Robotik: Roboter werden essbar
Müde und hungrig stand Jun Shintake spät abends an einem einsamen Busbahnhof in der Schweiz, als er auf eine Idee kam – die Idee, die heute sein Forschungsfeld ist. Der Japaner war für einen längeren Forschungsaufenthalt in Lausanne und kam gerade von einem arbeitsreichen Tag aus dem Labor: »Auf dem Heimweg musste ich in dem kleinen Ort Yvonand umsteigen – und warten. Bis auf ein verschlossenes Häuschen war da gar nichts!«, erinnert sich der 39-jährige: »Kein Lokal, kein Getränkeautomat.«
Als der hungrige Shintake sich fragte, ob die wenigen Häuser in diesem verträumten Transitort überhaupt bewohnt sind, kam ihm der seltsame Gedanke: »Wie wäre es, wenn ich einfach an diesem verschlossenen Haus an der Bushaltestelle knabbern könnte?« Die verrückte Idee verfolgte ihn, auch dann noch, als er in seiner Wohnung schon zu Abend gegessen hatte.
Am nächsten Morgen erzählte er seinen Kollegen von seinem Einfall, und wider Erwarten brachen die nicht in Gelächter aus. Sie waren begeistert, erinnert sich der Roboterwissenschaftler heute. »Ein, zwei aufgeschlossene Kollegen im Labor sagten mir sogar sofort: ›Mach da unbedingt ein Forschungsthema draus. Das könnte richtig gut werden!‹«
Seit jenem Erlebnis im Jahr 2016 ist Jun Shintake ein Pionier der Idee, essbare Roboter zu entwickeln. Seine Doktorarbeit hatte der Japaner noch über weiche Materialien geschrieben, die sich in der Robotik als künstliche Muskeln einsetzen lassen. Inzwischen ist er Professor an der Tokyo University of Electro-Communications und leitet ein 20-köpfiges Forschungsteam, das sich mit der Frage befasst: Wie können Roboter essbar werden? Wobei sich Außenstehenden hier möglicherweise noch eine weitere Frage aufdrängt: Wozu das Ganze?
Keksartige Tragflächen und medizinische Würmer
In seinem kargen Büro am Westrand von Tokio dreht sich Jun Shintake auf seinem Schreibtischstuhl und öffnet eine Schublade. Heraus holt er ein armgroßes Miniflugzeug und zeigt auf die Tragfläche: »Die Flügel bestehen aus einem hochkalorischen Gemisch. Ein Koch hat es für mich hergestellt«, erklärt er. »An der Unterseite hat der Körper einen Motor und einen Sensor für die Fernsteuerung. Außer diesen Teilen ist alles essbar, also rund 90 Prozent des Flugzeugs.«
Die Herstellung der Flügel hat ihn in seiner Zeit in Lausanne mehrere Monate Arbeit gekostet: Hart genug müssen sie sein, um Wind und Regen standzuhalten, zugleich sollen sie sich mit bloßen Zähnen zerkauen lassen. Jetzt blickt Shintake mit Stolz auf die keksartige Tragfläche: »Dieses Gerät könnte man zur Versorgung in schwer zugänglichen Katastrophenregionen einsetzen«, beispielsweise in Shintakes Heimat Japan. Das Land wird immer wieder von Erdbeben und Taifunen heimgesucht und muss dann schnellstmöglich auf die Katastrophen reagieren. »Die Flügel haben 2500 Kilokalorien. Damit stillen sie den täglichen Kalorienbedarf von ein bis zwei Personen.« Für das von Shintake geschaffene Forschungsfeld rund um essbare Roboter ist dies aber nur eines von mehreren möglichen Anwendungsgebieten.
Eine zweite Umsetzung seiner Ideen legt er auf einen breiten Tisch in seinem Büro: ein handgroßes, gummiartiges Ding. Es sieht aus wie ein Wurm, und es zappelt auf Kommando. Shintake deutet auf einen dünnen Schlauch. »Wenn man hier Luft hineinbläst, bewegt es sich. Es wirkt dann wie ein lebender Wurm. Diese Eigenschaft kann man nutzen, um kranken, wilden Tieren, Medizin zuzuführen.«
Der Gedanke dahinter: Eine lose Tablette würden ein Löwe oder ein Bär nicht fressen, ganz im Gegensatz zu einem scheinbaren Beutetier, in dem die Medizin versteckt ist. »Als Material habe ich Gelatine verwendet«, erklärt Shintake. Der organische Stoff ist weich, robust und zugleich elastisch. »Unter allen möglichen Materialien, die ich auf diese Kriterien hin getestet habe, hat Gelatine am besten abgeschnitten.« Roboter aus Gelatine? Ist das die Zukunft? Jun Shintake glaubt daran.
Ist das ein Roboter?
Wer das Wort Roboter hört, hat meist metallene, womöglich gar menschenähnliche Wesen vor Augen, die mit Stromzufuhr angetrieben werden. Für Jun Shintake aber braucht ein Roboter all das nicht. Ein Werkzeug, ein Assistent oder ein sonstiges Medium sei auch nicht auf Elektronik angewiesen, um als Roboter durchzugehen.
Sie erzeugen künstliche Muskeln oder übertragen Bewegungsabläufe von Käfern auf Bergungsroboter
In der Wissenschaft ist mittlerweile eine breitere Definition akzeptiert, wie Alona Shagan bestätigt. Am Max-Planck-Institute for Intelligent Systems in Stuttgart forscht sie im Bereich Soft Robotics, also an weichen Robotern, die teilweise oder vollständig aus nachgiebigen Materialien bestehen. »Wenn man etwas aus der Entfernung bewegen kann, also mechanische Energie erzeugt, dann kann man dies einen Roboter nennen«, sagt Shagan, »auch wenn man dafür Magnetkraft oder einfach Luft verwendet.«
Das noch junge Forschungsfeld rund um essbare Roboter gliedert sich in die Disziplin der Soft Robotics ein, die selbst erst in den 1960er Jahren ihren Anfang nahm. »Hier werden Biochemie, Mathematik, Ingenieurwesen, mechanisches Design und Materialwissenschaften verbunden«, erklärt Shagan. Immer häufiger setzen Forscherinnen und Forscher dabei auch organische Materialien ein.
Gelatine-Roboter für eine andere Perspektive
Als wichtige Inspiration dient die Natur, führt Shagan aus: »Roboter aus nicht organischem Material sind immer nur eine Annäherung an die Kombination aus Flexibilität und Kraft, die wir bei Menschen, Tieren und Pflanzen beobachten.« Forschenden der Soft Robotics gehe es darum, der Natur möglichst nahezukommen. Nach dem Vorbild von Pflanzen erzeugen sie künstliche Muskeln, oder sie übertragen Bewegungsabläufe von Käfern auf Bergungsroboter.
»Würden wir zum elektrischen Leiter noch Olivenöl dazu nehmen, wäre er ebenfalls essbar«Alona Shagan, Soft-Robotics-Forscherin
Zusammen mit ihrer Forschungsgruppe entwickelt Shagan Greifarme aus biologisch abbaubaren Materialien. Doch auch in essbaren Robotern sieht sie großes Potenzial: »Wir haben schon elektrische Leiter entwickelt, die aus Gelatine, Wasser und Salz bestehen. Würden wir noch Olivenöl dazu nehmen, wären sie ebenfalls essbar.« Für die konkreten Forschungsziele ihres Teams wäre das derzeit zwar sekundär, aber »wir wollen vermeiden, dass durch neue Roboter letztlich neuer Abfall entsteht«.
Auch in Jun Shintakes Forschung spielte Nachhaltigkeit von Anfang an eine wichtige Rolle. »Werden Roboter essbar, verändert sich doch unsere gesamte Perspektive auf sie: Wir begreifen sie dann nicht mehr als Wegwerfware oder als etwas, das es zu entsorgen gilt. Stattdessen werden Roboter zu einem Teil der Kreislaufwirtschaft.«
Japan und Roboter – das passt
Dass ausgerechnet ein Wissenschaftler aus Japan auf diesem Gebiet zu den führenden Köpfen gehört, ist kein Zufall. Seit Jahrzehnten fällt das ostasiatische Land mit Innovationen in der Robotik auf. Viele Start-ups gründen sich hier auf Feldern wie der Assistenz- und der sozialen Robotik. Helfen sollen sie beispielsweise in der Pflege oder im Bildungssektor, denn Japans alternder und schrumpfender Bevölkerung mangelt es an Arbeitskräften; und der Bedarf an robotischen Helfern steigt.
Generell zeigt sich die japanische Gesellschaft seit Längerem vergleichsweise aufgeschlossen gegenüber Robotern, wie beispielsweise eine Studie aus dem Jahr 2007 nahelegt. Häufiger als Befragte in Südkorea und den USA finden Menschen in Japan demnach, dass Roboter Emotionen haben können, kommunikativ sind und eher als menschlich denn als Werkzeug zu begreifen sind. Eine andere Studie legte 2018 offen, wovon man sich in Japan besondere gesellschaftliche Fortschritte verspricht: von Hausarbeits-, Kommunikations-, Gesundheits- und Haustierrobotern.
Kulturhistorisch ergibt das Sinn, denn nach der Lehre der japanischen Urreligion Shinto haben Gegenstände so etwas wie eine Seele und verdienen Respekt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Fokus auf Hochtechnologie zum staatspolitischen Mantra. Heute setzt das Land in unterschiedlichen Bereichen auf den breiten Einsatz von Robotern – von der Industrie bis zum sozialen Bereich. Nicht zuletzt spielte bei dieser Entwicklung auch die japanische Popkultur eine Rolle, die sich in diesem Punkt von der westlichen unterscheidet.
Medizinische Eingriffe werden weniger invasiv
Während im Westen die Geschichte von Frankenstein populär ist, in der ein durch Menschenhand erschaffener Roboter so klug ist, dass er der Bevölkerung gefährlich wird, dominiert in dem ostasiatischen Land ein anderes Narrativ: In Japan gelten Roboter vor allem als hilfreich. Zu den beliebtesten Mangageschichten gehört die von »Astro Boy«, einem mit Atomkraft angetriebenen, guten Roboter, der von den Menschen geliebt wird. Vor Robotern hat man in Japan kaum Angst.
»Behandlungen wie Darmspiegelungen würden weniger invasiv«Jun Shintake, Robotik- und Materialforscher
Für Jun Shintake ist das eine fruchtbare Grundlage. Aktuell entwickelt er einen Miniroboter, dem Menschen tatsächlich in hohem Maß vertrauen müssten, damit er seine Wirkung entfalten kann: »Wir arbeiten an essbaren Medizinrobotern«, sagt Shintake. Ein physisches Beispiel hat er hierfür allerdings noch nicht zur Hand, stattdessen klickt er sich durch eine Powerpointpräsentation.
Shintake zeigt das Konzept eines speziellen Roboters, mit dem er Darmspiegelungen und ähnliche schwere Eingriffe vereinfachen will. Wäre der Großteil eines solchen Roboters essbar oder wenigstens ausscheidbar, würde vieles angenehmer, glaubt Shintake: »Solche Behandlungen würden weniger invasiv. Man bräuchte keine Narkosen mehr, und auch keinen gummiummantelten Schlauch. An Stelle des Gummis wäre auch hier Gelatine ein gutes Material.«
Statt herkömmlichen Klebstoffen vertraut er dabei auf eine Mischung aus Stärke und Tanninen, und vor Feuchtigkeit könnte ein Schokoladenfilm schützen. Auch eine essbare Batterie gibt es schon. Ihre Elektroden bestehen aus dem Stoff Quercitin, der in Kapern oder Mandeln vorkommt, und Riboflavin – besser bekannt als Vitamin B2. Aktivkohle sorgt für den Elektronentransport zwischen den Elektroden, während Nori-Algen die Batteriezelle vor Kurzschlüssen bewahren. Eingebettet ist der Energiespeicher in ein Gehäuse aus Bienenwachs. Die Batterie hat eine Spannung von 0,65 Volt und lässt sich damit im menschlichen Körper sicher betreiben. Zwölf Minuten lang könnte sie Strom liefern.
Der Roboter in der Suppe
Andere wichtige Teile für Shintakes Roboter wurden bisher allerdings noch nicht entwickelt. Dazu gehört beispielsweise vollständig essbare Elektronik, die Transistoren verwendet und Informationen verarbeitet. Zudem bleibt die Verbindung der verschiedenen Teile des Roboters eine Herausforderung.
Dennoch stellten Shintake und acht Kollegen aus verschiedenen Ländern im Mai 2024 ihre Vision von dem Roboter im Journal »Nature Reviews Materials« vor. »Wir stehen noch am Anfang«, gibt Jun Shintake zu. Sein Team und er hätten noch Jahre der Forschung vor sich. Aber man komme sich spürbar voran – nicht zuletzt in der Frage, wie man die Elektronik gleichzeitig klein und verdaulich macht, so dass der Körper sie ohne Probleme aufnehmen kann.
Parallel arbeitet Shintakes Forschungsteam an der Idee, Roboter auch in die Essenskultur einzuführen. Wenn in einer Suppe kleine Roboter schwämmen, angetrieben durch chemische Reaktionen mit anderen Zutaten, oder gar eine essbare Batterie, dann könnte das eine kulinarische Innovation werden. »Durch die kulturelle Offenheit, die wir hier vorfinden, könnte Japan ein Pionierland werden«, glaubt Shintake.
Wenn in einer Suppe auch mal kleine Roboter schwämmen, dann könnte das eine kulinarische Innovation werden
Während Roboteressen und essbare Medizinrobotik noch in den Kinderschuhen stecken, plant Shintakes Team, die fliegende Notfallnahrung und die Wildtiermedizin bis 2030 marktreif und kommerzialisiert zu haben – dann in Form eines Spin-offs seiner Universität. Jun Shintake selbst will damit aber nichts zu tun haben, sagt er, und schaut grinsend zu den Materialien auf seinem Tisch. »Ich forsche lieber als zu vermarkten.«
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