Astronomie: Neutrino mit bekannter Herkunft
Astronomen haben am Südpol ein Neutrino nachgewiesen, das ein supermassereiches Loch im Herzen einer Nachbargalaxie vor 700 Millionen Jahre in unsere Richtung katapultiert hat. Zwar ist es seit Längerem nichts Außergewöhnliches mehr, solche schwer fassbaren Teilchen aus dem All überhaupt auf der Erde nachzuweisen. Es bleibt aber ein schöner Erfolg, nachvollziehen zu können, wann, wo und warum ein in die Messfalle gegangenes Neutrino genau entstanden ist. Ein vielköpfiges internationale Forscherteam um Robert Stein vom DESY in Hamburg dokumentiert einen derartigen Glücksfall nun im Fachblatt »Nature Astronomy«.
Das Neutrino war am 1. Oktober 2019 von den Lichtsensoren des IceCube-Detektors am Südpol nachgewiesen worden: Das Teilchen war mit hoher Energie eingeflogen, mit einem Atom vor Ort per Zufall kollidiert und hatte sich so verraten. Ähnliches geschieht nicht selten, der Südpol-Detektor hat so seit seiner Inbetriebnahme jedes Jahr mehrere hundert nicht aus unserem Sonnensystem, jedoch weit aus den Tiefen des Alls stammende Teilchen aufgespürt. Nach einer Detektion ermitteln die Wissenschaftler aus den Messdaten dann Energie und Einflugrichtung der Neutrinos. Mit viel Glück können sie so nicht nur den Ursprungsort in einer fernen Galaxie, aus der das Neutrino eingeflogen ist, sondern sogar ein Himmelsereignis eingrenzen, das mit der Entstehung des Teilchens in Zusammenhang stehen könnte.
In diesem Fall zeigte die Spur in Richtung des Sternbilds Delfin: Das Neutrino war vor etwa 700 Millionen Jahren im Zentrum einer Galaxie mit der Katalognummer 2MASX J20570298+1412165 entstanden und in unsere Richtung katapultiert worden. Die Galaxie hatte Astronomen schon im April 2019, ein halbes Jahr vor dem Neutrinotreffer am Südpol, auf sich aufmerksam gemacht: Die Kamera des Zwicky Transient Facility am Mount-Palomar-Observatorium bemerkte dort eine ungewöhnliche Helligkeitsveränderung, die schließlich auf ein so genanntes »tidal disruption event« (TDE) zurückgeführt werden konnte.
Ein TDE blitzt auf, wenn ein Stern einem supermassereichen Schwarzen Loch nahekommt und zerrissen wird: Die ferne Sonne wird durch die enormen Gezeitenkräfte zunächst in die Länge gezogen, ihr Gas teils weggeschleudert. Schließlich sammelt sich die Materie in einer Akkretionsscheibe, die um das Schwarze Loch kreist und nach und nach von ihm verschlungen wird. Dabei erhitzt sich der Sternrest und strahlt bis zur Erde sichtbar ab.
Astronomen haben das Ereignis im Sternbild Delfin mit einem ganzen Instrumentenpark untersucht und energiereiche elektromagnetische Strahlung bei verschiedensten Wellenlängen nachgewiesen, um das TDE vor Ort im Detail zu untersuchen. Die Astronomen taxieren das gigantische Schwarze Loch mit einer Masse von wahrscheinlich 30 Millionen Sonnen, während die Zwicky Transient Facility vom zweithellsten der mehr als 30 dort seit 2018 aufgezeichneten TDE-Ereignisse spricht.
Neutrinos werden in solch einem turbulenten Umfeld, wo andere Teilchen sehr schnell ineinanderrasen, regelmäßig erzeugt und teils mit enorm viel Energie ins All geschleudert, gemeinsam mit allen möglichen Arten gewöhnlicher Strahlung. Astrophysiker sprechen in diesem Fall von einem Blazar: also einem Partikel schleudernden Schwarzen Loch, dessen Jet-Materiestrahl direkt auf die Erde gerichtet ist. 2018 wiesen die Astrophysiker von IceCube erstmals ein Neutrino eines solchen Ungetüms nach, damals hieß der Blazar TXS 0506+056.
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