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Einen kleinen Unterschied gibt es aber dennoch. Die Gasmoleküle befinden sich nämlich mit ihrer Umgebung im Gleichgewicht, das heißt, sie tauschen bei jeder ihrer Kollision Energie aus. Bei den Weizenkörnern in der Getreidmühle ist dies anderes, sie verformen sich bei jedem Zusammenstoß, erwärmen sich und wandeln auf diese Weise die kinetische Energie in andere Formen um. Eine rein kinetische Betrachtungsweise, wie sie für Gas gegeben ist, scheint hier demnach zunächst nicht möglich.
Doch Narayanan Menon und Florence Rouyer vom University of Massachusetts Physics Department wollten es genau wissen – und besorgten sich zunächst eine Hochgeschwindigkeitskamera. Sodann füllten sie Stahlperlen mit einem Durchmesser von 1,6 Millimetern zwischen zwei senkrecht stehende Kunststoffplatten, die einen Abstand von gerade 1,7 Millimeter zueinander hatten. Alle Seiten wurden versiegelt, sodass ein schmaler Behälter entstand. Ein mechanischer Vibrator bewegte diese Zelle auf und ab, wobei die Stahlperlen der 58-fachen Erdbeschleunigung ausgesetzt waren und eine Geschwindigkeit von bis zu 1,8 Metern pro Sekunde erreichten (Physical Review Letters vom 23. Oktober 2000).
Die Energie wurde über die Zellenränder auf die Kügelchen übertragen, doch zum Erstaunen aller schien dieser Einfluss ab einer Geschwindigkeit von 1,0 Metern pro Sekunde bedeutungslos zu werden. Dies zeigt sich in der Geschwindigkeitsverteilung der Stahlperlen. Die blieb nämlich mit einem Mal konstant, ganz egal, mit welcher Geschwindigkeit der Vibrator schüttelte, und wieviele Kügelchen sich in der Zelle befanden. Selbst in einer kreisförmigen Kammer war die Geschwindigkeitsverteilung die gleiche wie in der quadratischen und bildete eine glockenförmige Wahrscheinlichkeitsverteilung für jede horizontale Geschwindigkeit.
Allerdings wich diese Kurve von der Normalverteilung der Gaußschen Glockenkurve ab. Sie war breiter und mehr Partikel erreichten höhere Geschwindigkeiten. Ihre Form blieb aber oberhalb der Grenzgeschwindigkeit von 1,0 Metern pro Sekunde konstant. Die Breite der Kurve hing allein von der durchschnittlichen Geschwindigkeit der Teilchen ab, genau wie im Fall der Gasmoleküle, deren Bewegung nur Ausdruck der Temperatur ist.
Dies ist erst das zweite Experiment, das zu dieser symmetrischen, nicht-Gaußschen Glockenkurve führte. In allen anderen Fällen variierten die Verteilungen infolge unterschiedlicher Vibrationsparameter. Somit bestätigten Menon und Rouyer, dass die Beschreibung von Bewegungen körniger Substanzen durchaus mithilfe des kinetischen Gasmodells möglich sein könnte. Insbesondere die Unabhängigkeit von der Schüttelgeschwindigkeit löste bei den Fachkollegen großes Interesse aus. Troy Shinbrot vom Department of Chemical and Biochemical Engineering der Rutgers University hofft, dass nun bald auch die Einflüsse andere Variablen, wie beispielsweise der Korngröße, untersucht werden. Schließlich simulieren die gleichförmigen Stahlperlen vielleicht den Fluss von Kaffeebohnen, aber noch lange nicht die Vielgestalt in einer Müslipackung.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 9.10.2000
"Klein, aber fein"
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum der Wissenschaft 11/96, Seite 108
"Holographische Messung von Schwingungen und Verformungen"
(nur für Heft-Abonnenten online zugänglich)
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