Kenia: Ein Kleinkind in Afrikas ältestem Grab
Sorgfältig hatten die Angehörigen das Kind in sein Totenhemd gekleidet, die Knie zur Brust hochgezogen und es auf seiner rechten Seite in das Grab gelegt – eine flache Grube, heute kaum tiefer als zwei Hand breit, kreisrund und nicht einmal einen halben Meter groß. Zentral in ihrer Unterkunft hatten sie das Grab ausgehoben, vielleicht einfach, um den viel zu jung Dahingeschiedenen – das Kind war höchstens drei Jahre alt geworden – weiterhin in ihrer Mitte zu behalten.
Wenn das der Grund war, dann handelten sie womöglich ganz ähnlich wie heutige Trauernde, die etwa das Foto eines Verstorbenen auf ihr Nachttischschränkchen stellen. Die Technik ändert sich, doch die Riten ähneln sich, auch nach 78 000 Jahren noch. Denn so alt ist das Grab, das ein Team um Michael Petraglia und Nicole Boivin vom Jenaer Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte auf dem Gebiet des heutigen Kenias entdeckt hat. Sofern ihre Altersbestimmung Bestand hat, dürfte es sich um das älteste jemals gefundene Grab Afrikas handeln, schreiben sie nun in der Fachzeitschrift »Nature«.
Gipsverband für ein Kindergrab
Aufgespürt hatte Nicole Boivin die Höhle, als sie die Küsten von Madagaskar und Ostafrika nach den Spuren menschlicher Besiedlung absuchte. 2013 machte sie schließlich, gemeinsam mit Emmanuel Ndiema und seinem Team vom Nationalmuseum von Kenia in Nairobi, eine Entdeckung: Mitten in einer 15 Kilometer von der heutigen Küste entfernten Höhle knapp drei Meter unter dem jetzigen Niveau gab es eine Stelle, an der sich der Boden merklich in Farbe und Struktur vom Rest der Höhle unterschied. Als sie dort auch noch Überreste von Knochen fanden, war den Archäologen klar, dass sie etwas ganz Besonderes entdeckt hatten. Doch die Fundschichten in der Höhle überspannen Jahrzehntausende: Bis vor 500 Jahren kamen Menschen hierher. Bis die Forscher die wahre Bedeutung des Fundes ganz am Fuße ihres Ausgrabungsschachts einschätzen konnten, sollten noch einige Jahre vergehen.
2017 gingen die Ausgrabungen in der Panga ya Saida genannten Höhle weiter, und den Forscherinnen und Forschern wurde rasch klar, dass die Knochen viel zu zerbrechlich waren, um sie vor Ort frei zu präparieren. Daher rührte das Team Gips an, tauchte Jutestoff darin ein und wickelte diesen Verband um die gesamte Struktur. Nach dem Aushärten kam das eingegipste Kindergrab erst einmal ins Nationalmuseum von Kenia und von dort ins Centro Nacional de Investigación sobre la Evolución Humana (Nationales Forschungszentrum zur menschlichen Evolution; CENIEH) im spanischen Burgos.
Mtoto
Im Speziallabor fanden die Forscher bald zwei Zähne, die den längst gehegten Verdacht bestätigten: Es handelte sich um die Überreste eines Homo sapiens. Schicht um Schicht trugen die Forscher von ihrem Fund ab, bis nach monatelanger Kleinarbeit Teile des Schädels und der Gesichtsknochen auftauchten. Im Kiefer des Kindes waren offensichtlich bereits einige bleibende Zähne gewachsen, die aber noch nicht durchgebrochen waren. Das war für die CENIEH-Forscherin María Martinón-Torres ein entscheidender Hinweis: Das Kind musste bei seinem Tod zweieinhalb bis drei Jahre alt gewesen sein. Damit hatte der Fund auch seinen Spitznamen »Mtoto« weg, was in der in Ostafrika am weitesten verbreiteten Verkehrssprache Swahili »Kind« heißt.
Je weiter die Forscher gruben, umso mehr oft recht erstaunliche Details traten zu Tage. So lagen die Knochen des Kindes meist genau dort, wo sie auch im lebenden Körper sind. Das ist durchaus überraschend, weil Raubtiere normalerweise tote Körper rasch entdecken und beim Fressen die Knochen erheblich durcheinanderbringen. Selbst wenn keine Aasfresser zu einer Leiche vordringen, bleiben die losen Knochen beim Verwesen nicht an Ort und Stelle. Bei Mtoto aber steckte der Oberarm noch immer im Schultergelenk, der Oberschenkel am Hüftgelenk, und die Rippen befanden sich genau dort an den Wirbeln, wo sie auch im lebenden Menschen sind. Nichts war abgefallen oder verrutscht, so wie man es bei einer Leiche erwarten würde, die ungeschützt an der Oberfläche liegt. »Offensichtlich musste der Leichnam gut geschützt und von allen Seiten gut gestützt gelegen haben und so auch zerfallen sein«, erklärt Michael Petraglia.
Ein Schmusekissen?
Genau das aber passiert, wenn man einen toten Körper vor Einsetzen der Verwesung rasch unter der Erde begräbt: Zunächst stützt der Untergrund das Gewebe und, sobald dieses zerfällt, auch die Knochen gut ab. Allerdings war das Schlüsselbein ein wenig verschoben, was, mit anderen kleinen Veränderungen betrachtet, eine Annahme nahelegt: Offensichtlich wurde das Kind nach seinem Tod eng eingewickelt, vielleicht in das Fell eines Tiers. Wenn der Leichnam langsam zerfällt, fixiert ein solches Totenhemd die Knochen. Später zersetzen sich dann die Felle, von denen sich denn auch nichts mehr fand.
Nur der Kopf des Kindes war ein Stückchen verrutscht, die obersten Halswirbel waren ein wenig vom Rest der Wirbelsäule entfernt. Die Forscher vermuten, dass der Kopf des toten Kindes mit einem Kissen abgestützt wurde, das möglicherweise aus Tierfellen oder einem anderen Material bestand. Ob die Eltern ihrem Kind vielleicht sogar sein Schmusekissen mit ins Grab gegeben hatten, wird sich wohl nie mehr klären lassen, weil dieses organische Material im Laufe der Zeit ebenfalls zerfällt. An der Stelle der Stütze entsteht dabei ein Hohlraum im Grab, und der Kopf, der bei einem lebenden Menschen von der Nackenmuskulatur aufrecht gehalten wird, knickt ab. Dabei entfernen sich die obersten Wirbel genauso vom Rest der Wirbelsäule, wie es das Team nun bei Mtoto beobachtete.
Im Schoß der Erde oder des Mutterleibs
Sehr viel spricht also dafür, dass Mtoto kurze Zeit nach seinem Tod begraben wurde. Und zwar exakt dort, wo sein Klan wohl immer wieder unter einem Überhang Schutz vor heftigen Niederschlägen suchte. Mitten unter diesem Dach aber liegt das Grab des Kindes in einer Grube, die nicht zufällig entstand, sondern speziell zu diesem Zweck einer Bestattung ausgehoben worden war. Kam die Gruppe wieder einmal in ihre Höhle zurück, lag das verstorbene Kind mitten unter ihnen. Vielleicht zogen die Lebenden dann genau wie das Kind ihre Knie hoch zur Brust, ihre Wirbelsäule krümmte sich halbrund. So kauern Frierende sich gern zusammen.
Welche Motivation hinter dieser Bestattungsform steckte, die in der Archäologie »Hockergrab« heißt und die zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichsten Orten verwendet wurde, wird sich wohl nie klären lassen. In seiner zusammengekrümmten Haltung erinnert der Tote an ein Embryo im Mutterleib. Kehrte das Kind so sinnbildlich in den Schutz des Mutterleibs zurück? Fest steht, dass sich die Bewohner Ostafrikas bereits vor 78 000 Jahren mehr als nur ganz praktische Gedanken über den Verbleib ihrer Verstorbenen gemacht haben. Hinter einem solchen aufwändigen Begräbnis dürfte eine Fähigkeit stecken, die man als symbolisches Denken bezeichnet – und die den Menschen auch dazu veranlasst, Schmuck herzustellen oder seinen Körper zu bemalen.
Ähnliche Riten
Wie viel Zeit seit dem Begräbnis des Kindes in Panga ya Saida vergangen ist, zeigten Michael Petraglia, Nicole Boivin und ihr Team mit Hilfe optisch stimulierter Lumineszenz. Demnach schien das Sonnenlicht zum letzten Mal vor 78 000 Jahren auf die Erde, die dann in die endgültige Ruhestätte des Kindes geschaufelt wurde. Damit fällt das Begräbnis zeitlich in eine riesige Lücke, die lange Zeit in der Geschichte der Menschheit klaffte: Sowohl moderne Menschen wie Neandertaler hatten ihre Verstorbenen bereits vor 120 000 Jahren in ähnlicher Hockstellung bestattet; ziemlich häufig lagen auch damals Kinder in den Gräbern. Deutlich später, noch in der Bronzezeit, finden sich ebenfalls viele Hinweise auf jene Art der Bestattung, so dass anzunehmen ist: Die damit zusammenhängenden Riten haben sich sehr lange gehalten. Doch annähernd vergleichbar frühe Funde fehlten aus der »Wiege der Menschheit« Afrika, wo sich diese Praktiken mutmaßlich entwickelt haben. Die Ausgrabung in Panga ya Saidi schließen nun die Lücke.
Michael Petraglia weist noch auf einen ganz anderen Zusammenhang hin: »Neandertaler und moderne Menschen haben offensichtlich lange Zeit sehr ähnliche Begräbniskulturen gehabt«, erklärt der Max-Planck-Archäologe. »Das wirft natürlich die Frage auf, wann und wo diese gemeinsamen Riten entstanden sind. Es legt aber auch die Überlegung nahe, dass sich die Verhaltensweisen und wohl auch die Gefühle der Neandertaler nicht allzu sehr von denen der modernen Menschen unterschieden.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.