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Chimú-Kultur: Menschenopfer in der Wüste

Die Chimú brachten ihren Gottheiten nicht nur Lamas dar, sondern opferten ihnen sogar dutzende Kinder. Archäologen entdeckten die rund 900 Jahre alten Überreste der Menschen und Tiere auf Dünen im Norden Perus, wo diese einst begraben worden waren. Warum kam es zu dem grauenvollen Ritual?
Am Fundplatz Huanchaquito-Las Llamas legten Archäologen zahlreiche Skelette von Kindern und Lamas frei.
Am Fundplatz Huanchaquito-Las Llamas legten Archäologen zahlreiche Skelette frei. Es waren die Überreste von Mädchen und Jungen sowie Lamatieren, die um 1450 getötet worden waren, vermutlich bei einem Ritual.

Die Priester trieben die Kinder auf eine Düne an der Pazifikküste, die Kleinsten von ihnen waren gerade einmal vier Jahre alt. Gleichzeitig liefen auf einem nahe gelegenen Hügel die Vorbereitungen zur großen Zeremonie. Mehrere dutzend Kinder sollten dort den Göttern geopfert, ihre Herzen bei lebendigem Leib herausgeschnitten werden. Die Ritualmeister des Volkes der Chimú hatten dafür scharfe Messer bereitgelegt. Mit einem glatten Schnitt wollten sie das Brustbein durchtrennen und den Knochen aufstemmen, um an das Leben spendende Organ zu gelangen.

Ungefähr so könnte sich das grausame Ritual vor rund 900 Jahren abgespielt haben, erzählt Gabriel Prieto. Zusammen mit seinem Team hat er in Nordperu die Überreste der geopferten Kinder aufgedeckt. Sie gehörten der geheimnisvollen Chimú-Kultur an. Der Anthropologe an der University of Florida in Gainesville stammt selbst aus der Region. Erst jüngst legten er und seine Kollegen in Pampa la Cruz nahe der Küstenstadt Trujillo 67 Skelette geopferter Kinder frei. Insgesamt hat die Forschergruppe in den vergangenen Jahren dort 291 Tote aufgespürt. »Alle Skelette wiesen einen sauberen Schnitt quer über das Brustbein auf«, sagt Prieto. Zusätzlich fehlten bei manchen Skeletten einzelne Rippen. Über den geöffneten Brustkorb entnahmen die Priester das Herz der Kinder. Ob es tatsächlich entfernt wurde, ist aber nicht ganz sicher, weil sich an den Toten kaum Weichteilgewebe erhalten hat.

Es sind allerdings nicht die einzigen Spuren ritueller Tötungen von Kindern und Jugendlichen in Nordperu. Archäologen wissen inzwischen, dass im Zeitraum zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert auch im zwei Kilometer entfernten Küstenort Huanchaquito-Las Llamas Opfer dargebracht wurden, wie die Ausgräber im Fachblatt »PLOS ONE« berichten. Insgesamt haben Forschende an beiden Orten 428 Kinderskelette entdeckt, dazu hunderte Überreste junger Lamas, die ebenfalls rituell getötet wurden. »So verrückt es klingt«, sagt Prieto, »wir könnten auf dem Grabhügel bis zu 1000 Opfer finden.« Die zwei Fundplätze gelten momentan als die größten Massenopferstätten weltweit, an denen man Kinder und Tiere umgebracht hatte.

Die Chimú von Chan Chan

Die Fundorte liegen wenige Kilometer außerhalb der alten Hauptstadt der Chimú-Kultur Chan Chan. Im 14. Jahrhundert war sie laut den Forschenden mit zirka 50 000 bis 100 000 Einwohnern für die damalige Welt eine Siedlung von beachtlicher Größe. Dieses mysteriöse Volk, berühmt für seine Gold- und Silberschmiedearbeiten, siedelte in einem Gebiet zwischen der heutigen Südgrenze Ecuadors bis etwa nach Lima, der Hauptstadt Perus. Regiert von den Königen in Chan Chan, beherrschten die Chimú seit 900 n. Chr. eine rund 1000 Kilometer lange, schmale Küstenregion an den Ausläufern der Anden. Die Menschen lebten in einer wüstenartigen Umgebung, die von mehreren fruchtbaren Flusstälern durchzogen war. Erst um 1470 wurden die Chimú von den Inka besiegt, und ihr einst mächtiges Reich ging in deren Herrschaftsgebiet auf.

Die Chimú waren Spezialisten darin, die trockenen Küstenregionen zwischen den Anden und dem Meer urbar zu machen. Quer zu den fruchtbaren Oasentälern, in denen sich die Flüsse den Weg aus den Bergen bahnten, legten sie kilometerlange, mehrere Meter breite Kanäle zur Bewässerung an. Geschickt nutzten sie dafür das Gefälle der Landschaft. Zudem kleideten sie die bis zu zwei Meter tiefen Kanäle mit gebranntem Lehm aus, um möglichst wenig Wasser zu verlieren.

So gelang es den Chimú, Felder mit Mais, Kürbis, Bohnen, Avocados oder anderen Gemüsearten und Früchten zu bewirtschaften. Mit Mais als Futtermittel züchteten sie in großem Stil Alpakas und Lamas. Die domestizierten Andentiere waren für die Chimú besonders wichtig – als Nahrungsmittel und als Lastenträger. Mehrere Archäologen nehmen an, dass sie dank der Kameltiere Fernhandelsbeziehungen mit anderen Andenreichen und sogar mit Amazonien jenseits der Berge pflegen konnten. Die Chimú hatten so Zugang zu Rohstoffen, wertvollen Objekten und Naturalien aus Gegenden weit entfernt von der Pazifikküste.

Menschenopfer für Wasser und Felder?

Es ist daher umso rätselhafter, warum eine derart fortgeschrittene Kultur so viele ihrer Kinder tötete. Prieto hält es für möglich, dass manche Rituale dazu dienten, neu angelegte Bewässerungsanlagen und Felder, die man der Wüste entrissen hatte, zu weihen. Interessant ist nämlich, dass die Opferungen nicht etwa in Chan Chan stattfanden – in der Stadt der »strahlenden Sonne«, dem Zentrum des Reichs, wo die Herrscher und die führende Elite lebten. Vielmehr opferten die Chimú ihre Kinder außerhalb der Stadt im ländlichen Raum.

Skelett eines Kindes | Die Toten waren in einfache Wolltücher gewickelt worden; vor allem die älteren Kinder trugen zusätzlich ein Tuch über dem Kopf. Weshalb, wissen die Archäologen nicht.

Pampa la Cruz ist schon länger als archäologische Stätte bekannt, allerdings mehr für Kulturen aus Zeiten vor den Chimú. Erst Prieto entdeckte dort 2016 eine Chimú-Siedlung und die Überreste von 224 Menschen sowie 400 Lamas. Bei ihnen fanden die Fachleute ebenso wie an den neu entdeckten Skeletten jeweils Schnittspuren am Brustbein oder an den Rippen – ein Indiz dafür, dass auch ihnen das Herz entnommen worden war.

Die Tiere und die Kinder bestatteten die Chimú in Pampa la Cruz getrennt voneinander, jeweils in kleinen Gruppen. Radiokarbondatierungen der Knochen ergaben, dass die Opferungen offenbar zu bestimmten Zeiten stattgefunden hatten. Die Archäologen ordneten die Massenopfer mindestens vier Zeiträumen zu. Dies spricht für eine gewisse Regelmäßigkeit, vielleicht um eine Gottheit gnädig zu stimmen. »Die Opfer waren möglicherweise mit einem zyklischen Kalenderereignis verbunden«, sagt der französische Archäologe Nicolas Goepfert vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris, der zusammen mit Prieto an den Fundstätten forscht. In jedem Fall handelte es sich um ein etabliertes, für die Chimú wichtiges Ritual.

Die ältere Kultur der Mochicas brachte ebenfalls Menschenopfer dar

Welcher Gottheit die Opfer galten, ist unklar. Die Chimú haben keine Schriftquellen hinterlassen, auch Darstellungen von Göttern kamen bislang keine ans Licht. Allerdings gibt es eine Spur, die zu den Vorgängern der Chimú führt, den Mochicas. Diese lebten zwischen 100 und 800 n. Chr. in der Region. Nicolas Goepfert schildert in einem Fachartikel im »Journal of Field Archaeology« und im Magazin »Pour la Science«, dass die Kultur an der Nordküste Perus die Opferung von Menschen zum wichtigsten Ritual ihrer Religion gemacht habe. Ihre Hauptgottheit sei, schreibt Goepfert, ein vielgestaltiger Gott, der in der einen Hand ein Opfermesser hält und in der anderen einen abgeschnittenen Kopf. Aus den Ritualen der Mochicas, die ihren Göttern erwachsene Menschen darbrachten, könnten die Massenopferungen der Chimú hervorgegangen sein. »Bei den Chimú hat sich die Opferung mehr auf Kinder konzentriert, die von Lamas begleitet werden«, sagt Goepfert.

Die Entnahme des Herzens war im Andenraum durchaus verbreitet, betont der französische Archäologe. Noch heute werden dort Lamas auf diese Weise geschlachtet. Doch damals wendeten die Priester die Praxis ebenfalls bei Menschen an. »Das Herz zu entfernen, könnte auch eine symbolische Bedeutung gehabt haben«, erklärt Goepfert. »Vielleicht sahen es die Chimú als Sitz der Seele, als Ursprung des Lebens.« Ob die Kinder noch lebten, als ihnen die Herzen herausgetrennt wurden, darüber lässt sich nur spekulieren. Womöglich hatte man sie zuvor mit Drogen betäubt.

Der Opferplatz von Huanchaquito-Las Llamas

Die zweite Opferstätte Huanchaquito-Las Llamas, zu finden auf einer lang gestreckten Düne nahe dem Pazifik, unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von Pampa la Cruz. Es scheint dort keine regelmäßigen Massenopfer gegeben zu haben, sondern es ist ein einziges großes Ritual aus der Zeit zwischen 1400 und 1450 überliefert, wie es die Radiokarbondaten ergaben. 137 Kinder, 3 Erwachsene und 200 Lamas kamen damals in kurzer Zeit zu Tode.

Wie in Pampa la Cruz waren die Körper der Kinder jeweils gleich ausgerichtet: Die Köpfe lagen mit Blick gen Westen zum Meer. Bei den Lamas verhielt es sich genau umgekehrt, sie waren nach Osten zu den Anden ausgerichtet. Fachleute mutmaßen, dass die Kinder und die Tiere unterschiedlichen Göttern geopfert wurden. Einer Gottheit, die mit dem Meer in Verbindung stand, und einer, die mit den Bergen verknüpft war.

Lama und Kind | Das hellbraun gefärbte Fell des Tiers ist stellenweise noch erhalten. Bei der Niederlegung hatte man das Lama über dem Leichnam eines Kindes deponiert, dessen Schädel rechts zu erkennen ist.

Rätselhaft bleibt, warum die Chimú in Huanchaquito-Las Llamas ihre gängigen Opferpraktiken veränderten und ein einziges Mal ein derart umfangreiches Ritual durchführten. Daher haben Prieto und seine Kollegen die toten Kinder und Lamas in den vergangenen Jahren intensiv untersucht. DNA-Analysen ergaben zunächst, dass es keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern der Getöteten gab. Es waren gleichermaßen Mädchen wie Jungen, ihr Alter bestimmten die Archäologen auf 4 bis 15 Jahre. Eine Isotopenauswertung der Knochen lieferte zudem Hinweise auf die Herkunftsregion der Toten. Offenbar stammten sie aus dem ganzen Reich der Chimú, sowohl aus den Andenregionen wie aus den Gebieten entlang des 1000 Kilometer langen Küstenstreifens.

Die unterschiedliche Herkunft der Kinder deutet Goepfert als Indiz, dass sie als Tribute an den Hof der Chimú-Herrscher gelangten. Die Menschen dienten demnach als grausame Zwangsabgabe. »Als das Reich größer wurde, gab es vielleicht einen höheren Bedarf an solchen Zwangsmaßnahmen«, sagt Goepfert. Das Opferritual hätte vor aller Augen gezeigt, über welch große Macht die Elite verfügte. Zugleich hätte es deren hohen Status gestärkt – in einer Gesellschaft, die zweifelsohne stark hierarchisch aufgebaut war.

Bohnen, Maniok und Chilischoten als Henkersmahlzeit

Goepfert, Prieto und ihre Kollegen führten auch an den Überresten der Lamas eine Isotopenuntersuchung durch. Wie sie im Fachmagazin »Environmental Archaeology« berichten, stammten die Tiere allesamt aus küstennahen Regionen. Zudem hatten die Chimú gezielt Tiere mit beigem oder braunem Fell ausgewählt, nie weiße, graue oder schwarze Lamas. Goepfert schließt daraus, dass die Farben eine symbolische Bedeutung hatten. Außerdem futterten die Tiere vor ihrer Opferung eine spezielle Mahlzeit, die sie sonst nie fraßen: gekochte Bohnen, Maniok und Chilischoten. Das ergaben Analysen von Archäozoologen des CNRS in Paris, die sie 2021 in der Fachzeitschrift »Latin American Antiquity« veröffentlichten. »Diese besondere Mahlzeit war für uns unerwartet«, sagt Goepfert. »Sowohl die Tiere als auch die Menschen erfuhren eine besondere Behandlung, ehe sie geopfert wurden.«

Durchschnitten | Die beiden durchtrennten Brustbeine stammen von Skeletten aus Huanchaquito-Las Llamas. Bei allen Toten lagen die Schnitte an nahezu derselben Stelle. Laut der Ausgräber zeugen die Spuren davon, dass eine geübte Hand das Messer führte.

Was aber war der Grund für das rituelle Massaker? Die Archäologen um Gabriel Prieto vermuten als Auslöser eine klimatische Sondersituation. Die Opferung könnte während einer El-Niño-Episode stattgefunden haben. Das Klimaphänomen sucht noch heute die Nordküste Perus heim. Es entsteht in unregelmäßigen Abständen um die Weihnachtszeit – daher der Name El Niño, das Christkind: Sind die Passatwinde zu schwach, um warmes Oberflächenwasser im Pazifik nach Westen zu schieben, versiegt der Aufstrom kühlen Wassers vor Südamerika. Durch die Wärme verdunstet mehr Wasser als sonst, es kommt zu massiven Regenfällen und Überschwemmungen in der extrem trockenen Küstenregion Perus.

El Niño verheerte den Küstenstreifen sicher schon zur Zeit der Chimú. Für ein Volk, das von der Bewässerung abhängig war, dürften solche Ereignisse gravierend gewesen sein. Der Wechsel von Dürre zu Fluten, die von den Anden herabstürzten, stellte die Chimú vor große Probleme. Möglicherweise kam es auch im 15. Jahrhundert zu einer besonders heftigen Klimakatastrophe, mit Überschwemmungen und massiven Erdrutschen. Jedenfalls stieß Prietos Team auf eine dicke Schicht getrockneten Schlamms an der Opferstelle. Mehr noch: Im Schlamm hatten sich Fußspuren erhalten, von Menschen, Lamas und Hunden.

Vermutlich dauerten die Opferrituale damals mehrere Tage an, vielleicht sogar Wochen, sagt Nicolas Goepfert. Deshalb halten es die Archäologen für sehr wahrscheinlich, dass Klimaveränderungen der Grund für das grausame Massenopfer waren. Es sollte höhere Mächte gnädig stimmen, die Katastrophe von den Chimú abzuwenden. Und gleichzeitig sollte es allen Lebenden zeigen, dass ihre Herrscher über enorme Macht verfügten und sich Menschenopfer leisten konnten – so brutal sie auch waren.

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