anwendungsfall zugelassen wird. »Off-Label-Use muss ein Provisorium sein und darf nur vorübergehend verwendet werden.« Die Anreize dafür müssten Regierungen schaffen.

Ein Schritt in diese Richtung ist zum Beispiel die neue EU-Kinderarzneimittelverordnung, die festlegt, dass für jedes Arzneimittel, das seit 2008 in der Europäischen Union zugelassen werden soll, auch ein pädiatrisches Prüfkonzept mitgeliefert werden muss, welches das geplante Entwicklungsprogramm für die Anwendung an Kindern beschreibt. Selbst wenn noch nicht alle Instrumente der neuen Verordnung wirklich greifen: Bis 2017 wurden so immerhin insgesamt 260 neue Arzneimittel für Kinder zugelassen, wie eine erste Bilanz zeigt.

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