Kenia: Quer durch die Zugroute
Es war genau der Anblick, den die Behörden Kenias so gerne vermieden hätten: Eine tote Löwin liegt auf den Schienen der brandneuen Eisenbahnstrecke zwischen der Küstenmetropole Mombasa und der Hauptstadt Nairobi. Die Raubkatze war rund 60 Kilometer außerhalb des Ortes Voi, an der Grenze des Tsavo-East-Nationalparks, mit dem neuen Stolz des Landes kollidiert – dem Madaraka Express. Paul Mbugua, Sprecher der kenianischen Naturschutzbehörde Kenyan Wildlife Services (KWS), ist bemüht, den Vorfall herunterzuspielen: »Es war ein Einzelfall, sie wurde vermutlich von ihrem Rudel getrennt.« Doch Tierschützer sehen sich durch Vorfälle wie diesen darin bestätigt, wovor sie schon seit Langem warnen: Der Bau der Eisenbahnroute durch gleich zwei Nationalparks sei mit einer solchen Geschwindigkeit und Rücksichtslosigkeit vorangetrieben worden, dass die Auswirkungen auf die Tierwelt Kenias nicht ausreichend untersucht werden konnten.
Eisenbahnbau in Kenia ist schon immer ein Aufsehen erregendes Unterfangen gewesen. 1896 beschlossen die damaligen britischen Kolonialherren, dass die Schätze aus dem Inland des Kontinents, besonders aus Uganda, schneller und effizienter in die Hafenstadt Mombasa gelangen müssten – außerdem sollten Truppen schneller an Brennpunkte verlegt werden können. Die Wahnwitzigkeit des Bauprojekts gab der Route von der Küste nach Nairobi und schließlich zum Victoriasee ihren Spitznamen: Lunatic Line. Bis zur Vollendung 1901 wurden auf gut 1000 Kilometern Schienen verlegt, rund 2500 überwiegend indische Bauarbeiter kamen ums Leben. Dabei wurden angeblich 135 von ihnen im Naturschutzgebiet Tsavo, das die Eisenbahn von nun an in einen West- und Ostpark teilte, von zwei Löwen gefressen, die durch die Bautrupps aufgeschreckt wurden. Die Legenden, die sich um die beiden Menschenfresser und ihren Widersacher, den britischen Colonel John Henry Patterson, ranken, erzählt man sich heute noch gerne in Kenia. Patterson erlegte die Löwen schließlich im Dezember 1898 und lieferte damit Hollywood den passenden Stoff für einen Spielfilm.
Auch 120 Jahre später wird bei dem neuen, riesigen Eisenbahnprojekt, das zum Teil dieser alten britischen Strecke folgt, wieder über die Tierwelt Kenias diskutiert. Doch geht es diesmal nicht um Menschen fressende Löwen, sondern darum, ob und wie die wilden Tiere das Vordringen der Zivilisation in ihr Gebiet verkraften können. Tierschützer sind skeptisch. »Es scheint mir, dass der Tierschutzgedanke immer weniger mit Kenias vorrangigen Entwicklungszielen in Einklang zu bringen ist«, schreibt Paula Kahumbu, eine weltbekannte kenianische Aktivistin von der Tierschutzgruppe WildlifeDirect. Der Wirtschaftsplan Kenya Vision 2030 soll das Land in den nächsten zwölf Jahren zum Wirtschaftsmotor Afrikas machen, das Eisenbahnprojekt ist dabei ein Schlüsselfaktor.
Mit 120 Stundenkilometern durch den Nationalpark
Das erste Teilstück wurde im vergangenen Jahr fertig gestellt. Seit Mai 2017 fährt der neue Madaraka Express auf einer rund 480 Kilometer langen Strecke zwischen Mombasa und Nairobi, im Personenverkehr mit Geschwindigkeiten von bis zu 120 Stundenkilometern. Seit Januar 2018 kommen nun auch die für die Wirtschaft Kenias so wichtigen Frachttransporte hinzu. Dieses erste 3,2 Milliarden US-Dollar teure Teilstück stellt den Auftakt des gewaltigen SGR-Plans dar. SGR steht für Standard Gauge Railway, zu Deutsch Normalspurbahn. Mit einer vereinheitlichten Schienenspurweite soll der Eisenbahnverkehr zwischen verschiedenen Staaten schneller werden, weil das Zeit raubende Umladen an den Landesgrenzen entfällt. So sollen Normalspurstrecken in absehbarer Zukunft Kenia, Uganda, Ruanda, Südsudan, Burundi und Äthiopien miteinander verbinden. Arbeiten in Kenia an der zweiten Bauphase 2A von Nairobi nach Naivasha haben bereits begonnen. Der dritte Teil führt das Bauvorhaben schließlich an die Grenze Ugandas. »Große lebendige Städte mit Fabriken und Hotels werden an der Strecke entstehen und unserer Jugend Arbeit geben«, beschreibt Kenias Präsident Uhuru Kenyatta die Vision hinter dem bislang aufwändigsten Projekt des seit 1963 unabhängigen Landes.
Rechnet man alle derzeit im Bau oder in der Endphase der Planung befindlichen afrikanischen Eisenbahnprojekte zusammen, ergibt sich eine Gesamtschienenlänge von mehr als 11 000 Kilometern – genug, um Kapstadt mit Kopenhagen zu verbinden. Im Hintergrund dieser Entwicklung steht besonders ein wichtiger Akteur: China. »Der SGR stellt einen Teil der chinesischen Belt and Road Initiative dar, deren Ziel es ist, Ost- und Zentralafrika besser für den internationalen Handel und Investitionen zu erschließen«, erläutert Uwe Wissenbach, Koordinator der Europäischen Kommission für die Beziehungen zwischen China und Afrika. Wissenbach hatte in einem Forschungspapier für die Johns Hopkins University School of Advanced International Studies untersucht, wie sich kenianische Lokalpolitik auf ein chinesisches Bauprojekt auswirkte. Sein Fazit ist dabei vor allem für die afrikanische Seite wenig schmeichelhaft: »Wenn Kenias Regierung die von ihr gesetzten Rahmenbedingungen für solche Infrastrukturprojekte nicht verbessert, laufen diese Gefahr, weit über den ursprünglichen Budgets zu liegen. Dies reduziert die Bereitschaft von Nachbarländern und ausländischen Investoren, sich zukünftig an solchen Vorhaben zu beteiligen.« Außerdem betont Wissenbach, dass diese Probleme keineswegs auf ein China oft unterstelltes ausbeuterisches Verhalten zurückgehen, sondern hausgemacht seien: Die Verantwortung liege auf Seiten der kenianischen Politik.
Die Weltbank hatte 2013 nach ihrer eigenen Untersuchung das Vorhaben als zu teuer abgelehnt und Kenia stattdessen die Modernisierung der alten Kolonialstrecke angeraten. Darauf sprang China ein und bot Kenia sowohl die Finanzierung durch seine Export-Import-Bank an als auch die Durchführung des Baus durch ein staatseigenes Unternehmen. Nun beobachten Wissenbach und andere Experten eine intensive kenianische Regierungskampagne, bei der die Einhaltung des Bauzeitplans allen Einwänden übergeordnet werde. »Die Naturschützer Kenias wurden von ihrer eigenen Regierung weitgehend überstimmt, als sie versuchten, einen Schwerpunkt auf den Tierschutz zu setzen«, so Wissenbach.
Mangelhaft geplant, zu schnell gebaut
Seitdem versuchen die Aktivisten, ihren Einwänden Gehör zu verschaffen. Sie bestreiten nicht die Notwendigkeit einer verbesserten Infrastruktur, kritisieren aber mangelhafte Planung, Baugeschwindigkeit und Korruption. »Wir begrüßen den Fortschritt durch den SGR, sollten aber nicht die Einwände der Wissenschaft unter den Teppich kehren«, schreibt Ben Okita in einem Beitrag für die kenianische Zeitung »Daily Nation«. Der Kenianer ist ein Aufsichtsratsmitglied der Conservation Alliance of Kenya, ein Verbund aus über 50 Tierschutzgruppen, der entstand, als sich zeigte, dass sich das Eisenbahnprojekt wenig um die Auswirkungen auf die Natur kümmerte. »Ein ganzes Viertel der ersten Teilstrecke verläuft durch das 23 000 Quadratkilometer große Tsavo-Schutzgebiet. Hier findet sich mit rund 12 000 Tieren Kenias größte Elefantenpopulation, außerdem leben hier 120 der hochgradig gefährdeten Spitzmaulnashörner«, warnt Okita.
Schon im Dezember 2016, also noch während des Baus, wurde das Tsavo-Teilstück von einem Umweltausschuss des kenianischen Parlaments heftig kritisiert. Laut Ausschuss hätten gleich drei Staatsorgane, die Naturschutzbehörde, die Wildtierbehörde und die staatliche Eisenbahn, ihre Augen verschlossen, als Unterführungen für die wilden Tiere schlichtweg an den falschen Stellen erbaut wurden – ohne Rücksicht auf deren althergebrachten Migrationsrouten. »Die Tiere können verhungern, wenn sie jetzt an den Stellen, an denen sie früher die alte Bahnstrecke überquerten, nicht mehr weiterkommen«, heißt es in dem Bericht. Außerdem könnten die neuen Unterführungen Wilderei begünstigen.
Nicht weniger als sechs »Megahindernisse« stehen den Tieren des Nationalparks im Weg
Die Gruppe Save The Elephants, der Ben Okita ebenfalls angehört, begann noch während der Bauzeit durch das Tsavo-Gebiet die Auswirkungen zu beobachten. Im März 2016 wurden zunächst zehn Elefanten mit GPS-Sendern ausgestattet. Dabei ging es den Wissenschaftlern vor allem darum zu ermitteln, ob Elefanten oder auch andere Tiere die Durchlässe nutzen, die ihnen beim Bau der Strecke gelassen wurden, um zwischen den beiden Teilen des Parks zu migrieren. Wenn nicht, wären laut Okita 98 Prozent der Konnektivität des Ökosystems blockiert. Tiere könnten in Trockenzeiten nicht mehr dem Regen und ihrer Nahrung folgen, der Zugang zu Paarungsgebieten wäre abgeschnitten, Sozialstrukturen zum Beispiel von Elefantenherden könnten aus dem Gleichgewicht geraten.
Elefanten, Giraffen und andere Tiere konnten die alte Eisenbahnstrecke, bei der sich die Schienen flach am Boden befanden, problemlos überqueren. »Der SGR hingegen ist erhöht auf einem Damm gebaut, an manchen Stellen bis zu zehn Meter über Bodenniveau, und auf beiden Seiten eingezäunt«, erläutert Okita. Auf dem 135 Kilometer langen Tsavo-Abschnitt messen die belassenen Öffnungen zusammen weniger als zehn Kilometer. Dabei hatten die Ingenieure sechs rund 70 Meter breite brückenartige Unterführungen konstruiert, die genug Platz selbst für Elefanten bieten. Hinzu kommen die zwei Kilometer lange Superbrücke über den Tsavo-Fluss und die Kenani- und Maungu-Eisenbahnbrücken – somit insgesamt neun Stellen. Ob und wie die Tiere diese Möglichkeiten aber nutzen würden und welche Erfahrungen bei ähnlichen Projekten gemacht wurden, hatte man vor Baubeginn nicht ermittelt.
Elefanten landen auf den Gleisen
In zwei vorläufigen Reports fassen Save The Elephants und KWS die ersten Beobachtungen der Auswirkungen zusammen. Dabei wurden die zehn mit Sendern ausgestatteten Elefanten bis März 2017 verfolgt. Von Juli 2016 bis Juli 2017, also nach der offiziellen Inbetriebnahme, beobachteten die Forscher Elefanten in der Nähe der Strecke zudem aus Fahrzeugen und zu Fuß. Die Daten zeichnen noch kein komplettes Bild, belegen aber bereits, dass manche Elefanten Schwierigkeiten hatten, einen geeigneten Übergang zu finden. Andere durchbrachen die Zäune und bestiegen den Eisenbahndamm. »Schon während der Bauarbeiten haben wir einen Anstieg tödlicher Kollisionen verzeichnet. Zwischen 2016 und 2017 waren insgesamt 20 Elefanten durch das Projekt so verwirrt, dass sie entweder in Lastwagen auf der benachbarten Schnellstraße liefen oder von Zügen erfasst wurden«, berichtet Okita. Der Bericht spricht von einer »erheblichen Barriere«, die negative Folgen für die Tierwelt sehr wahrscheinlich mache. Außerdem verweisen die Forscher darauf, dass ihre Erkenntnisse sich bislang nur auf die robuste und selbstbewusste Tierart der Elefanten beziehen. Auch wenn manche Elefanten es bereits gelernt hätten, die Durchlässe zu nutzen, vermerkt das Papier, würden »Giraffen generell jegliche Form von Unterführung vermeiden«.
Schon jetzt ziehen die geräumigen und regengeschützten Plätze unter der Bahnstrecke illegale Siedlungen an, wo es bald zu Konflikten zwischen Mensch und Tier kommen könnte. Diese Siedlungen befinden sich oft zwischen der eingezäunten neuen Strecke und der gleich danebenliegenden alten Kolonialtrasse. »Die Tiere verirren sich zwischen die beiden Trassen und den Siedlungen, sie werden in diesem Korridor regelgerecht eingefangen«, schreibt Okita. Hinzu kommt, dass die neben der Bahn verlaufende holprige Schnellstraße zu einer sechsspurigen Autobahn ausgebaut werden soll. So zählen die Forscher nicht weniger als sechs »Megahindernisse« für die Tiere in Tsavo: die neue SGR-Bahn, die alte Kolonialstrecke, die alte Schnellstraße, eine Ölpipeline, eine Stromtrasse und die geplante Autobahn. »Solche Infrastrukturbauten sollten auf einen vorab definierten Transportkorridor beschränkt bleiben«, fordert Okita.
Die Zäune seien zu schwach und lotsten die Tiere nicht zu den Unterführungen. Vor allem aber nehmen die Tierschützer Anstoß an den Passierhilfen selbst: Überführungen und Brücken seien grundsätzlich besser dafür geeignet als Unterführungen. Sie könnten bepflanzt werden und den Tieren den Eindruck einer natürlichen Umgebung vermitteln, anstatt die Tiere mit dem Lärm der Züge, die über ihre Köpfe hinwegdonnern, aufzuschrecken – das sei besonders auch für die scheuen Giraffen wichtig.
Solche Erkenntnisse hätten kenianische Behörden nach Auskunft ihrer Kritiker bereits vor Baubeginn erlangen können. In China wurde 2006 die fast 2000 Kilometer lange Eisenbahnroute zwischen Qinghai und Tibet fertig gestellt. Die Bauweise der Strecke ähnelt dem Projekt in Kenia besonders wegen der hoch angelegten Dämme, auf denen die Schienen verlaufen. »Für mich besteht kein Zweifel, dass die Planung der Unterführungen in Kenia auf die Tibetstrecke zurückgehen«, sagt Uwe Wissenbach. Auch dort bilden die Route und eine daneben verlaufende Autobahn ein massives Hindernis für wilde Tiere, denn sie durchschneiden gleich drei Naturschutzgebiete. Und auch dort drehte sich eine wissenschaftliche Debatte um Unterführungen und Überführungen. »Nachdem die Qinghai-Tibet-Route gebaut worden war, benötigte die gefährdete Tibetantilope mehr als zehn Jahre, um die Unterführungen zu nutzen – mit schweren Auswirkungen auf Migrations- und Brutverhalten«, berichtet Okita.
Keine Lehren aus der Tibetbahn
Zwar verzeichneten frühe Studien, dass die Tiere in China sich der Eisenbahnroute und der Autobahn in ihrem Migrationsverhalten anpassten, doch mehrere Jahre später zeigte sich auch, dass manche Arten immer noch Schwierigkeiten hatten. So beobachteten Forscher im Rahmen einer Studie von 2011 zum Beispiel zwei weibliche Tibetantilopen, die erhebliche Probleme hatten, Schienen und Straße zu überwinden, und 20 bis 40 Tage damit verbrachten, zur anderen Seite zu gelangen. »Wir gehen davon aus, dass Eisenbahn und Autobahn die Migration der Antilopen schwer behindert und besonders die Ankunft in Gebieten verzögert, in denen die Tiere kalben«, heißt es in der Studie. Dem fallen vor allem Jungtiere zum Opfer.
Zwischen 2014 und 2016 wurden schließlich Infrarotkameras sowohl an den Unterführungen als auch an den Wildbrücken der chinesischen Eisenbahnstrecke angebracht. Bei der Veröffentlichung der Ergebnisse im Februar 2018 in »Ecological Research« betonten die Autoren ausdrücklich, dass »ein Verständnis dieser Übergänge der Planung ähnlicher Bauprojekte helfen kann«. Und die Daten zeigten, dass alle Säugetierarten die Brücken in einem wesentlich höheren Maß nutzten als die Unterführungen – eine wichtige Erkenntnis, die auch für den Bahnbau in Kenia Bedeutung hat.
Auch Priscila Lucas, eine brasilianische Expertin für die Auswirkung von Verkehrsprojekten auf Ökosysteme, hält den Vergleich zwischen dem SGR-Projekt in Kenia und der Qinghai-Tibet-Route für zulässig. »In solchen Situationen werden die einzelnen Tiere über einen gewissen Zeitraum hinweg zu einer Entscheidung gelangen, ob sie in dem vertrauten Gebiet bleiben wollen und die neu entstandenen Nachteile in Kauf nehmen oder ob sie den Ressourcen wie Nahrung und Partner in eine anderes Gebiet folgen«, erläutert die Ökologin vom Brazilian Centre of Road Ecology. Doch bei aller Durchlässigkeit gehe zwangsläufig Lebensraum verloren – die Populationen würden schrumpfen und mit ihnen die genetische Vielfalt. Am Ende steigt für ganze Arten das Aussterberisiko.
Lucas hatte mit Kollegen 2017 für das Fachbuch »Railway Ecology« das Kapitel beigesteuert, das sich mit den Störungen befasst, die der Eisenbahnbau für wilde Tiere mit sich bringt. Darin zeigt sie auch, dass neben dem reinen Hindernis, das besonders die Hochtrassen bilden, andere Faktoren oft unterschätzt werden: der Lärm, die Vibrationen der Züge, Licht, gesteigerte Aktivität der Menschen in der Gegend und besonders auch die Umweltverschmutzung. »Die Emissionen der Züge vergiften die umliegenden Gegenden mit Schwermetallen und anderen Schadstoffen. Auf der Qinghai-Tibet-Route bleiben solche Schadstoffe zum Beispiel wegen der geringer biologischer Abbaubarkeit über etliche Jahre im Boden, mit Auswirkungen auf die Tierwelt«, sagt Lucas mit Verweis auf eine entsprechende Studie. Die Forscherin fordert daher nun auch für die SGR-Route in Kenia dringend neue wissenschaftliche Studien, die sich nicht nur mit der Migration der Tiere beschäftigten, sondern auch mit der Verschmutzung von Boden, Wasser und Luft.
Geschehen sollen hätte dies freilich vor Baubeginn. Auch in Kenia ist bei Projekten dieser Größenordnung eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) verbindlich vorgeschrieben. Doch in der Praxis bleiben diese Prüfungen hinter dem an sie gestellten Anspruch weit zurück.
Umweltverträglichkeitsprüfung »ein einziges Chaos«
So auch die UVP für die kenianische Neubaustrecke, meint Akshay Vishwanath: »Die UVP für die zweite Bauphase war ein einziges Chaos – umfangreich, aber schlecht geschrieben, ohne Details und insofern befangen, als dass sie nur eine einzige Route erwog – durch einen weiteren Nationalpark«, sagt der kenianische Umweltschützer, der für die Weltnaturschutzunion IUCN arbeitet und Vorsitzender des Fördervereins Friends of Nairobi National Park ist. Genau dieser Nationalpark steht nun im Brennpunkt. »Eine Route, die den Nairobi National Park komplett vermeiden könnte, wurde in der UVP nicht einmal in Erwägung gezogen«, klagt Vishwanath.
Im Dezember 2017 verkündete die Regierung Kenias, über 40 Hektar aus dem ohnehin nur noch 117 Quadratkilometer messenden Park für den Bau der zweiten Teilstrecke auszugliedern. Der Park, der als eines der letzten Rückzugsgebiete für das hochgradig gefährdete Spitzmaulnashorn gilt, wird bereits seit Jahren von der ständig wachsenden Hauptstadt immer weiter verdrängt. »Die gleichen Fehler, die in Tsavo gemacht wurden, drohen nun auch dem Nairobi National Park«, sagt Vishwanath. So hat der Bau einer sechs Kilometer langen und 40 Meter hohen Brücke durch den Westteil des Parks bereits begonnen – illegalerweise, sagt Vishwanath. »Im Moment haben wir acht verschiedene Klagen gegen die zweite Bauphase vor kenianischen Gerichten. Dabei hatten wir schon 2016 eine einstweilige Verfügung erreicht, die den Baubeginn der zweiten Phase nach Nivasha untersagt, bis es dazu eine Gerichtsverhandlung gibt«, sagt der Tierschützer. Die zur Hälfte fertig gestellte Brücke durch den Nationalpark müsse rückgebaut werden, die Pfeiler abgerissen und eine alternative Route geplant werden. »Die gesamte UVP war nur eine Formalität, die man abhaken wollte. Die Prüfung folgte keinerlei professionellen Richtlinien, lieferte keine spezifischen Daten und hatte gewaltige Lücken«, sagt Vishwanath. Statt die geplante Route objektiv zu analysieren, mache die Studie geradezu Werbung dafür. »Wie kann die Prüfung zum Beispiel zu dem Schluss gelangen, dass die wilden Tiere nicht vom Bau beeinträchtigt werden, wenn keinerlei Daten zu ihrer Bewegung und ihrem Verhalten präsentiert werden?«, fragt der Kenianer. Es seien auch keinerlei Überwachungssysteme installiert worden, mit denen die Tiere beobachtet werden könnten.
So verlagert sich die Debatte in Kenia inzwischen auf die Frage, warum die Regierung keine Alternativrouten in Erwägung zog. Die Antwort darauf könnte ein jüngst aufgedeckter Korruptionsskandal geben. Eine Revision der Baukosten entdeckte, dass Angestellte der Eisenbahn und der Nationalen Landkommission Gelder im Wert von mehr als 30 Millionen Euro stahlen, indem sie fingierte Entschädigungsanträge für Enteignungen stellten oder den Wert von Grundstücken in die Höhe trieben.
Naturschützer wie Vishwanath mutmaßen, dass dadurch schlicht das Geld für echte Kompensationen fehlte und deswegen Routen durch unbewohnte Natur einfacher und vor allem günstiger erschienen. »Landenteignungen sind sehr kostspielig und sicher politisch delikat. Da bietet es sich an, das Land zu bebauen, das ohnehin der Regierung gehört, wenn die Folgen für die Tierwelt gemindert werden können – oder das zumindest so dargestellt werden kann«, bestätigt auch Uwe Wissenbach. Während seiner Recherche habe Wissenbach von Politikern oft das Argument gehört, dass sich »Tiere eben genau wie die Menschen den Veränderungen anpassen müssen, die durch den Bau entstehen«. Ob der Tierwelt Kenias solche Prioritäten vermittelbar sind, ist mehr als ungewiss.
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