Mikroplastik im Meer: Was beim Plastikabkommen auf dem Spiel steht
Wie ein extravagantes Armband aus grüngoldenen Kristallen sieht die Eisalgenkolonie aus, die unter dem arktischen Meereis wächst. Melosira arctica ist zentraler Baustein im Ökosystem des Arktischen Ozeans, in manchen Jahren ist sie für annähernd die Hälfte der dort produzierten Biomasse verantwortlich. Oft wächst sie in großen Kolonien an der Unterseite des Meereises. Manche verflechten sich zu schleimigen, gelblich-grünlichen Matten, andere Kolonien schweben als Klumpen im Wasser.
Wer einen solchen Klumpen unter das Mikroskop legt, wird heutzutage fast unweigerlich auf die Spuren des Plastikzeitalters stoßen, sogar hier, in einer der abgelegensten Region der Erde: Denn in den Melosira-Kolonien findet sich zehnmal mehr Mikroplastik als im umgebenden Meerwasser. Es sind rund 31 000 Partikel pro Kubikmeter – oder noch viel mehr, wenn man auch jene Teilchen mitzählen würde, die so klein sind, dass sie nur mit speziellem Equipment aufgespürt werden können.
Mikroplastikpartikel haben definitionsgemäß eine Größe zwischen 1 und 5000 Mikrometern, das sind fünf Millimeter. Sie stammen aus Zigarettenfiltern, von Autoreifen, aus Kosmetik und Kleidung, von Industrieabfällen sowie dem Zerfall größerer Objekte. Und sie sind überall. Fachleute schätzen ihre Zahl weltweit auf 170 Billionen Stück.
Und es ist kein Ende in Sicht: Nach einer OECD-Studie könnte sich der Plastikmüll bis 2060 schlimmstenfalls verdreifachen. Über 460 Millionen Tonnen Kunststoffe sind es jetzt schon, die Jahr für Jahr hergestellt werden. Ein Viertel davon landet im Müll, weniger als zehn Prozent werden recycelt.
Schon lange fordern Plastikfachleute und Umweltschützer darum von der internationalen Gemeinschaft ambitionierte Zielsetzungen, um die Plastikflut einzudämmen. Machbar wäre das offenbar. So legte das Umweltprogramm der Vereinten Nationen Mitte Mai 2023 einen Fahrplan vor, wie sich der Plastikeintrag bis zum Jahr 2040 um 80 Prozent reduzieren ließe. Auf dem G7-Treffen im japanischen Sapporo proklamierten die Vertreterinnen und Vertreter der Teilnehmerländer im April 2023 sogar ein vollständiges Ende des Plastikeintrags in die Umwelt bis 2040. Die Verschmutzung zähle neben der Klimakrise und dem Artensterben zu den »drei existenziellen Krisen unserer Zeit«, erklärten die Umweltminister der sieben wichtigsten Industrieländer.
Doch was ist der bessere Weg zur Reduktion der Plastikverschmutzung? Mehr Recycling oder lieber weniger Kunststoff? Für Melanie Bergmann, Meeresforscherin am Alfred-Wegener-Institut (AWI), die an den Verhandlungen in Paris teilnahm, liegt die Antwort klar auf der Hand: Die Vermeidung sei die kostengünstigste und am leichtesten umzusetzende Maßnahme, die außerdem auch CO2 einsparen würde.Auch Michael Nase, Leiter des Instituts für Kreislaufwirtschaft der Bio:Polymere an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hof, plädiert für die Reduktion: Nur volkswirtschaftliche Gründe sprächen dagegen sowie die Sorge, nicht mehr dem Wunsch der Menschen nach kostengünstigen Kunststoffen nachkommen zu können. »Dementsprechend positionieren sich Nationen mit großen Wirtschaftszweigen im Bereich der Kunststoffproduktion und -verarbeitung sowie Verbände mit Herstellern, die von kostengünstigen Kunststoffen abhängig sind, in den Verhandlungen gegen die Reduktion der Kunststoffproduktion«, sagte Nase dem Science Media Center.
Was auf dem Spiel steht, erfährt die AWI-Forscherin Bergmann bei ihren Expeditionen ins Nordpolarmeer mit eigenen Augen. Im »Hausgarten«, so heißt das Gebiet in der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Langzeitbeobachtungen durchführen, studierte sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen der Universitäten in Halifax und Birmingham die Alge Melosira arctica und deren eigenes Müllproblem. Eigentlich ist Bergmann Expertin für die Tiere der Tiefsee, doch der wachsende Plastikmüll nimmt auch in ihren eigenen Forschungsprojekten immer mehr Raum ein.
Melosira arctica ist der Algenexpress für das Mikroplastik. Normalerweise sinken die frei geschmolzenen Minipartikel mit dem Meeresschnee nach unten. Das sind weißliche Flocken aus Bakterienklumpen, Kot und anderen organischen Resten. Die Flocken sinken langsam ab und werden dabei von Strömungen zur Seite verdriftet. Das Absinken der schwereren Algenklumpen hingegen geht wesentlich schneller. Dadurch findet sich in den Tiefseesedimenten im Bereich der Eiskante mehr Mikroplastik, als man ohne diesen Mechanismus erwarten würde. Hier in der Tiefe liegt der Endpunkt einer Reise, die die Kunststoffteilchen aus niedrigeren Breitengraden zunächst über die Luft oder das Wasser, dann über das Eis in die Polarregion verfrachtete.
Plastik-Smog
Es ist dasselbe Muster, das sich überall zeigt: Längst sind die bunten Kunststoffpartikel in allen Teilen der Ozeane angekommen – vom Strand bis zum Tiefseesediment, von der Hochsee bis in die abgelegenen Polargebiete, in Mikroben und Blauwalen. So allgegenwärtig sind sie, dass Marcus Eriksen dafür schon vor knapp zehn Jahren den Begriff »Plastik-Smog« eingeführt hat: Als Gründer und CEO des Naturschutzverbands 5Gyres hat er sich der Erforschung und Bekämpfung von Plastik vor allem in den Meeren verschrieben. Das 5Gyres-Institut fördere Maßnahmen gegen die globale Gesundheitskrise der Plastikverschmutzung mit Hilfe von Wissenschaft, Bildung und Interessenvertretung, erklärt der Plastikforscher im Interview.
Anhand eigener Datensätze und Publikationen anderer Forschender haben Eriksen und Kollegen nun die Zahl der Kunststoffteilchen in den Weltmeeren abgeschätzt. Laut ihrer aktuellen Studie schwimmen zwischen 82 und 358 Billionen Teilchen in den Ozeanen, zusammengenommen bringen sie es auf ein Gewicht irgendwo zwischen 1,1 und 4,9 Millionen Tonnen. Die Mittelwerte liegen bei 171 Billionen Teilchen und 2,3 Millionen Tonnen. Dabei handelt es sich allerdings nur um das Mikroplastik, das im freien Oberflächenwasser vorhanden ist, und nicht um jenes in den Böden der Tiefsee.
»Plastik-Smog« nennt das Erikson, weil er verständlich machen will: Das Gros der Partikel ist zu klein zum Rausfischen. Es sei keine »Suppe«, wie manche zu der Plastikflut sagen. »Smog ist eine viel bessere Metapher.« Klein, toxisch, extrem häufig und überall verbreitet.
Mikroplastik gefährdet Wachstum und Gesundheit
Mikroplastik hat je nach Größe, Form und Zusammensetzung unterschiedliche mechanische und chemische Wirkungen auf alle Bereiche der Ökosysteme. Die bunten Kunststoffe sowie Zusatzstoffe (Additive) und ihre Zerfallsprodukte entfalten eine ganze Palette schädlicher Wirkungen, zusätzlich fangen die Kunststoffpartikel im Meer weitere schädliche Chemikalien ein.
Bei Pflanzen und Algen verursachen die kleinen Kunststoffpartikel oft Wachstumsstörungen und verringern die Biomasseproduktion. Tiere hingegen verwechseln die bunten oder transparenten Kunststoffobjekte mit Nahrung. Zwar scheiden sie einen Teil davon wieder aus, ein Teil verbleibt aber im Magen. Die US-Forscherin Shirel Kahane-Rapport und ihr Team fanden heraus, dass ein Blauwal vor Kalifornien bis zu zehn Millionen Plastikteilchen täglich aufnimmt, deren Gesamtgewicht fast einen ganzen Zentner betragen kann. Wie viel der Wal davon wieder ausscheidet und wie viel im Innern verbleibt, wollen die Biologen in weiteren Studien ermitteln.
Klar ist: Sammelt sich der Müll im Verdauungstrakt, verhungern die Tiere. Größere Plastikobjekte verursachen in den Mägen von Vögeln und Walen schwere chronische Entzündungen, die so genannte Plastikose, die Wachstum, Verdauung und Fortpflanzung hemmt. Ob Mikroplastik bei kleineren Tieren ähnliche Auswirkungen hat, ist noch nicht bekannt und dürfte schwierig nachweisbar sein.
Polymerverbindungen, die schwerer als das Meerwasser sind, bergen eine weitere Gefahr für Quallen, Salpen oder andere gelatinöse Tiere, die im Wasser schweben. Ab einer bestimmten Menge versinken sie in den Abgründen des Ozeans. Ohne ihren allnächtlichen Aufstieg zum Fressen an der Meeresoberfläche können sie nicht leben.
Mikroplastik in der Dose
Auch der Mensch nimmt Mikroplastik aus dem Meer auf. Eine aktuelle ecuadorianische Studie fand in Dosentunfisch 440 bis 690 Partikel der Kunststoffe PET, Nylon und Polystyrol pro 100 Gramm. Meerestiere wie Austern, Garnelen, Tintenfisch, Krabben und Sardinen sind je nach Art und Lebensraum ebenfalls vor allem mit Polyvinylchlorid und Polyethylen belastet, wie ein Forscherteam 2020 an australischem Seafood nachwies – Sardinen am stärksten, Tintenfische am geringsten.
Viele Kunststoffe und ihre Zerfallsprodukte enthalten toxische Chemikalien: So wirken Bisphenol, Phthalate und DDT wie körpereigene Hormone. Selbst geringe Mengen dieser so genannten endokrinen Disruptoren können an der Entstehung von Brust- und Prostatakrebs beteiligt sein und Unfruchtbarkeit, Diabetes mellitus, kardiovaskuläre und neurologische sowie eine Reihe anderer Erkrankungen verursachen, warnt etwa das Umweltbundesamt. Von den mehr als 13 000 eingesetzten Chemikalien stuft die UN knapp ein Viertel als gefährlich ein.
Mikroplastik stört den Kohlenstoffkreislauf und den Klimaschutz
Die Ozeane sind die größten aktiven Kohlenstoffspeicher der Erde. Das Wasser selbst und seine Bewohner wirken wie ein gigantischer CO2-Puffer, der bislang einen Großteil des vom Menschen freigesetzten Treibhausgases aufgenommen hat. Doch gerade dort, wo grundlegende biogeochemische Prozesse zur Meeresproduktivität stattfinden – in den oberen Metern der Wassersäule –, schwimmt auch der größte Teil der Kunststoffpartikel. Hier nehmen Großalgen- und Seegrasbestände, aber auch Plankton und Bakteriengemeinschaften das Klimagas auf. Organische Reste und Tierleichen sinken als Meeresschnee zu Boden, dieser wiederum wird von Tieren und Mikroben in und auf dem Boden gefressen. Dabei sind die Mikroben die größte Biomasse der Tiefsee.
Wenn sich das Mikroplastik negativ auf Wachstum und Vermehrung von Algen und tierischem Plankton auswirkt, nehmen diese Myriaden von Geschöpfen weniger CO2 auf. Entsprechend geringer fällt der Speicherungseffekt aus – ein Phänomen, das immer mehr Forschungsprojekte bei ihren Untersuchungen beobachten. Auch wenn noch weitere Studien nötig sind, zeichnet sich bereits ab, dass das Mikroplastik der Menschheit auch beim Klimaschutz in die Quere kommen dürfte.
Für umso wichtiger halten es viele Fachleute, dass bei den Beratungen die richtigen Weichen gestellt werden. »Die größten Einsparpotenziale gibt es mit Sicherheit im Bereich der Verpackungen«, sagt Henning Wilts vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Diese seien in Deutschland allein für 40 Prozent der Einsatzmengen und für 60 Prozent der Kunststoffabfälle verantwortlich. »Plastik ist nicht per se gut oder schlecht, es kommt immer auf die konkrete Nutzung an.«
Recycling kann vielen Fachleuten zufolge bestenfalls ein Teil der Lösung sein. Nicht nur, dass es einer aktuellen Studie zufolge sogar besonders viel Mikroplastik freisetzt, es müssten auch zunächst die nötigen Voraussetzungen dafür geschaffen werden – etwa durch ein passendes Design, das weitgehend ohne Materialmix auskommt.
Zudem zeigt es sich, dass die reichen Industriestaaten, die zugleich die größten Kunststoffproduzenten sind, ihr Müllproblem in die Länder des globalen Südens auslagern. In den ärmeren Ländern ohne Entsorgungsinfrastruktur landet vieles davon im Meer und zerreibt sich zu Mikroplastik. »Das ist ein globales Problem, das sich nur global lösen lässt«, meint Melanie Bergmann.
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