Innere Ruhe: »Man kann Stress ausschalten, indem man die Umwelt anders betrachtet«
Der Neurowissenschaftler Andrew Huberman von der Stanford University betrachtet psychischen Stress aus einer biologischen Perspektive. Er sagt, es komme nicht darauf an, was wir wahrnehmen. Vielmehr gehe es darum, wie wir darauf reagieren – mit den Augen und mit der Atmung. Huberman ergründet seit rund 20 Jahren, wie das Sehsystem funktioniert. 2018 berichtete seine Arbeitsgruppe, jene neuronalen Pfade entdeckt zu haben, die auf eine sichtbare Bedrohung reagieren und die Angst und Erstarren auslösen.
Eine kleine, aber wachsende Anzahl von Studien zeigte außerdem, dass eine Veränderung des Atems auch die Hirnaktivität verändern kann. Ein Team um Mark Krasnow von der Stanford University und Jack Feldman von der University of California in Los Angeles beschrieb eine enge Verbindung zwischen Neuronen, die die Atmung kontrollieren, und der Hirnregion, die für Erregung und Panik verantwortlich ist. Man weiß also immer mehr darüber, wie Sehen und Atmen direkt im Gehirn wirken. Andrew Huberman schildert den Stand der Forschung.
Professor Huberman, was ist Stress?
Stress liegt auf einem Kontinuum der autonomen Erregung: an einem Ende das Koma, am anderen Ende eine Panikattacke mit Herzrasen, erweiterten Pupillen und Hyperventilation. Dazwischen liegen weniger starke Formen von Stress, Alarmbereitschaft, Konzentration, Schläfrigkeit und Schlaf. Stress bedeutet normalerweise ein hohes Maß an vegetativer Erregung. Das dient dazu, den Körper zu mobilisieren. Manchmal passt das gut zu den äußeren Anforderungen, etwa wenn man rennen muss, um den Zug zu erwischen. Aber wenn die Stressreaktion spontan kommt oder übermäßig stark ausfällt, kann sie auch krankhaft sein.
Wie hängen Stress und Sehen zusammen?
Wenn man etwas Aufregendes oder Belastendes sieht, wie eine Schlagzeile in den Nachrichten, dann steigt der Puls, der Atem geht schneller. Eine der stärksten Reaktionen betrifft aber die Augen: Die Pupillen weiten sich, und die Position der Linsen verändert sich. Das visuelle System wechselt sozusagen in den Porträtmodus eines Smartphones. Das Sichtfeld verengt sich. Man sieht eine Sache schärfer, und alles andere wird unscharf. Die Augäpfel drehen sich ein wenig in Richtung Nase, wodurch sich die Tiefenschärfe und der Fokus auf einen einzigen Fleck einstellen. Das ist ein primitiver und uralter Mechanismus, mit dem Stress das Sichtfeld steuert.
Wie wirkt sich das auf den Körper aus?
Das fokale Sehen aktiviert das sympathische Nervensystem. Alle Neurone vom Nacken bis zum oberen Teil des Beckens werden auf einmal aktiv und setzen Botenstoffe und chemische Substanzen frei, die dafür sorgen, dass man unter starker Erregung steht und unruhig wird.
Warum ist das Sichtfeld in dieser Weise mit dem Erregungszustand im Gehirn verbunden?
Was die meisten Menschen nicht wissen, ist, dass die Augen eigentlich zum Gehirn gehören. Sie sind nicht mit dem Gehirn verbunden – sie sind das Gehirn! Während der Entwicklung bilden die Augen zunächst einen Teil des embryonalen Vorderhirns. Sie werden im ersten Trimester aus dem Schädel herausgedrückt, und dann verbinden sie sich wieder mit dem Rest des Gehirns. Sie sind also ein Teil des zentralen Nervensystems. Da die Augen außerhalb des Schädels liegen, kann sich der Organismus an der Tageszeit orientieren. Und so können Teile des Gehirns die Ereignisse in der Umgebung direkt wahrnehmen und bei Bedarf die Alarmbereitschaft von Gehirn und Körper anpassen. Es wäre schlimm, wenn wir uns erst dann auf eine Reaktion vorbereiten könnten, wenn etwas unmittelbar mit uns in Kontakt tritt.
Gibt es einen visuellen Modus, der mit innerer Ruhe einhergeht und den Stresslevel verändern kann?
Ja, den »Panoramablick«, auch »optischer Fluss« genannt. Wenn man den Blick zum Horizont oder in die Ferne schweifen lässt, dann schaut man nicht lange an eine Stelle. Hält man den Kopf dabei ruhig, kann man den Blick weiten, so dass man bis an die Ränder des eigenen Blickfelds sehen kann. Diese Art des Sehens dämpft einen Mechanismus im Hirnstamm, der an Wachsamkeit und Erregung beteiligt ist. Man kann also eine Stressreaktion tatsächlich ausschalten, indem man die Art und Weise ändert, wie man die Umgebung betrachtet, unabhängig davon, was sich dort befindet.
»Zwei oder drei physiologische Seufzer sind der schnellste bekannte Weg, die autonome Erregung wieder auf ein normales Niveau zu bringen«
Sie erforschen auch die Atmung als Methode, die autonome Erregung zu regulieren.
Ja. Wie das Sehen bietet auch die Atmung einen schnellen und offensichtlichen Weg, die autonome Erregung zu steuern. Die Art und Weise, wie wir atmen, wirkt sich sehr stark auf unseren Stresszustand aus. Daten zeigen, dass Menschen und Tiere während des Schlafs und unter beengten Umständen so genannte physiologische Seufzer ausstoßen, also ein doppeltes Einatmen gefolgt von Ausatmen. Kinder tun das, wenn sie schluchzen. Zwei oder drei physiologische Seufzer sind der schnellste bekannte Weg, die autonome Erregung wieder auf ein normales Niveau zu bringen.
Warum hilft diese Art der Atmung beim Stressabbau?
Unsere Lungen bestehen aus Millionen von winzig kleinen luftgefüllten Bläschen. Wenn wir gestresst sind, fallen sie in sich zusammen wie ein Luftballon, aus dem die Luft entweicht. Physiologisches Seufzen bewirkt, dass sich die Bläschen wieder füllen. Kohlendioxid ist der Auslöser: Wir atmen nicht, weil wir Sauerstoff brauchen, sondern weil der Kohlendioxidgehalt zu hoch wird. Durch physiologisches Seufzen stoßen wir eine Höchstmenge an Kohlendioxid aus.
Wie genau untersuchen Sie den Zusammenhang zwischen Atmung und Stress?
Der Psychiater David Spiegel von der Stanford University und ich leiten eine Studie, bei der 125 Probanden am Handgelenk Geräte tragen, die Atmung, Schlafdauer und Herzfrequenz messen. Die Probanden werden in vier Gruppen eingeteilt: Die eine übt sich fünf Minuten täglich in Meditation, die zweite praktiziert physiologisches Seufzen, die dritte Box-Atmung, das heißt: gleich langes Einatmen, Anhalten, Ausatmen, Anhalten, und die vierte bewusste Hyperventilation. Wir wollen sehen, welche Atemmuster die Stressreaktion am schnellsten reduzieren. Wir werten die Daten gerade aus.
»Sichtfeld und Atmung sind die Pforten zur autonomen Erregung, weil wir sie bewusst kontrollieren können«
Wie genau sind Atem und Gehirn miteinander verbunden?
Die Verbindung liegt im Zwerchfell, dem einzigen Organ im Körper, das ein willkürlich beweglicher Skelettmuskel ist. Man kann das Zwerchfell also direkt steuern. Die Atmung bildet so die Brücke zwischen der bewussten und der unbewussten Körperkontrolle. Beim Einatmen bewegt sich das Zwerchfell nach unten, und das Herz dehnt sich ein wenig aus, weil es mehr Platz hat. Das Blut fließt dann etwas langsamer durch das Herz. Das Herz meldet das dem Gehirn, und das Gehirn sagt: »Oh, wir sollten das Herz lieber etwas ankurbeln.« Wer also seine Herzfrequenz erhöhen will, atmet einfach mehr ein als aus. Und das funktioniert auch umgekehrt: Beim Ausatmen verlangsamt sich die Herzfrequenz.
Beim Sehen und Atmen handelt es sich also um physiologische Prozesse, die automatisch ablaufen, die wir aber auch kontrollieren können.
Ja. Wenn ich Sie unter Stress setze, fangen Sie an zu schwitzen. Aber Sie können Ihre Herzfrequenz nicht direkt steuern, und auch Ihre Nebennieren nicht. Doch Sie können Ihr Zwerchfell bewegen und damit Ihre Atmung, Ihre Herzfrequenz und Alarmbereitschaft. Sie können Ihr Sichtfeld weiten und damit Alarmbereitschaft und Stresspegel senken und sich in einen Zustand innerer Ruhe versetzen. Sichtfeld und Atmung sind die Pforten zur autonomen Erregung, weil wir sie bewusst kontrollieren können.
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