Quanten-Flaggschiff: Ein Quantensprung in der Technik
Herr Professor Calarco, schon seit einigen Jahren laufen zwei EU-Flaggschiffe: das Human Brain Project und das für Graphen. Beide haben sich in einem mehrstufigen, öffentlichen Auswahlverfahren gegen zahlreiche andere Ideen durchgesetzt. Das Quantum-Flaggschiff hingegen musste diesen Wettbewerb nicht durchlaufen, sondern tauchte aus Sicht der Öffentlichkeit gewissermaßen aus dem Nichts auf. Wie kam es zu diesem eher ungewöhnlichen Bewilligungsprozess?
Dieses Bild täuscht, die Vorbereitungen begannen nämlich eigentlich schon vor 15 Jahren. Damals initiierten wir zahlreiche nationale Förderprogramme, die unsere Forschung mit mehreren hundert Millionen Euro unterstützten. Insgesamt dauerte der gesamte Bewilligungsprozess also viel länger als bei den anderen Flaggschiffen.
Welche Rolle haben Sie persönlich dabei gespielt, das Quantum-Flaggschiff zu realisieren?
Ich habe EU-Kommissar Günther Oettinger unser Vorhaben vorgestellt, was ihn später von unserem Projekt überzeugte.
War das schwer?
Es war nicht ganz einfach. Natürlich war es nicht mit einem einzigen Gespräch getan. Nachdem ich ihn über unser Forschungsgebiet und unsere Ziele informiert hatte, musste er sich von zwei wichtigen Punkten überzeugen: Er wollte wissen, ob sich die Industrie und auch forschungsschwächere EU-Mitgliedstaaten an den Projekten beteiligen würden. Das mussten wir beweisen, deshalb trafen wir uns mit einer Reihe von Vertretern der Industrie und unterschiedlicher Mitgliedstaaten. Nach einigen Jahren setzt die EU nun eigene Experten ein, um unser Projekt akribisch zu prüfen.
Warum braucht Ihr Forschungsgebiet jetzt diese Art der Förderung?
Weil wir momentan das Knowhow in Europa haben, es aber langsam abwandert. Kürzlich warb Microsoft drei der besten europäischen Forschungsgruppen ab, um einen Quantencomputer basierend auf topologischen Qubits zu realisieren. Und 2017 teleportierte Jian-Wei Pan mit seiner Arbeitsgruppe erstmals Photonen von der Erde zu einem chinesischen Satelliten im Orbit – Pan arbeitete zuvor in der Arbeitsgruppe des österreichischen Physikers Anton Zeilinger, der 1997 erstmals Quanten teleportierte. Nachdem die ESA die Anfrage Zeilingers ignorierte, führte Pan das bahnbrechende Experiment in China durch.
China und die USA investieren enorm hohe Summen in Quantentechnologien, dagegen wirkt eine Milliarde Euro überschaubar. Kann Europa da überhaupt mithalten?
Europa kann nur mithalten, wenn die Industrie sich beteiligt. Es mag sich lächerlich anhören, aber wir betrachten die Milliarde als Anschubfinanzierung, damit größere Unternehmen auf uns aufmerksam werden.
Vor ein paar Jahren erachtete der Bosch-Konzern von 20 denkbaren Quantentechnologien nur zwei als potenziell produkttauglich. Es scheint, als könnte die Suche nach Förderern schwierig werden.
Vor drei Jahren hätte ich Ihnen zugestimmt. Doch die Lage hat sich geändert. In unserem aktuellen Konsortium zu Quantensimulatoren stellen wir uns momentan sogar die Frage, ob wir nicht zu viele Partner aus der Industrie haben.
Bei Quantensimulatoren? Warum möchten sich Firmen an ihnen beteiligen?
Quantensimulatoren können in der Zukunft komplexe Materialien simulieren – darunter zum Beispiel Chemikalien und Supraleiter. Das interessiert auch Firmen abseits der Tech-Branche. 2017 hat Volkswagen beispielsweise eine Maschine von D-Wave gekauft, die mit Hilfe der Quantenmechanik Optimierungsprobleme schneller lösen können soll. Das motiviert andere deutsche Unternehmen, ebenfalls mehr in diese Form der Forschung zu investieren – und das nicht nur im Bereich der Sensorik und Kommunikation, wie Bosch es bisher tut.
Was sind denn die wichtigsten Technologien, die das Flaggschiff fördern werden?
Im Wesentlichen gliedern sie sich in vier Bereiche: die bereits erwähnten Quantensimulationen und -computer, aber auch Quantenkommunikation und -sensorik.
Inwiefern haben diese Bereiche einen Nutzen – etwa in unserem Alltag?
Quantensysteme könnten den Kommunikationsbereich sicherer gestalten. Heute werden Daten als einzelne Bits übertragen, die jeweils durch mehrere Photonen kodiert sind. Dieser Übertragungsweg ist nicht ausnahmslos sicher: Wenn ein Dritter einige der Photonen stiehlt, fällt das nicht auf. Diese Schwachstelle nutzten Geheimdienste wie die NSA aus. Die Quantenkommunikation könnte dieses Problem lösen. Jedes Bit wird dann durch ein einzelnes Photon kodiert, das nicht weiter geteilt werden kann. Eine Messung des Bits würde das System stören: Man kann also sicherstellen, dass niemand die Nachricht unterwegs abgefangen hat.
Das klingt viel versprechend. Kann man diese Art der Kommunikation schon umsetzen?
Ja, sie wird bereits auf Kanälen von mehreren hundert Kilometern Länge eingesetzt – beispielsweise in China. Und das zuvor erwähnte Experiment von Jian-Wei Pan hat 2017 eine sichere Satellitenübertragung ermöglicht.
Welche Quantentechnologien werden sich darüber hinaus in den kommenden Jahren Ihrer Meinung nach durchsetzen?
Gerade im Bereich der Sensorik können wir sehr kleine Felder immer präziser messen. Die Quantentechnologie wird es uns hoffentlich bald ermöglichen, einzelne Neurone in Echtzeit zu detektieren. Das wäre ein wichtiger Schritt für die Medizin. Viele deutsche Firmen, darunter Bosch, forschen aktuell in diesem Bereich.
Ist es nicht immer noch extrem schwierig, Quantenphänomene wie Verschränkung in Alltagsprodukten anzuwenden?
Ja, leider müssen die meisten Quantensysteme extrem gekühlt werden. Glücklicherweise aber nicht alle: Quantenkommunikation funktioniert beispielsweise bei Raumtemperatur. Doch auch einige Festkörper bergen ohne Kühlung Quanteneigenschaften, etwa Diamanten mit bestimmten Fehlstellen.
Was wäre langfristig gesehen die größtmögliche Revolution, die eine Quantentechnologie hervorbringen könnte?
Ich denke, dass Quantensimulation und Quantencomputer bedeutende Fortschritte einleiten werden. Durch sie könnten wir bisher unbekannte Chemikalien für die Medizin entwickeln und eine neue Generation künstlicher Intelligenz hervorbringen.
In Ihrem Antrag behaupten Sie, dass universelle Quantencomputer in den nächsten 20 Jahren verfügbar sein werden. Das scheint optimistisch.
In letzter Zeit werde ich häufiger gefragt, ob unsere Ziele nicht zu konservativ sind. Google hat für Anfang 2018 den Beweis der so genannten "Quantum Supremacy" angekündigt. Auch IBM plant, einen Quantencomputer mit 50 Qubits zu entwickeln. Wir haben etliche führende Wissenschaftler gebeten, unsere geplanten Ziele zu überprüfen – und sie stimmen mit unserer Einschätzung überein.
Quantencomputer wurden schon Anfang der 2000er Jahre mit Vorschusslorbeeren überhäuft, doch dann ist die Forschung jahrelang nicht recht vorangekommen. Was hat sich da so plötzlich geändert?
Aktuell gibt es nur noch ingenieurwissenschaftliche Hürden, die wir überwinden müssen. Die grundlegende Theorie ist weit genug entwickelt: Einzelne Qubits existieren schon, und man kann mit ihnen rechnen, was wir Anfang der 2000er Jahre noch nicht konnten. Jetzt müssen Ingenieure ihre Anzahl noch hochskalieren.
Es gibt mehrere konkurrierende Konzepte, wie ein Quantencomputer realisiert werden könnte. Welches halten Sie für am zukunftsfähigsten?
Ich denke, sie sind alle sehr wichtig. Selbst Experten wie John Martinis, der bei Google mit supraleitenden Qubits arbeitet und darum befangen sein könnte, betont, dass man sich nicht nur auf eine Möglichkeit versteifen soll. Darum versuchen wir zumindest in der ersten Phase alle Methoden zu fördern.
Gilt das auch für topologische Quantencomputer, deren Qubits aus zweidimensionalen Quasiteilchen – so genannten Anyonen – bestehen?
Zunächst müssen Physiker überhaupt ein einzelnes topologisches Qubit erzeugen. Dieses Konzept ist sehr spannend und theoretisch viel versprechend. Ich finde es überaus mutig, dass Microsoft alles auf topologische Quantencomputer setzt. Denn das ist Grundlagenwissenschaft, vielleicht nobelpreiswürdig, aber noch nicht technologiefähig.
Woran forschen Sie momentan – haben Sie überhaupt noch Zeit dafür?
Glücklicherweise ja. Das Bundesministerium für Forschung finanziert mehrere Assistenten, die mich bei den administrativen Arbeiten unterstützen. So kann ich mich an der Universität Ulm der optimalen Kontrolle von Quantensystemen widmen: Wir versuchen Experimente geeignet einzustellen, so dass die Fehlerraten möglichst niedrig bleiben. Wir haben dazu eine neue Methode entwickelt, die wir künftig als eine Art Cloudservice anbieten möchten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview fand während des vom DAI organisierten "Geist Heidelberg – International Science Festival" statt.
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