Raumfahrt: Die Wiederentdeckung der Venus
Suzanne Smrekar beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Venus. Die NASA-Geophysikerin arbeitete bereits am 1989 gestarteten Venus-Orbiter Magellan. Er war mit einem Radarsystem ausgestattet, das unter die dicken Wolken des Planeten blicken und zum ersten Mal die gesamte Oberfläche kartieren konnte – eine bizarre Welt mit wenigen Kratern, einer Fülle von Vulkanen und weiten Ebenen aus erstarrter Lava. Die Daten lieferten Indizien für eine der bis heute wichtigsten unbeantworteten Fragen der Planetenforschung: Was hat die Venus in einen solch infernalischen Zustand versetzt? Der zweitinnerste Planet des Sonnensystems ist hinsichtlich Größe und Zusammensetzung nahezu ein Zwilling der benachbarten Erde. Warum haben die beiden Geschwisterplaneten eine so verblüffend unterschiedliche Geschichte?
Die Erkundung durch Magellan endete 1994. Seine Mission war die letzte, welche die NASA zur Venusforschung auf den Weg gebracht hat. Gerade als Smrekar und ihre Kollegen sich mit den frisch gelüfteten Geheimnissen des Planeten auseinandersetzten, erregten sensationelle Behauptungen über Leben auf dem Mars die öffentliche Aufmerksamkeit. Ein Vierteljahrhundert später ist ein großer Teil der weltweiten Gemeinschaft aus der Planetenwissenschaft immer noch mit der bislang erfolglosen Suche nach Marsbewohnern beschäftigt. Währenddessen fristete die Venus – eine saure, enorm heiße, trockene und vermutlich leblose Einöde – lange ein Schattendasein.
Ein Wendepunkt kam im Juni 2021, als die NASA eine Auswahl neuer interplanetarer Missionen im Rahmen ihres Programms Discovery bekannt gab. Die Behörde hatte vier Raumsonden in Erwägung gezogen: eine, die einen Neptunmond besuchen sollte, eine weitere für ein Rendezvous mit einem Jupitermond und zwei mit den Namen DAVINCI+ und VERITAS, die jeweils unabhängig voneinander eine Rückkehr zur Venus anstrebten.
»Wir wünschen uns alle verzweifelt ein Ende des Venus-Fluchs«, sagte Smrekar, die VERITAS leitet, vor der Entscheidung. Sie und ihre Kollegen hofften auf grünes Licht für wenigstens eine der beiden Venusmissionen. Dann wählte die NASA zu Smrekars großer Überraschung sowohl VERITAS als auch DAVINCI+ aus. Die zwei sich ergänzenden Missionen sollen untersuchen, ob der Planet früher möglicherweise lebensfreundliche Bedingungen bot. Zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten hatten die USA damit beschlossen, wieder zur Venus zu fliegen, und zwar gleich mit einem Doppelschlag. Bald darauf gab es weitere gute Nachrichten. Nur eine Woche nach der mit Spannung erwarteten Entscheidung der NASA verkündete die Europäische Weltraumorganisation ESA, dass der Orbiter EnVision ausgewählte Abschnitte des Planeten wissenschaftlich untersuchen würde.
Alle drei Missionen sollten gegen Ende der 2020er oder Anfang der 2030er Jahre startbereit sein. Diese plötzliche Venus-Renaissance war Anfang 2021 nicht abzusehen. Die Zeit im Rampenlicht schien für den Planeten vorerst vorbei zu sein. In den 1960er und 1970er Jahren war er noch Schauplatz eines Wettlaufs im Kalten Krieg – die USA und die Sowjetunion schickten jeweils mehrere Missionen dorthin. Doch mit jedem Vorstoß wurde klarer: Der Planet war für eine künftige Erkundung durch Menschen denkbar ungeeignet.
Die dichte Atmosphäre der Venus besteht zu etwa 95 Prozent aus Kohlendioxid. Die Wolken sind voll Schwefelsäure, die selbst Metall zerfrisst. Auf der Oberfläche entgehen Sonden der ätzenden Säure zwar, aber nur, weil es dort nicht regnen kann: Der Boden ist über 460 Grad heiß. Das allein kann kein Roboter lange aushalten, und obendrein muss er mit einem Oberflächendruck zurechtkommen, der etwa 90-mal so hoch ist wie der auf der Erde.
Seit dem Ende von Magellan ist nicht nur auf, sondern auch um die Venus relativ wenig los. Immerhin umkreiste die europäische Raumsonde Venus Express den Planeten von 2006 bis 2014. Der japanische Orbiter Akatsuki, der 2015 erfolgreich in die Umlaufbahn eintrat, untersucht dort immer noch die Venusatmosphäre und fahndet nach schwer registrierbaren Blitzen. Ginge es nach Paul Byrne, einem Planetenforscher an der North Carolina State University und leidenschaftlichen Venusfan, würden heute viele Raumsonden um die Venus fliegen oder auf ihr landen. Stattdessen, sagt er, sei die Venus ein Planet, für den sich 30 Jahre lang kaum jemand so richtig interessiert habe.
Der Abstieg der Venus kam mit dem Aufstieg des Mars, als 1996 eine Reihe angesehener Wissenschaftler einen Artikel zu angeblichen mikroskopisch kleinen Fossilien in einem Marsmeteoriten namens ALH 84001 veröffentlichte. US-Präsident Bill Clinton hielt auf dem Rasen des Weißen Hauses eine Rede über die Entdeckung und erklärte der Welt, dass nun »das amerikanische Raumfahrtprogramm seine ganze intellektuelle Kraft und sein technologisches Können in die Suche nach weiteren Beweisen für Leben auf dem Mars stecken« würde.
Der Befund hat sich als voreilig herausgestellt. Laut zusätzlichen Studien kann es sich bei den Mikrofossilien ebenso gut um völlig abiotisch hervorgegangene Mineralformationen handeln. Aber die einmal gefasste Hoffnung darauf, Lebensspuren zu finden, war zu verlockend, um sie wieder aufzugeben. Eine Mission nach der anderen wurde zum Mars geschickt, jede baute auf den Erfolgen ihrer Vorgänger auf und stärkte den Nimbus des Planeten als herausragendes Ziel für die Erforschung des Weltalls. »Irgendwie scheint der Mars eine unantastbare Anziehungskraft auf die Öffentlichkeit auszuüben«, meint Byrne. Er scherzt gelegentlich, er würde den Mars am liebsten sprengen, so dass alle gezwungen wären, stattdessen wieder auf die Venus zu schauen.
Doch selbst wenn der Mars vom Himmel verschwände, bliebe der überaus zerstörerische Charakter der Venus bestehen. Beobachtungen aus der Umlaufbahn sind immerhin harmlos für die Technik, aber man benötigt dafür ein leistungsfähiges Radar, das die dichten Wolken durchdringen kann. Im Gegensatz dazu ist der Mars mit seiner dünnen und durchsichtigen Atmosphäre und seinem kalten, trockenen Boden, der nur gelegentlich von Staubstürmen heimgesucht wird, »der ideale Ort für die Erforschung der Oberfläche eines Planeten«, urteilt Byrne. Aber ist er für die Wissenschaft deswegen wertvoller als die Venus? »Das glaube ich nicht im Entferntesten.« Ein Argument gegen den Mars ist seine Größe. Mit nur einem Sechstel des Volumens und nur einem Zehntel der Masse unseres Planeten ist er nicht wirklich erdähnlich – zumindest nicht im Vergleich zur Venus, die nach diesen Maßstäben praktisch ein Zwilling der Erde ist.
Das Problem der für Raumfahrzeuge tödlichen Umgebung soll durch hitzebeständige Elektronik gelöst werden, die dem Inferno auf der Venus widerstehen kann. Aber es gibt bis heute nichts, was einer Oberflächenmission mehr als ein paar Stunden Überlebenszeit verschaffen könnte. Dennoch, so Byrne, ist die Venus auf Grund ihrer großen Ähnlichkeit mit unserem eigenen Planeten ein lohnenswertes Ziel, um herauszufinden, was erdähnliche Welten ausmacht und was nicht. »Es wird schwierig sein«, sagt Byrne. »Aber das ist kein Grund, es nicht zu versuchen.«
Das Discovery-Programm der NASA zeichnet sich mit etwa 600 Millionen Dollar pro Projekt durch eher kostengünstige interplanetare Missionen aus. Dafür ist jeder Platz heiß begehrt. In der Regel arbeiten Teams mehrere Jahre lang detaillierte Vorschläge aus, die dann von hochrangigen Behördenmitarbeitern beurteilt werden. Das Auswahlverfahren ist ebenso wettbewerbsorientiert wie erbarmungslos und bringt für jeden Gewinner Dutzende von Unterlegenen hervor. VERITAS und DAVINCI+ haben den Zuschlag darum nicht mit sentimentalen Appellen gewonnen. Es sind technologische Meisterleistungen.
VERITAS (lateinisch für Wahrheit und zugleich die Abkürzung für Venus Emissivity, Radio Science, InSAR, Topography, and Spectroscopy) stellt in vielerlei Hinsicht eine Fortsetzung von Magellan dar. Es handelt sich um einen Orbiter mit einem hochmodernen Radarsystem, das eine detaillierte Karte des Planeten erstellen soll. Sie würde die alten Magellan-Scans durch dreidimensionale, topografische Ansichten ersetzen. Damit wären viele Einzelheiten besser zu erkennen, von Vulkanen bis zu Verwerfungssystemen, die sich wie Narben durch die Landschaft ziehen. VERITAS wird auch für Infrarotlicht empfindlich sein und bestimmte Minerale auf der Oberfläche anhand ihres charakteristischen thermischen Glühens identifizieren. Doch die Arbeit des Orbiters wird sich nicht auf die Gesteinskruste beschränken. Ein weiteres Instrument kartiert die wechselnde Stärke des Gravitationsfelds. Das soll etwas über die Struktur des Venusinneren verraten. Laut Smrekar dürfte die Mission ein ähnlich detailgetreues Bild liefern wie die Datensätze, die schon lange für den Mond und den Mars vorliegen.
Ein Sturz durch die Wolken bringt chemische Daten – und einen Blick auf die Gesteinsformationen darunter
Die nach dem Universalgelehrten der Renaissance benannte Mission DAVINCI+ (Deep Atmosphere Venus Investigation of Noble Gases, Chemistry, and Imaging Plus) wird von James Garvin geleitet. Er ist Chefwissenschaftler des Goddard Space Flight Center der NASA. Das Konzept sieht vor, zum ersten Mal seit der Pioneer-Venus-Mission von 1978 eine US-Sonde durch die Wolken der Venus hindurchzuschicken. Sie soll während ihrer Reise durch die Atmosphäre die dort vorhandenen chemischen Verbindungen registrieren. Unterhalb der dichten Wolken hat sie mit ihren Kameras freie Sicht auf die Oberfläche für die bisher am besten aufgelösten Bilder des geologisch komplexen Hochlands Alpha Regio, während Infrarotdetektoren die Mineralogie des Geländes analysieren. Bald nach der durch einen Fallschirm gebremsten Landung wäre allerdings ihr Ende besiegelt.
Die Abstiegssonde ist das Herzstück der Mission, aber zu DAVINCI+ gehört auch ein Orbiter. Er wird die Venus zwar ohne Radar, jedoch mit Kameras im Ultraviolett- und Infrarotbereich abbilden und so die von VERITAS gesammelten Daten ergänzen. Das Hauptziel der Mission ist es, zu klären, welche Vorgänge zu dem heutigen Klima auf der Venus geführt haben.
Die Dritte im Bunde ist die EnVision-Mission der ESA. Sie wird mit Radar die Oberfläche kartieren und mit Ultraviolett- und Infrarotspektrometern die Zusammensetzung des Gesteins und der Atmosphäre des Planeten aufschlüsseln. Die Sonde soll analog zu VERITAS außerdem winzige Schwankungen im Gravitationsfeld des Planeten registrieren und so indirekt ins Innere der Venus blicken. Neben den Untersuchungen globaler Phänomene ist eine besondere Stärke von EnVision die Fähigkeit, schnell bestimmte Orte anzusteuern, die je nach aktueller Datenlage von Interesse sind. »Ich war schon immer von der Venus fasziniert«, berichtet der wissenschaftliche Leiter von EnVision, Richard Ghail von der Royal Holloway University of London. Wie seine US-Kollegen will er herausfinden, wie sich erdgroße Planeten unter veränderten Bedingungen entwickeln. Dafür gibt es kein besseres Ziel als die Venus mit ihrem derart anderen Schicksal.
Der aufschlussreichste Hinweis auf die Ursachen ist der erhöhte Gehalt an schwerem Wasser in der Atmosphäre. Die Erkenntnis geht auf die 1978 eingesetzte Pioneer-Sonde zurück. Schweres Wasser ist eine seltenere Variante des H2O-Moleküls, die statt Wasserstoff Deuteriumatome enthält, die ein zusätzliches Neutron tragen. Da es massereicher ist, kann es nicht so leicht verdampfen und in den Weltraum entweichen. Möglicherweise ist der Überschuss auf der Venus das Relikt eines Ozeans, der den Planeten vor Äonen bedeckte. Das Schicksal des Wassers könnte ein Schlüssel dafür sein, herauszufinden, was mit der Venus passiert ist. Laut Garvin war die Venus vielleicht nicht immer so lebensfeindlich wie heute, sondern ist lediglich »eine ehemals feuchte Welt, die ihre Ozeane verloren hat«. Aber wie?
Auf Grund der bislang spärlichen Daten lässt sich die Frage, wie so viele weitere zur Venus, noch nicht beantworten. Es gibt jedoch Modelle, die plausible Erklärungen liefern, und sie waren die Grundlage für Pläne, mit welchen Messungen Missionen wie VERITAS und DAVINCI+ die Ansätze untermauern könnten. Beispielsweise hat ein Team um Michael Way vom Goddard Institute for Space Studies der NASA in den letzten Jahren mit Hilfe detaillierter Computersimulationen die mögliche Vergangenheit der Venus untersucht.
Ways Berechnungen zufolge könnte die langsam, aber stetig immer leuchtkräftigere junge Sonne der frisch entstandenen Venus zum Verhängnis geworden sein. Womöglich hat sie den Planeten so stark erhitzt, dass jegliches Wasser nur noch als Dampf existieren konnte. Wasserdampf ist ein wirkungsvolles Treibhausgas und hätte die Temperaturen schnell weiter ansteigen lassen, verstärkt durch die Auswirkungen von Kohlendioxid, das aus Magma überall auf dem Planeten entwich. Wenn die Sonne der Übeltäter in der Klimageschichte der Venus war, dann war der Planet »vom ersten Tag an dem Tode geweiht«, urteilt Michael Way.
Es könnte aber auch einen ganz anderen Bösewicht gegeben haben. Way hat Vulkane in Verdacht. Sie nehmen großen Einfluss auf alles, was auf der Oberfläche eines Planeten geschieht, von der Entwicklung der Atmosphäre bis zum Schicksal der Ozeane. In der irdischen Vergangenheit haben Ausbrüche mehrmals komplette Kontinente in Mitleidenschaft gezogen und über Hunderttausende oder sogar Millionen von Jahren enorme Mengen an Treibhausgasen in den Himmel geschleudert. Das hat Massenaussterben verursacht oder zumindest dazu beigetragen. Auf der Erde haben sich solche Eruptionen isoliert voneinander ereignet und nach und nach ihre markanten Spuren in der geologischen Geschichte hinterlassen. Hätten mehrere davon gleichzeitig stattgefunden, wäre vielleicht genug Kohlendioxid frei geworden, um Ozeane zu verdampfen, die Atmosphäre mit Hitze stauendem Wassergas zu füllen und einen nicht umkehrbaren Rückkopplungsmechanismus in Gang zu setzen, der die Welt dauerhaft in einen Glutofen verwandelt hätte. Unter Umständen ist genau das auf der Venus passiert.
War die Venus von Anfang an trocken, oder war sie eine von Wasserflächen durchzogene Welt?
Welche Geschichte stimmt? DAVINCI+ könnte mittels Untersuchungen von Edelgasen in der Atmosphäre dabei helfen, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem die Venus ihr Wasser verloren hat. Von allen Gasen gibt es mehrere Versionen – einige Atome sind schwerer, andere leichter –, und die Wissenschaftler wissen, woher jedes dieser Isotope stammt. Helium-3 beispielsweise hat seinen Ursprung tief im Inneren eines Planeten, während Helium-4 durch radioaktiven Zerfall in der Kruste entsteht. Edelgase reagieren nicht mit anderen geophysikalisch relevanten Verbindungen wie Kohlendioxid und Wasser. Das bedeutet, sie liefern unveränderliche Informationen darüber, wann und wie sie in die Venusatmosphäre gelangt sind.
Messungen an solchen Gasen könnten klären, ob die Venus von Anfang an trocken war. Wenn dem so ist, hätte wohl eine besonders aktive, junge Sonne Schuld daran getragen. Unter einem weniger intensiven Leuchten hingegen wäre der Magmaozean der Venus erstarrt, woraufhin sich womöglich flüssiges Wasser gebildet und auf der Oberfläche gesammelt hätte. Die Venus könnte eine von Flüssen, Seen und Meeren durchzogene Welt gewesen sein.
Die Planetengeologin Martha Gilmore von der Wesleyan University gehört sowohl dem Team von DAVINCI+ als auch dem von VERITAS an. Sie zeigt sich optimistisch: »Nach allem, was wir über die Planeten wissen, gibt es keinen Grund, warum die Venus anfangs nicht lebensfreundliche Bedingungen hätte bieten sollen.« Laut den heute gängigsten Hypothesen dürften die Ozeane der Venus durch gigantische Eruptionen ausgelöscht worden sein. Dies könnte schon früh geschehen sein; vielleicht wird DAVINCI+ aber auch zeigen, dass die Venus über lange Zeiträume feucht war. »Die entscheidende Frage ist doch: Haben sich Ozeane über Milliarden von Jahren auf der Oberfläche gehalten?«, betont Joseph O'Rourke, Planetenforscher an der Arizona State University.
Sollte die Venus tatsächlich über Äonen ein blauer Planet gewesen sein, dann nur mit Hilfe von Plattentektonik. Sie erzeugt nicht nur Gebirgsketten, sondern dient darüber hinaus als globaler Thermostat: An die Landoberfläche befördertes Gestein wird durch in Wasser gelöstes atmosphärisches Kohlendioxid verwittert. Das nun chemisch gebundene Treibhausgas taucht mit den tektonischen Platten in den heißen Planetenmantel ein. Irgendwann gelangt es mit Vulkanausbrüchen wieder über die Kruste zurück in die Atmosphäre. Von dem Kreislauf hängt ein Großteil der langfristigen Klimastabilität eines erdähnlichen Planeten ab. Auf der Venus könnten die Radare von EnVision und VERITAS alte oder sogar noch aktive Verwerfungen aufspüren und klären, ob dieser für die Lebensfreundlichkeit entscheidende Vorgang einst stattgefunden hat.
Beide Missionen werden auch die Tesserae untersuchen, seltsame, an Kontinente erinnernde Plateaus auf der Venusoberfläche. Der größte Teil des Planeten ist von Lavaströmen bedeckt, die sich lange nach dem möglicherweise Klima verändernden Vulkanismus ergossen haben müssen. Die hoch darüber aufragenden Tesserae sind vermutlich die ältesten Gesteine auf der Venus. »Sie könnten eine halbe Milliarde Jahre alt sein oder vier Milliarden Jahre – wir wissen es nicht«, räumt Gilmore ein.
Zudem ist unbekannt, woraus die Tesserae bestehen. Wenn es sich bei ihnen tatsächlich um Kontinente wie die auf der Erde handelt, wäre viel Wasser nötig gewesen, um sie hervorzubringen. Dann lieferten sie den Beweis dafür, dass die Venus einst ein blauer Planet war. »Das würde die Menschen umhauen«, ist O'Rourke überzeugt. Wenn das Gestein geschichtet wäre, wie Byrne und seine Kollegen vorgeschlagen haben, könnte das auf Sedimentation und damit auf einstige Gewässer hindeuten. Alternativ sind es vielleicht pfannkuchenartig aufeinanderliegende Lavaflächen – mögliche Überbleibsel einer uralten Vulkantätigkeit, die das Schicksal der Atmosphäre besiegelt hat.
Die Sonde von DAVINCI+ würde laut O'Rourke einen sehr nahen und detaillierten Blick auf nur eine Tessera werfen. »Wir wissen nicht einmal, ob alle Tesserae gleich beschaffen sind, also ist die Auswahl einer einzigen ein ziemliches Risiko«, gesteht er. »Aber DAVINCI+ wird Aufnahmen von geologischen Einzelheiten liefern, die aus dem Orbit nicht zu erkennen sind.« Ergänzend dazu erstellt VERITAS eine Karte von jeder Tessera, wenn auch mit weniger Details. Unterdessen kann EnVision mehrere ausgewählte Orte von oben sorgfältig untersuchen.
Die von VERITAS gesammelten Bilder sollten durch mehrmaliges Abbilden einer Stelle auf der Oberfläche Veränderungen erkennbar machen. Das könnte klären, ob der Planet heute noch vulkanisch aktiv ist. Für diese seit Langem vertretene Ansicht gibt es viele Indizien, aber bislang keinen schlagenden Beweis. »Es wäre unheimlich cool, einen aktiven Vulkan zu finden«, hofft Smrekar. EnVision könnte bei der Suche helfen, indem die Raumsonde die chemische Signatur der Gase eines ausbrechenden Vulkans erfasst oder die dabei frei werdende Hitze erkennt.
Die Bestätigung, dass ein solch wichtiger planetarischer Prozess immer noch im Gange ist, hätte weit reichende Folgen. Jedwede tektonische Aktivität wird von den Vorgängen tief im Inneren des Planeten angetrieben und würde einen Zugang ins geologische Herz der Venus eröffnen. Endlich wäre es möglich, dessen Stärke und Rhythmus mit dem der Erde zu vergleichen.
Während DAVINCI+ feststellen würde, wie viel Wasser die Venus verloren hat, würde EnVision ermitteln, wie viel sie heute noch besitzt – etwa im Planeteninneren. Mit dem Versuch, H2O in den Gaswolken zu identifizieren, die aus den Vulkanen austreten, wollen die Wissenschaftler herausfinden, ob das Innere der Venus genauso ausgetrocknet ist wie ihr Äußeres.
Bereits vor mehr als zehn Jahren gab es Missionsentwürfe für VERITAS und DAVINCI+. Ihre früheren Versionen waren Finalisten im vorigen Discovery-Wettbewerb 2017, verloren aber gegen die Asteroiden-Erkundungsmissionen Psyche und Lucy. Als 2021 erneut die Ankündigung der Discovery-Auswahl bevorstand, waren die ersten Monate des Jahres besonders kräftezehrend für beide Missionsteams. Sie arbeiteten rund um die Uhr, um die Entscheidungsträger für ihre Konzepte zu gewinnen. »Um die Anstrengungen des letzten Jahrs angemessen zu würdigen, müsste man einen Roman schreiben«, sagt Smrekar. Schon der Bericht, den ihr Team im November 2020 vorlegte, umfasste »beinahe die Seitenzahl von ›Krieg und Frieden‹«.
VERITAS und DAVINCI+ hatten es mit zwei unbestreitbar herausragenden Konkurrenten zu tun. Das Erste war der Io Volcano Observer (IVO), der den Jupitermond Io besucht hätte, den Himmelskörper mit der stärksten bekannten vulkanischen Aktivität. Sie wird durch das Zerren der Schwerkraft des Gasriesen an seinem Trabanten angetrieben. Das zweite Missionskonzept Trident zielte auf den Neptunmond Triton im äußeren Sonnensystem, dessen Oberfläche sich mittels eines rätselhaften Eisvulkanismus ständig erneuert.
Möglicherweise kam der Ausschlag zu Gunsten der Venus am 14. September 2020. Ein Forschungsteam gab bekannt, mit zwei Teleskopen die chemische Verbindung Phosphin in den Wolken der Venus entdeckt zu haben, just in einer Höhe, in der die herrschenden Temperaturen und Drücke die Existenz von Tröpfchen mit flüssigem Wasser ermöglichen könnten.
Phosphin kann durch Vulkanismus und Blitze entstehen, aber auch durch Mikroben. Daher hielten manche die Entdeckung für einen indirekten Hinweis auf außerirdisches Leben. Mit einem Schlag gab es in der Öffentlichkeit, in den Medien und in der wissenschaftlichen Gemeinschaft ein enormes Interesse an Phosphin und der Venus.
In den darauf folgenden Monaten wurde die Datenanalyse in Frage gestellt, und nachfolgende Auswertungen schienen die Schlussfolgerung je nach Interpretation entweder zu widerlegen oder zu untermauern. Letztendlich war gar nicht so entscheidend, ob es Phosphin gibt und ob es von Mikroben hergestellt wird. Vielmehr rief die Kontroverse ins Bewusstsein, dass in den Wolken der Venus Regionen existieren, die grundsätzlich weder zu heiß noch zu sauer für speziell angepasste Organismen wären.
Ob belebt oder nicht, die Venus bleibt faszinierend
Auf der Erde tauchen einzellige Lebensformen immer wieder an Orten auf, die höhere Pflanzen und Tiere sofort töten würden. Entsprechend sind vielleicht Mikroben sogar an Orten im Sonnensystem beheimatet, die wir gemeinhin als lebensfeindlich bezeichnen. Sie könnten etwa im wärmeren, feuchteren Untergrund des Mars existieren, und auch bei der Venus ist das letzte Wort nicht gesprochen. »Ein höllisch wirkender Planet ist nicht unbedingt in jeder Hinsicht unwirtlich«, meint die Astrochemikerin Clara Sousa-Silva vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge, die an der potenziellen Entdeckung von Phosphin beteiligt war.
Möglicherweise kann die Sonde von DAVINCI+ Phosphin während ihres Flugs durch die Wolken aufspüren, allerdings wurden weder sie noch VERITAS oder EnVision für die Untersuchung dieser chemischen Verbindung ausgelegt. Aber alle drei könnten dazu beitragen, Vorgänge zu identifizieren, bei denen Phosphin entstehen kann, vom Vulkanismus bis zur Atmosphärenchemie. Jedenfalls hat das Phosphin der Venus 2020 einen ähnlichen PR-Schub gegeben wie der fossilverdächtige Meteorit dem Mars 1996. Dennoch sei es »nur das Sahnehäubchen für uns«, so Gilmore. »Die Venus ist unabhängig von der Existenz von Leben faszinierend.«
Selbst wenn keine der beiden Discovery-Missionen auserkoren worden wäre, hätte es Gründe gegeben, für die Venusforschung insgesamt optimistisch zu bleiben. Neben Europa mit seiner EnVision-Mission haben bereits weitere Raumfahrtbehörden, darunter die Russlands und Indiens, eine Rückkehr zur Venus erwogen. Denn der Planet erscheint nicht zuletzt angesichts der immer größeren Zahl entdeckter Welten, die um fremde Sterne kreisen, als reizvolles Ziel, um mehr über mögliche Schicksale erdähnlicher Himmelskörper zu erfahren.
Es sind bereits viele erdgroße Exoplaneten bekannt. Mit der heutigen Teleskoptechnik lässt sich jedoch kaum sagen, ob auf einem bestimmten Exemplar so einladende Bedingungen wie bei uns oder so unbarmherzige wie auf der Venus herrschen. Im Moment ist das Studium der Venus aus der Nähe vielleicht der einzige Weg zu belastbaren Abschätzungen darüber, ob es mehr erd- oder mehr venusähnliche Planeten im Kosmos gibt. Allmählich erkennen auch Experten für Exoplaneten die Tatsache an, dass das Sonnensystem selbst »ein exzellentes Labor für die Exoplanetenforschung ist«, wie Sousa-Silva es formuliert. Smrekar unterstreicht das: »Nur die Venus kann uns verraten, warum unser Heimatplanet im Sonnensystem einzigartig ist und wie wahrscheinlich es ist, dass wir eine zweite Erde um einen anderen Stern finden.«
Die unvermeidliche Enttäuschung der im Discovery-Programm Unterlegenen weicht inzwischen Optimismus. Die Befürworter einer Reise zu Io hoffen, im nächsten Wettbewerb den Sieg davonzutragen oder vielleicht sogar im Rahmen der teureren und technisch anspruchsvolleren Missionen des NASA-Programms New Frontiers ausgewählt zu werden. Diejenigen, die sich eine Rückkehr zu Uranus und Neptun wünschen, die beide zuletzt in den späten 1980er Jahren von einer Raumsonde besucht wurden, fassen sogar eine künftige Flagship-Mission ins Auge. Diese Klasse bildet mit über einer Milliarde Dollar Kosten hinsichtlich Aufwand und Ausstattung die Spitze der NASA-Erkundungsprogramme.
Im kommenden Jahrzehnt wird nun erst einmal unser Nachbarplanet ins Rampenlicht rücken. Endlich, so Ghail, »hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass wir auf der Venus das erreichen müssen, was wir beim Mars schon geschafft haben«.
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