Sprachevolution: Mit fliegenden Händen
Wir alle reden mit Händen und Füßen - zumindest ein bisschen. In Südamerika setzen gehörlose Kinder untereinander seit etwa 25 Jahren fast ganz auf diese Kommunikation. Ohne dass ihnen Erwachsene reinreden, haben sie eine zunehmende komplexere Gebärdensprache erschaffen, die von selbst grammatikalische Merkmale anderer Sprachen hervorgebracht hat.
Manchmal bietet das wahre Leben Forschern Möglichkeiten, die sie in ihren Labors aus ethischen Gründen niemals nachstellen dürften. Oder würden Sie es gutheißen, Menschen von klein auf ohne richtige Sprache aufzuziehen? Nur um zu studieren, wie Kommunikation dann funktioniert? Tatsächlich hat es einzelne Fälle gegeben, in denen "Wissenschaftler" mit ihren eigenen Kindern derartige Experimente unternommen haben. Genie ist so ein Kind, dessen Schicksal in den 1970er Jahren für Aufsehen sorgte.
Aber auch ohne böse Absicht und trotz wohl entwickelter, echter Elternliebe gibt es immer wieder Kinder, die in ihren Familien teilweise isoliert aufwachsen, weil die Kommunikation mit ihnen auf Probleme stößt. Für gehörlos geborene Kinder war es selbst in Deutschland bis in das letzte Jahrhundert hinein nicht einfach, sich mit ihrer Umwelt zu verständigen – die medizinischen Hilfsmittel waren unzureichend und die Gebärdensprache aus pädagogischen Erwägungen verpönt, an den Schulen sogar verboten. Während die Situation hierzulande inzwischen deutlich besser geworden ist und Kinder auf dem einen oder anderen Weg frei mit ihren Eltern kommunizieren können, ist die Entwicklung in manchen Ländern weniger weit fortgeschritten.
In Nicaragua beispielsweise lebten gehörlose Kinder bis 1977 mit nur wenigen Kontakten zur Außenwelt in ihren Familien. Da sie auf keine anderen Gehörlosen trafen, hatte sich in diesem Land keine richtige Gebärdensprache entwickelt. Für den Gebrauch zu Hause hatte jede Familie ihre eigene Zeichensprache erfunden, der es jedoch an der Komplexität echter Sprachen mangelte. Diese traurige Situation änderte sich mit der Einführung spezieller Grundschulen, auf denen zwar in Lautsprache unterrichtet wurde, wo die Kinder aber in den Pausen miteinander kommunizierten – und eine eigene Gebärdensprache hervorbrachten. Ein Glücksfall für Sprachwissenschaftler, bot sich doch hier die einmalige Chance, die Evolution einer Sprache von Anfang an zu verfolgen.
In den ersten Jahren waren die Gebärden nach Auskunft von Ann Senghas von der Columbia-Universität noch sehr bildhaft und rudimentär. Doch da jeder Schülerjahrgang den jüngeren Kindern die Bewegungen beibrachte und jede "Generation" das System verfeinerte, entwickelte sich die Gebärdensprache Nicaraguas rasant weiter. Allerdings mit der Besonderheit, dass die Kleinsten beim Gebärden besser waren als ihre Vorgänger und die modernere Version benutzten. Welche Unterschiede sich dabei ergaben, haben Senghas und ihr Team mit einigen Tests untersucht.
Die Forscher spielten Gehörlosen aus drei unterschiedlichen Schulgenerationen im Alter von sechs bis zwanzig Jahren sowie einer hörenden Vergleichsgruppe kurze Zeichentrickfilme vor, in denen bewegte Objekte vorkamen. So verschluckte in einem Film eine Katze eine Bowlingkugel und torkelte, rollte, purzelte anschließend eine steile Straße hinunter. Diese Szenen sollten die Versuchspersonen einem anderen Teilnehmer erzählen. Die Sprachwissenschaftler analysierten und verglichen dann die dabei benutzten Handbewegungen.
In dieser sprachlichen Zerlegung des Vorgangs sehen Senghas und ihre Mitarbeiter ein universelles Merkmal aller Sprachen: Aus einer ikonischen Nachahmung wird ein flexibleres System von Einzelkomponenten, die zu den jeweils passenden Kombinationen zusammengefügt werden können. Statt für jeden Vorgang ein einzelnes Wort oder eine einzelne Gebärde zu nutzen, gibt es linguistische Baukästen mit einer beschränkten Zahl von Vokabeln, die sich leichter merken lassen. Verbunden zu Ausdrücken oder Sätzen können damit jedoch unzählige Aussagen gemacht werden. Da die Kinder diesen "Trick" eigenständig entwickelt haben, könnten die Ergebnisse im Sinne einer angeborenen Grundgrammatik gesehen werden, meint Senghas.
Inwieweit der lautsprachliche Schulunterricht das "Experiment" eventuell beeinflusst haben könnte, geht aus der Untersuchung jedoch nicht hervor. Auch den Umstand, dass in vielen voll entwickelten Gebärdensprachen verschiedene Aspekte eines Vorgangs mit einer einzigen Bewegung ausgedrückt werden, diskutieren die Wissenschaftler in ihrer Veröffentlichung nicht befriedigend. Vielleicht wird die weitere Forschung Auskunft dazu geben. Denn in Nicaragua werden Jahr für Jahr neue kleine Sprachkünstler mit fliegenden Händen und cleveren Köpfen eingeschult. Da möchte sich so mancher Wissenschaftler noch ein paar Tricks abschauen.
Aber auch ohne böse Absicht und trotz wohl entwickelter, echter Elternliebe gibt es immer wieder Kinder, die in ihren Familien teilweise isoliert aufwachsen, weil die Kommunikation mit ihnen auf Probleme stößt. Für gehörlos geborene Kinder war es selbst in Deutschland bis in das letzte Jahrhundert hinein nicht einfach, sich mit ihrer Umwelt zu verständigen – die medizinischen Hilfsmittel waren unzureichend und die Gebärdensprache aus pädagogischen Erwägungen verpönt, an den Schulen sogar verboten. Während die Situation hierzulande inzwischen deutlich besser geworden ist und Kinder auf dem einen oder anderen Weg frei mit ihren Eltern kommunizieren können, ist die Entwicklung in manchen Ländern weniger weit fortgeschritten.
In Nicaragua beispielsweise lebten gehörlose Kinder bis 1977 mit nur wenigen Kontakten zur Außenwelt in ihren Familien. Da sie auf keine anderen Gehörlosen trafen, hatte sich in diesem Land keine richtige Gebärdensprache entwickelt. Für den Gebrauch zu Hause hatte jede Familie ihre eigene Zeichensprache erfunden, der es jedoch an der Komplexität echter Sprachen mangelte. Diese traurige Situation änderte sich mit der Einführung spezieller Grundschulen, auf denen zwar in Lautsprache unterrichtet wurde, wo die Kinder aber in den Pausen miteinander kommunizierten – und eine eigene Gebärdensprache hervorbrachten. Ein Glücksfall für Sprachwissenschaftler, bot sich doch hier die einmalige Chance, die Evolution einer Sprache von Anfang an zu verfolgen.
In den ersten Jahren waren die Gebärden nach Auskunft von Ann Senghas von der Columbia-Universität noch sehr bildhaft und rudimentär. Doch da jeder Schülerjahrgang den jüngeren Kindern die Bewegungen beibrachte und jede "Generation" das System verfeinerte, entwickelte sich die Gebärdensprache Nicaraguas rasant weiter. Allerdings mit der Besonderheit, dass die Kleinsten beim Gebärden besser waren als ihre Vorgänger und die modernere Version benutzten. Welche Unterschiede sich dabei ergaben, haben Senghas und ihr Team mit einigen Tests untersucht.
Die Forscher spielten Gehörlosen aus drei unterschiedlichen Schulgenerationen im Alter von sechs bis zwanzig Jahren sowie einer hörenden Vergleichsgruppe kurze Zeichentrickfilme vor, in denen bewegte Objekte vorkamen. So verschluckte in einem Film eine Katze eine Bowlingkugel und torkelte, rollte, purzelte anschließend eine steile Straße hinunter. Diese Szenen sollten die Versuchspersonen einem anderen Teilnehmer erzählen. Die Sprachwissenschaftler analysierten und verglichen dann die dabei benutzten Handbewegungen.
Es stellte sich heraus, dass die ältesten Gebärdenden sehr ähnliche Bewegungen ausführten wie die hörende Vergleichsgruppe, die zwar in spanischer Lautsprache redete, dabei jedoch spontan die Hände zur Hilfe genommen hatte. Beide Gruppen symbolisierten die verschiedenen Teilaspekte – die Richtung und die rollende Ausführung – des Katzenganges in einer kombinierten Bewegung. Im Kontrast dazu hatten die jüngsten Kinder eine sprachliche Trennung vollzogen. Viele von ihnen gebärdeten zuerst die Art des Ganges mit einem angedeuteten Kreis, und danach zeigten sie die Abwärtsrichtung an.
In dieser sprachlichen Zerlegung des Vorgangs sehen Senghas und ihre Mitarbeiter ein universelles Merkmal aller Sprachen: Aus einer ikonischen Nachahmung wird ein flexibleres System von Einzelkomponenten, die zu den jeweils passenden Kombinationen zusammengefügt werden können. Statt für jeden Vorgang ein einzelnes Wort oder eine einzelne Gebärde zu nutzen, gibt es linguistische Baukästen mit einer beschränkten Zahl von Vokabeln, die sich leichter merken lassen. Verbunden zu Ausdrücken oder Sätzen können damit jedoch unzählige Aussagen gemacht werden. Da die Kinder diesen "Trick" eigenständig entwickelt haben, könnten die Ergebnisse im Sinne einer angeborenen Grundgrammatik gesehen werden, meint Senghas.
Inwieweit der lautsprachliche Schulunterricht das "Experiment" eventuell beeinflusst haben könnte, geht aus der Untersuchung jedoch nicht hervor. Auch den Umstand, dass in vielen voll entwickelten Gebärdensprachen verschiedene Aspekte eines Vorgangs mit einer einzigen Bewegung ausgedrückt werden, diskutieren die Wissenschaftler in ihrer Veröffentlichung nicht befriedigend. Vielleicht wird die weitere Forschung Auskunft dazu geben. Denn in Nicaragua werden Jahr für Jahr neue kleine Sprachkünstler mit fliegenden Händen und cleveren Köpfen eingeschult. Da möchte sich so mancher Wissenschaftler noch ein paar Tricks abschauen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.