Assassinen: Der Alte und seine Killer
An diesem Frühlingsabend war Konrad von Montferrat nach einer Stippvisite im Palast des Bischofs von Tyros auf dem Heimweg. Noch eine knappe Woche, und er würde in Akkon zum König von Jerusalem gekrönt. Der Markgraf von Montferrat war im April 1192 auf dem Gipfel seiner Karriere im Heiligen Land. Er ritt an der Kathedrale vorbei und bog in eine schmale Gasse ein. Den zwei Gestalten im schlichten Klosterhabit, die zur Rechten und Linken am Boden kauerten, schenkte er keine Beachtung. Warum auch – er kannte sie ja.
Die beiden waren im November des Vorjahres in Tyros aufgetaucht. Bescheidene Mönche, die durch ihren asketischen und gottgefälligen Lebenswandel von sich reden machten. So fanden sie rasch Anschluss an die höheren Kreise der Kreuzfahrergesellschaft, deren »fränkische«, also französische Sprache sie mühelos beherrschten. Einer soll in die Dienste eines vornehmen Adligen, Balian von Ibelin, getreten sein. Der andere in die des Markgrafen Konrad selbst.
Was in Tyros niemand ahnte: Die beiden hatten noch einen anderen Herrn. »Ein herausragender Mann mit geheimen Methoden, großen Plänen und enormer Listigkeit, der über die Macht verfügt, Herzen zu entflammen und zu täuschen, Geheimnisse zu verbergen (…) und die Bösen und Dummen für seine üblen Zwecke einzuspannen.« So beschrieb ihn im 13. Jahrhundert der in Aleppo lebende Chronist Kamal al-Din. Der Name des Mannes war Sinan ibn Salman ibn Muhammad, genannt Raschid ad-Din Sinan (1133/35–1193). Im christlichen Europa kannte man ihn und seine Nachfolger unter dem Titel »Der Alte vom Berge«.
Sinan residierte in der Gebirgsfestung Masyaf im Nordwesten des heutigen Syrien, etwa 30 Kilometer landeinwärts auf halber Strecke zwischen der Mittelmeerküste und der Stadt Hama gelegen. Von hier aus regierte er ein kleines Reich, das nach Angaben des Chronisten Wilhelm von Tyros (1130–1186) zehn Burgen umfasste und von etwa 60 000 Menschen bewohnt wurde. Wie ihr Herr waren sie Gläubige einer islamischen Geheimlehre, deren Anhänger sich außerhalb der eigenen eng umgrenzten Herrschaftszonen im Untergrund bewegten und die unter rechtgläubigen Muslimen ebenso verhasst wie gefürchtet war.
Die Geheimlehre wehrte sich mit Meuchelmördern
»Es ist die Pflicht von Sultanen und Königen, sie zu ergreifen und zu töten, um die Erdoberfläche von ihrem Schmutz zu reinigen«, hieß es in einem islamischen Traktat des 12. Jahrhunderts. »Das Blut eines Ketzers zu vergießen, ist verdienstvoller als die Tötung von 70 griechischen Ungläubigen.« Die Nizariten, wie sie sich selbst nannten, hatten aus der Erfahrung einer verfolgten und ausgegrenzten religiösen Minderheit eine extreme Konsequenz gezogen. Sie brachten ihre Verfolger und jene, die sie dafür hielten, einfach um.
Allerdings nicht mit einem Heer von Kriegern. Von ihren Zentren Masyaf und dem 1300 Kilometer weiter östlich gelegenen Stammsitz, der Bergfestung Alamut, aus schickten sie Messermänner ins Land. Zum Äußersten entschlossen und ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben rammten diese den Mächtigsten unter den Gegnern den Dolch in den Leib. Für ihre zahlreichen Feinde im Vorderen Orient waren sie damit nichts weiter als gefährliche Irre, Bekloppte, Bescheuerte, Bekiffte. Als »Haschischleute«, »Haschischiyyin« schmähte man sie. Im Mund der Europäer wurde daraus das Wort »Assassinen«. So lautet zumindest eine der plausibleren Deutungen ihres Namens, für dessen Herkunft im Lauf der Zeit eine kaum zu überblickende Vielfalt an Erklärungen vorgebracht wurde.
Wie dem auch sei, es spricht jedenfalls für die Nachhaltigkeit ihres grausigen Renommees, dass sich dieser Begriff mit der Bedeutung Mörder im romanischen Sprachraum dauerhaft etabliert hat: »asesino«, »assassin«, »assassino«. Um 1200 notierte der Chronist Arnold von Lübeck (1150–1211/14): »Wisse, dass es im Gebiet von Damaskus, Antiochia und Aleppo in den Bergen ein Volk von Sarazenen gibt, das in seiner eigenen Umgangssprache ›Heyssessini‹ und auf Romanisch ›segnors de montana‹ heißt.« Ihr Gebieter, so Arnold, sei unter Muslimen wie Christen gefürchtet, »denn er hat die Gewohnheit, sie auf außergewöhnliche Weise umzubringen«.
Den Verfolgten und Ausgegrenzten bescherte der Schrecken, den sie verbreiteten, eine nicht unerhebliche materielle wie ideelle Rendite in Form von erpressten Schutzgeldzahlungen und gesteigertem Selbstbewusstsein. Sogar gegenüber dem großen Saladin (1137/38–1193), dem Herrscher über Syrien und Ägypten, leistete sich Sinan einen geradezu impertinenten Tonfall. Er verglich ihn mit einer Fliege, die »im Ohr des Elefanten schwirrt«, und drohte: »Bereite dich auf dein Unglück vor (…), denn ich werde (…) Rache nehmen an dem Ort, da du wohnst.« Wenn der Burgherr auf Masyaf sich in der Öffentlichkeit zeigte, schritt vor ihm ein Herold einher, der eine mit Silber beschlagene Streitaxt trug und ausrief: »Weichet vor dem, der den Tod der Könige in seinen Händen hält.«
Ein Wanderprediger baute einen Stützpunkt aus
Die Nizariten waren ein Produkt der Glaubensspaltungen, die die Geschichte des Islam von Anfang an begleitet hatten, erläutert der Islamwissenschaftler Heinz Halm in seinem 2017 erschienenen Büchlein »Die Assassinen. Geschichte eines islamischen Geheimbundes«. Bereits nach dem Ableben des Propheten zerstritten sich dessen Anhänger über die Nachfolgefrage. Eine Minderheit, später Schiiten genannt, setzte auf Mohammeds Schwiegersohn Ali und dessen Nachkommen als die einzig legitimen Imame. Doch auch das schiitische Lager selbst war gegen Zerwürfnisse nicht gefeit.
Als nach dem Tod des sechsten Imam im Jahr 765 das Amt nicht an die Familie seines mittlerweile verstorbenen ältesten Sohnes Ismail, sondern an dessen jüngeren Bruder fiel, spalteten sich die Ismailiten ab. Sie konnten im 10. Jahrhundert das Kalifat der Fatimiden mit Sitz in Kairo errichten. Hier kam es 1094 zu einem weiteren Schisma, als nach dem Tod des Kalifen al-Mustansir der legitime Erbe Nizar ausgebootet und umgebracht wurde. Es gab Ismailiten, die sich damit nicht abfinden mochten. Sie kehrten dem Kalifat den Rücken.
Mehr als zwei Jahrhunderte hatten die Anhänger Ismails, obwohl immer wieder von Massakern betroffen, unter der Herrschaft sunnitischer Machthaber ein friedfertiges Untergrunddasein gefristet. Der Mann, der das änderte, war der Wanderprediger und Gelehrte Hasan-e Sabah (um 1050–1124). Er erkannte den Wert befestigter Stützpunkte für seine Glaubensgemeinschaft. Im Jahr 1090 bemächtigte er sich im unwegsamen Bergland des nördlichen Iran der Festung Alamut. Von hier aus erweiterte er nach und nach seinen Machtbereich über benachbarte Burgen und Täler. Im fatimidischen Thronstreit des Jahres 1094 stellte er sich auf die Seite der Anhänger Nizars.
Hasan-e Sabahs handstreichartige Eroberung des Umlands von Alamut blieb nicht unbeantwortet. So schickte der Seldschukensultan Malik Schah (1055–1092) seine Truppen gegen die Festung. Die vermochten zwar nur wenig auszurichten, doch in Alamut war man nachtragend. Am 14. Oktober 1092 fiel der für den Feldzug verantwortliche Wesir des Sultans, Abu Ali-al-Hussein, genannt Nizam al-Mulk, die »Ordnung der Herrschaft«, einem Attentat zum Opfer. Es war der Auftakt einer bis dahin beispiellosen Mordserie, die länger als anderthalb Jahrhunderte anhalten sollte.
Zwei sunnitische Kalifen und ein ismailitischer zählen zu den Opfern, außerdem Spitzenbeamte, ranghohe Militärs und Juristen, geistliche Würdenträger – die Stützen einer politischen Ordnung, die die Nizariten als feindlich betrachteten. In Alamut wurde akribisch Buch geführt über jeden einzelnen Getöteten und jeden Täter. Während der gut drei Jahrzehnte, in denen Hasan-e Sabah dort das Sagen hatte, wuchs die Liste auf 50 erfolgreiche Attentate.
Nach dem Beispiel Hasan-e Sabahs hatten Sendboten aus Alamut um die Mitte des 12. Jahrhunderts die nizaritische Enklave im Westen Syriens gegründet, die die Christen als das Reich des »Alten vom Berge« kennen lernen würden. Dass es sich bei der Festung Masyaf gar nicht um den Hauptsitz der Sekte handelte, wussten die Kreuzfahrer lange Zeit nicht. Von Alamut erfuhren sie erst durch Marco Polo (1254–1324), der Persien im Jahr 1273 bereist hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Assassinen allerdings bereits selbst Geschichte. Gut ein Jahrzehnt zuvor, zwischen 1250 und 1260, hatte das Heer der Mongolen die Burgen der Nizariten überrannt und ihrem Reich den Todesstoß versetzt.
Der Mord vor aller Augen war das Ziel
In manchem mutet uns die Terrorwelle, mit der die Nizariten ihre Gegner überzogen, vertraut an. Sie kannten bereits die Figur des »Schläfers«, der über Wochen, Monate, manchmal Jahre ein unauffälliges und bestens integriertes Dasein in der Gesellschaft führte, der er implantiert war, um auf einen Wink aus der Zentrale hin unversehens zuzuschlagen. Das Konzept des Anschlags als »Propaganda der Tat« war ihnen ebenso geläufig. Es kam ihnen nicht allein darauf an, ihre Gegner möglichst effizient umzubringen. Was zählte, war, dass dies bei helllichtem Tag und in aller Öffentlichkeit geschah. Beliebte Schauplätze waren überfüllte Moscheen und Märkte.
Die Idee, den Mord als großes Theater zu inszenieren, entschied auch über die Methode. Gift oder Fernwaffen waren verpönt. Einzig der Dolch durfte Verwendung finden. Das Konzept hatte natürlich zur Folge, dass die nizaritischen Killer, die Fedayyin, wie sie sich nannten, ihren Einsatz in der Regel nicht überlebten. Faktisch agierten sie als Selbstmordattentäter, beseelt durch ein »fehlgeleitetes Streben nach Glückseligkeit im Jenseits«, wie im 13. Jahrhundert der persische Geschichtsschreiber Dschuwaini (1226–1283) konstatierte. Er hatte nach der Übergabe Alamuts an die Mongolen 1256 das Burgarchiv sichten können.
Die Paranoia griff um sich unter den Mächtigen. Man ging nur noch geharnischt und bewaffnet zum Freitagsgebet. Man umgab sich mit einem Wall aus Leibwachen. Als im Dezember 1121 der Wesir des fatimidischen Kalifen in Kairo ermordet wurde, griff sein Nachfolger drastisch durch. Am Grenzübergang in Askalon waren alle Einreisenden zu registrieren. In der Hauptstadt wurde die gesamte Bevölkerung erfasst. Ohne Genehmigung durfte niemand mehr die Wohnung wechseln. Es nützte nichts. Am 7. Oktober 1130 ritt Kalif al-Amir mit Gefolge aus, um den Feierlichkeiten zur alljährlichen Nilschwemme beizuwohnen. Er hatte gerade die Brücke zur Nilinsel überquert, als sich aus einer Bäckerei neun Messermänner auf ihn stürzten.
Konrad von Montferrat war ein untypisches Assassinenopfer. Er war einer von nur drei christlichen Fürsten, die ins Visier der Attentäter geraten waren. Er starb auch nicht auf einem belebten Markt. In der Gasse neben der Kathedrale von Tyros begegnete er am Abend des 28. April 1192 seinen Mördern. Der eine überreichte ihm ein Schreiben und rammte ihm den Dolch in den Unterleib. Der andere sprang von hinten aufs Pferd und trieb ihm das Messer in den Rücken. Warum Konrad sterben musste, das zählt bis heute zu den Geheimnissen der Nizariten.
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