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Schifffahrtspsychologie: Not an Bord

Stress, Einsamkeit, Heimweh: Ein Job auf dem Wasser ist für viele Seeleute auf Container- und Kreuzfahrtschiffen belastend. In der Corona-Krise mehr denn je.
Seemann schaut aus dem Bullauge

Tiefblaues Meer, so weit das Auge reicht, und eine frische Brise um die Nase: Romantiker verbinden die Seefahrt mit Abenteuer und der Sehnsucht nach der Ferne. Die Realität eines Jobs auf dem Wasser ist allerdings weniger rosig: Im Jahr 2006 ergab eine Befragung von rund 6500 Seeleuten aus elf Ländern, dass diese in der Regel jeden Tag auf ihrem Schiff im Einsatz sind, durchschnittlich fast 70 Stunden pro Woche. Job und Freizeit können an Bord kaum voneinander getrennt werden. Manche arbeiten mehr als acht Monate am Stück, bevor sie zurück in ihre Heimat reisen – bis zur nächsten großen Fahrt. Die meisten der rund 1,6 Millionen Seeleute auf international operierenden Handelsschiffen kommen aus Entwicklungsländern.

Mit ihrem enormen Arbeitseinsatz gewährleisten die Seeleute vor allem den weltweiten Nachschub mit Waren: 2018 wurden 80 Prozent des internationalen Handelsvolumens auf dem Wasser befördert. Als besonders stressig empfindet die Besatzung die Liegezeit im Hafen, wenn Güter abgeladen und aufgenommen werden, so das Ergebnis einer 2019 veröffentlichten Befragung von mehr als 300 Seefahrern. Für die »Hamburg Seafarer Study« verbrachten geschulte Mitarbeiter fast 180 Tage auf 22 Containerschiffen, um die Besatzung zu interviewen. »Die anstrengende Phase im Hafen wechselt sich auf großen Schiffen, die weltweit fahren, mit einer längeren und eher monotonen Zeit auf See ab«, erklärt Hans-Joachim Jensen, Diplompsychologe und emeritierter Professor für Schifffahrtspsychologie, Maritimes Notfallmanagement und Seeverkehrswirtschaft an der Hochschule Flensburg. Er hat die Studie gemeinsam mit Privatdozent Marcus Oldenburg vom Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin in Hamburg geleitet. Wichtig sei, dass sich die Crew dann ausreichend erholen könne.

Auf kleineren Containerschiffen, so genannten Feedern, die kürzere Strecken fahren, gibt es dagegen weniger Gelegenheit zum Ausruhen. Die Feeder-Schiffe transportieren Container von größeren Häfen wie in Hamburg zu kleineren Zielen, zum Beispiel in Nord- oder Ostsee. »Dabei ist die Besatzung oft rund um die Uhr eingespannt und hat ein hohes Schlafdefizit«, sagt Jensen. Die Situation ist auch Folge einer immer effizienteren Abwicklung der Waren. Die Zeit im Hafen hat sich in den letzten drei Jahrzehnten von zwei bis drei Tagen auf maximal einen Tag verkürzt. »Außerdem wechseln kleinere Schiffe oft mehrfach ihren Liegeplatz. Jedes An- und Ablegen fordert die Crew«, erklärt der Psychologe.

Jeder vierte Seefahrer zeigt Symptome einer Depression

Der große Stress und die langen Arbeitseinsätze auf See zerren nicht selten an den Nerven der Besatzung. Im Jahr 2019 ergab die »Seafarer Mental Health Study« der Yale School of Medicine, dass Seeleute häufiger an einer Depression erkranken als Menschen in anderen Berufen. 25 Prozent der befragten Seefahrerinnen und Seefahrer zeigten entsprechende Symptome. 13 Prozent von ihnen wiesen zusätzlich Merkmale einer Angststörung auf. Ein Fünftel der Befragten berichtete sogar von suizidalen Gedanken, die mindestens an einigen Tagen in den vorangegangenen zwei Wochen aufgetreten waren. An der Studie hatten mehr als 1500 Seeleute aus verschiedenen Ländern teilgenommen, die auf unterschiedlichen Schiffstypen im Einsatz waren.

»Es ist nicht gut für die Psyche, wenn man ein Leben lang zur See fährt«, sagt Hans-Joachim Jensen. Schon in den 1970er Jahren sei er in einer Forschungsarbeit zu diesem Ergebnis gekommen. »Entscheidend für die mentale Gesundheit war damals wie heute nicht nur die Arbeitssituation, sondern auch die soziale Deprivation«, so Jensen. Auf Frachtschiffen arbeiten meist bloß 10 bis 25 Seeleute, oft aus aller Welt, also mit unterschiedlichem kulturellem und sprachlichem Hintergrund, die nun auf engem Raum zusammenleben. Verständigungsprobleme können zu Missverständnissen, Konflikten oder Isolation führen, ergab 2012 eine Übersichtsarbeit. Demnach ist Einsamkeit die meistgenannte Ursache für ein geringes Wohlbefinden an Bord. Auch Diskriminierung ist möglich: In der aktuellen Studie der Yale University berichteten im Vergleich zu Westeuropäern viermal so viele Seeleute aus dem Pazifikraum und aus Osteuropa von Gewalt am Arbeitsplatz.

»Es ist nicht gut für die Psyche, wenn man ein Leben lang zur See fährt«
Hans-Joachim Jensen, Psychologe

Zusätzlich belastet viele Crewmitglieder die Abwesenheit von zu Hause. Einer Befragung der Cardiff University zufolge vermissen vier von fünf Seeleuten ihre Familie. Fast 70 Prozent leiden, wenn sie schlechte Nachrichten aus der Heimat erhalten. Die Studienleiter befragten rund 1500 Seeleute in Häfen in Großbritannien, Deutschland und auf den Philippinen und folgern: Familienbezogene Probleme sind der häufigste Grund für Depressionen in der Schifffahrt.

Oft fehlt sogar der Internetzugang an Bord

Den Kontakt in die Heimat halten die Seeleute vor allem über das Internet. »Doch der Internetempfang an Bord ist oft nur an bestimmten Orten möglich«, erklärt Hans-Joachim Jensen. So hat zum Beispiel unter kroatischen Offizieren lediglich rund die Hälfte freien und unbegrenzten Internetzugang auf ihrem Schiff, wie eine Befragung zeigte. Umso wichtiger sind Landgänge, bei denen die Besatzung lokale Internetverbindungen nutzen kann: Fast neun von zehn Seeleuten zieht es in spezielle Einrichtungen für Seefahrerinnen und Seefahrer, um mit ihren Familien in Kontakt zu bleiben, ergab die »Hamburg Seafarer Study«.

Eine dieser Einrichtungen ist der Seemannsclub Duckdalben der Seemannsmission Hamburg-Harburg. Leiter Jan Oltmanns bestätigt, dass viele Seeleute sehr belastet seien und unter Schlaflosigkeit litten, weil Schiffe nur mit der unbedingt nötigen Besatzung fahren würden. »Bei uns können sie mit der Heimat skypen, etwas einkaufen und dann zum Beispiel bei Billard, Karaoke oder Basketball entspannen. Und einfach mal etwas anderes sehen und mit jemand anderem schnacken als an Bord«, erklärt er.

»Manche unserer Besucher sagen, sie opfern auf dem Schiff ihr Leben, um ihre Familie in der Heimat zu ernähren«
Jan Oltmanns, Leiter des Seemannsclubs Duckdalben

Möglich macht das ein Team von Freiwilligen, die die Seeleute mit Kleinbussen von den Schiffen abholen, zum Klub und wieder zurück bringen, weil die Ankerplätze – wie in den meisten Häfen – weit von der Stadt entfernt liegen. »Manche unserer Besucher sagen, sie opfern auf dem Schiff ihr Leben, um ihre Familie in der Heimat zu ernähren«, berichtet Jan Oltmanns. Im Gästebuch lese er, dass einige Seeleute ihr Schiff als »floating jail« (schwimmendes Gefängnis) bezeichnen. »Für sie sind wir oft der einzige Lichtblick.« Wenn die Seeleute nicht in den Klub kommen können, betreuen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Seemannsmission sie auch an Bord, bringen ihnen zum Beispiel Zeitungen oder haben einfach ein offenes Ohr.

In der Corona-Krise hat sich die Situation zusätzlich verschärft, weil viele Seeleute an Bord festsitzen und weder an Land noch in die Heimat zurückkönnen. »Momentan herrscht Perspektivlosigkeit. Nicht wenige mussten ihren Vertrag auf unbestimmte Zeit verlängern und sind nun schon ein Jahr und länger an Bord – obwohl sie bereits nach sieben Monaten körperlich und psychisch an ihrer Belastungsgrenze waren«, sagt Oltmanns. In Hamburg versuchen er und sein Team zu helfen, indem sie unter anderem WLAN-Boxen auf den Schiffen verteilen.

Seelsorge für Seeleute

Eine wichtige Aufgabe der Seemannsmissionen weltweit besteht zudem in der Seelsorge, nicht nur in Corona-Zeiten. Denn auf dem Meer kann es zu dramatischen Situationen kommen. Mehr als ein Drittel der Befragten in der »Hamburg Seafarer Study« haben bereits schwere Unfälle oder einen Schiffbruch erlebt. Von ihnen berichten mehr als 80 Prozent von Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsreaktion, etwa dass sie wiederholt durch Gerüche, Geräusche oder andere Sinneseindrücke an das Ereignis erinnert werden, daran denken müssen oder davon träumen. 17 Prozent sahen sich bereits mit Piraten an Bord konfrontiert – ein Vorfall, der bei mehr als drei Vierteln Spuren hinterließ. »Solche extremen Ereignisse sollten grundsätzlich durch Gespräche aufgefangen werden, wie es auch bei der Feuerwehr oder bei der Polizei üblich ist«, sagt Studienleiter Hans-Joachim Jensen. So lasse sich einer Posttraumatischen Belastungsstörung vorbeugen. Die Seemannsmission bildet Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in psychosozialer Notfallversorgung fort, damit sie Seeleute bei der Bewältigung kritischer Lebensereignisse unterstützen können.

Nicht nur in der Handelsschifffahrt, auch in der Kreuzfahrtbranche sind Unfälle und andere traumatisierende Vorfälle möglich. »Dort herrscht zudem eine ähnlich große Belastung durch lange Arbeitszeiten und die Trennung von der Familie«, sagt Hans-Joachim Jensen. Teilweise sorgen auf einem Passagierschiff mehr als 2000 Crewmitglieder dafür, dass die Reise für die Urlauber komfortabel und unvergesslich wird.

Psychologe Jensen hat sechs Jahre lang angehende Schiffsärzte durch Vorträge auf Kreuzfahrtschiffen für die Belastungen der Besatzung sensibilisiert. »Mitarbeiter mit Kontakt zu den Gästen müssen immer freundlich und zugewandt sein, auch wenn zu Hause die Kinder krank sind. Das kann ein Erschöpfungssyndrom und Depressionen begünstigen«, erklärt er. »Der Stresspegel ist bei einem Passagierwechsel besonders hoch. Dadurch werden Landgänge noch schwieriger als in der Handelsschifffahrt.« Am Hamburger Hafen hat die Seemannsmission schnell zugängliche Lounges direkt in den Kreuzfahrtterminals eingerichtet, in denen die Seeleute entspannen können.

Die Wissenschaftler der Cardiff University betonen in ihrer Studie, wie wichtig ein gutes Verhältnis zwischen der Zeit an Bord und der Länge des Heimaturlaubs ist. Ihnen zufolge sollten Seeleute nicht mehr als sechs Monate am Stück auf dem Schiff tätig sein. Außerdem empfehlen sie einen freien und unbegrenzten Internetzugang sowie ein vielfältiges Freizeitangebot an Bord, um psychischen Erkrankungen vorzubeugen. Hans-Joachim Jensen hält es zudem für wichtig, dass immer mehrere Seeleute einer Nationalität auf dem Schiff beschäftigt sind: »So steigert man die sozialen Kontaktmöglichkeiten und verringert das Risiko für Isolation und Depression.«

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