Direkt zum Inhalt

Myopie: Mit Tapeten und Licht gegen die Kurzsichtigkeit

Manche sprechen schon von einer wahren Kurzsichtigkeitsepidemie. Vor allem Kinder können immer schlechter sehen. Doch wie lässt sich der Trend aufhalten?
Ein Arzt untersucht die Sehkraft eines Kindes mit Kurzsichtigkeit in der nordchinesischen Provinz Hebei.
Ein Arzt untersucht die Sehkraft eines Kindes mit Kurzsichtigkeit in der nordchinesischen Provinz Hebei.

Die Corona-Pandemie hat den Alltag von Kindern erheblich verändert: Klassenzimmer und Spielplätze mussten virtuellen Treffen und digitalen Geräten weichen. Statt Zeit im Freien zu verbringen, verbrachten Heranwachsende immer mehr Zeit damit, auf Bildschirme zu starren. Dies führte zu einer erstaunlichen anatomischen Veränderung: Die Augäpfel der Kinder wurden länger, weil sie dadurch besser auf kurze Distanz sehen können.

Studienergebnisse aus Europa und Asien belegen diesen Trend. Eine Analyse aus Hongkong fand sogar eine fast doppelt so hohe Inzidenz von pathologisch längeren Augäpfeln bei Sechsjährigen verglichen mit Zahlen aus Zeiten vor der Pandemie. Zwar sieht man dadurch nahe Objekte schärfer, die anatomische Anpassung führt jedoch auch dazu, dass weit entfernte Gegenstände verschwommen erscheinen. Dann spricht man von Kurzsichtigkeit, auch Myopie genannt. In der Regel schafft eine Brille Abhilfe: Schulkinder etwa können dann wieder erkennen, was auf der Tafel steht. Gleichwohl kann eine starke Myopie noch schwerwiegendere Folgen haben, beispielsweise kann sich die Netzhaut ablösen, ein Grüner Star entwickeln oder die Betroffenen können erblinden.

Doch die Myopiezahlen stiegen bereits vor der Corona-Pandemie stark an. Im Verlauf der 2010er Jahre wurde vielfach prognostiziert, dass bis zur Mitte des Jahrhunderts die Hälfte der Weltbevölkerung kurzsichtig sein würde (siehe »Die Myopie-Welle«). Das hätte bedeutet, dass sich die Inzidenzrate in weniger als vier Jahrzehnten effektiv verdoppeln würde (siehe »Menschen jeden Alters«). Die Kinderaugenärztin Neelam Pawar vom Aravind Eye Hospital in Tirunelveli, Indien, hält aber selbst diese alarmierenden Prognosen inzwischen für deutlich zu defensiv: »Ich glaube nicht, dass es sich verdoppeln wird«, sagt sie. »Es wird sich verdreifachen.«

Die Myopie-Welle | Die Zahl der Menschen mit Kurzsichtigkeit beziehungsweise schwerer Kurzsichtigkeit steigt seit Jahren weltweit stark an.

Die Wissenschaft hat bereits eine simple Lösung gefunden, wie sich diese Entwicklung stoppen ließe: Kinder müssten mehr Zeit im Freien verbringen, weil die Augen am ehesten in jungen Jahren ihre Struktur verändern. Randomisierte Studien (1,2) aus Ostasien haben gezeigt, dass täglich eine zusätzliche Stunde Pause im Freien die Häufigkeit von Kurzsichtigkeit signifikant verringern kann. Solche Maßnahmen konsequent umzusetzen, erwies sich allerdings als schwierig, insbesondere in Gesellschaften, in denen man großen Wert auf schulische Leistung legt – die Kinder also viel Zeit in Klassenräumen verbringen –, oder in städtischen Gebieten, wo Grünflächen Mangelware sind.

Menschen jeden Alters | Schätzungen zufolge wird bis 2050 vermutlich die Hälfte der Menschheit kurzsichtig sein.

»Kinder dazu zu bringen, nach draußen zu gehen, ist schwierig«, sagt Nathan Congdon, Augenarzt an der Queen's University Belfast, Irland, der fast 20 Jahre in China gearbeitet hat. Daher suchen Forscher und Forscherinnen nach Möglichkeiten, die Außenwelt nach drinnen ins Klassenzimmer zu bringen: mit großen Glasfenstern, speziellen Beleuchtungsanlagen, Tapeten mit Naturmotiven und Brillen mit Leuchtdioden. Auch weitere lichtbasierte und auch pharmazeutische Maßnahmen werden untersucht. Ihnen gemein ist, dass sich weder das Verhalten der Kinder noch das Schulsystem oder die Erziehungstechniken ändern müssen.

Zwar sind einige dieser Ansätze viel versprechend, doch sie wissenschaftlich zu untersuchen, ist schwierig: Es ist nämlich noch gar nicht bekannt, warum viel Zeit im Freien gegen Kurzsichtigkeit überhaupt hilft. Denn klinische Untersuchungen, die das testen, sind im Anfangsstadium; viele Tierstudien nicht aussagekräftig genug. Würde man die Sachlage besser verstehen, könnten Wissenschaftler bessere Behandlungsmethoden entwickeln, ist Christine Wildsoet, Professorin für Optometrie an der University of California, Berkeley, überzeugt. »Sobald wir die wichtigsten Einflussgrößen kennen, können wir einige davon in die Innenräume bringen«, sagt sie.

Stoppsignale für das Auge

Entwickelt sich das Auge, passt es seine Form ständig an bestimmte visuelle Reize an. Ist der Augapfel zu kurz, um Objekte scharf zu stellen, wird er gestreckt. Umgekehrt erhält das Auge Stoppsignale, falls es zu lang ist. Solche Ereignisse sind von entscheidender Bedeutung, um Kurzsichtigkeit zu verhindern. Wie sie hervorgerufen werden, wird unter Fachleuten breit diskutiert. Studien an Affen, Spitzhörnchen und Hühnern – allesamt gängige Tiermodelle in der Myopieforschung – deuten darauf hin, dass die Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin im hinteren Teil des Auges wahrscheinlich solche Stoppsignale auslöst. Außerdem vermutet man, dass Dopamin vermehrt freigesetzt wird, wenn die Umgebung hell ist – etwa an sonnigen Tagen.

Eine alternative Theorie besagt jedoch, dass ein Aufenthalt im Freien weniger wegen des Lichts präventiv wirkt, sondern mehr wegen der vielen unscharfen Bilder, die auf die Netzhaut treffen. Die Landschaft im Freien ist vielfältig und geprägt von unterschiedlichen Strukturen. Etliche Elemente davon sieht ein Betrachter üblicherweise aber aus großer Entfernung, so dass die zahlreichen Details zu einem einzigen Bild verschwimmen. Dieser einheitliche Fokus signalisiere dem Auge, dass es aufhören soll zu wachsen, behauptet Ian Flitcroft, ein Kinderaugenarzt am Center for Eye Research Ireland in Dublin. »Wenn die gesamte Netzhaut ein scharfes Bild sieht, ist das ein wirksames Stoppsignal«, sagt er. Im Gegensatz dazu herrscht in Innenräumen ein Durcheinander an unterschiedlich entfernten Objekten. Umrahmt wird das Ganze von blanken Wänden, die in der Regel keine oder wenige Details aufweisen. Unter solchen Bedingungen muss das Auge den Fokus ständig anpassen, was laut Flitcroft dazu führt, dass der Netzhaut die erforderlichen Stoppsignale fehlen, die für ein gesundes Wachstum des Augapfels notwendig sind.

Das beste Mittel: Draußen sein

Ein Aufenthalt im Freien bietet den Vorteil, dass man sowohl das helle Sonnenlicht abbekommt als auch die vielfältige weitläufige Umgebung wahrnimmt. Ganz nebenbei sind viele draußen zudem körperlich aktiver als drinnen und fühlen sich wohler. Allerdings bleibt die Frage, wie es gelingt, Kinder dazu zu bringen, länger nach draußen zu gehen. Die Gesundheitsbehörde in Taiwan führte 2010 das Programm »Tian-Tian 120« ein. Es ruft dazu auf, dass Kinder mindestens zwei Stunden täglich im Freien sind – und zwar während der Schulzeit. Die Maßnahme konnte die in der Region grassierende Kurzsichtigkeit tatsächlich eindämmen.

»Derzeit liegt der Schwerpunkt eindeutig auf medizinischen Eingriffen«Ian Morgan, Myopieforscher

Zwar stiegen auch in Taiwan die Myopiefälle während der Pandemie leicht an, jedoch wesentlich geringer als in anderen Teilen Ostasiens. Das geht aus Daten hervor, die von Pei-Chang Wu zusammengestellt wurden, einem Netzhautchirurgen und Myopiespezialisten am Kaohsiung Chang Gung Memorial Hospital in Taiwan. Gleichzeitig hat das Outdoor-Programm die schulischen Leistungen der Kinder in Lesen, Mathe und Naturwissenschaften offenbar nicht beeinträchtigt. Nach wie vor gehören sie zu den Besten der Welt.

Für einige ist die Botschaft daher klar: Kinder sollten mehr Zeit im Freien verbringen. »Dies großflächig umzusetzen, ist machbar und wahrscheinlich erfolgreich«, sagt Ian Morgan, Myopieforscher an der Australian National University in Canberra. Es müssten nur mehr Regierungen bereit sein, ihre Bildungspläne entsprechend auszurichten. Bis jetzt ist Taiwan jedoch eine Ausnahme. In anderen Regionen Asiens, in denen die Myopieraten zu den höchsten der Welt zählen, wurde nichts Vergleichbares umgesetzt. Dort wird die Myopie lieber behandelt, anstatt ihr vorzubeugen. »Derzeit liegt der Schwerpunkt eindeutig auf medizinischen Eingriffen«, bestätigt Morgan.

Deshalb suchen viele Augenärzte nach Möglichkeiten, die Vorteile der Natur in den Innenräumen nachzubilden. Einige dieser Strategien setzen auf Licht. Eine Studie aus dem Jahr 2015 ergab, dass die Ausstattung von Klassenzimmern mit helleren Deckenleuchten und leistungsstärkeren Lampen für die Wandtafeln die Myopieraten bei Grund- und Mittelschülern im Nordosten Chinas deutlich reduzierte – von einer Inzidenz von zehn Prozent auf nur vier Prozent innerhalb eines Jahres.

Andere Ansätze konzentrieren sich darauf, mehr natürliches Licht in die Gebäude zu lassen. Indem mehr Glas und Stahl verbaut wird, möchte man hellere Klassenzimmer schaffen. Entsprechende Maßnahmen wurden laut einer Studie von Schülern und Lehrern hoch gelobt. Doch laut Congdon, der eine solche Initiative in Südchina leitete, ist das Konzept nicht praktikabel. Das liege an den höheren Kosten in Verbindung mit strengen Bauvorschriften. Letztere wurden nach einem verheerenden Erdbeben im Jahr 2008 erlassen, bei dem zahlreiche Schulgebäude einstürzten.

Licht ins Auge

Eine alternative Methode besteht darin, mehr Licht ins Auge zu schicken. Jedoch ist sich die Fachwelt nicht einig darüber, welche Lichtwellenlänge hier am besten geeignet ist. In Australien haben Forscherinnen und Forscher Pilotstudien mit speziellen »Lichttherapiebrillen« durchgeführt, die die blaugrünen Teile des natürlichen Sonnenlichtspektrums abgeben. Die Geräte erinnern an die visierartigen Brillen aus »Star Trek« und kamen ursprünglich auf dem Markt, um einen Jetlag zu lindern und die Schlafqualität zu verbessern. Inzwischen haben sie sich auch als viel versprechend erwiesen, um Kurzsichtigkeit zu behandeln: Jugendliche, die das Gerät morgens für eine halbe Stunde über den Zeitraum von sieben Tagen anwendeten, bekamen eine dickere Aderhaut (Choroidea) in den Augen. Dies geht üblicherweise mit einem verringerten Risiko für Kurzsichtigkeit einher. »Die langfristigen Vorteile sind noch unklar«, merkt Scott Read an, ein Optometrist an der Queensland University of Technology in Brisbane, Australien, der eine der Studien geleitet hat. »Aber es besteht sicherlich Potenzial.«

Das in Berlin ansässige Medizintechnikunternehmen Dopavision testet derzeit ein Virtual-Reality-Headset, das kurzwelliges blaues Licht auf den »blinden Fleck« abgibt – jenen Punkt auf der Netzhaut, an dem der Sehnerv ansetzt. Bei Kaninchen führte eine solche Therapie dazu, dass der Dopaminspiegel in ihren Augen signifikant anstieg. Dieser molekulare Effekt könnte erklären, warum eine VR-Brillen-Behandlung in klinischen Pilotversuchen erste Erfolg versprechende Ergebnisse lieferte: Bei den Probandinnen und Probanden konnte die Verlängerung des Augapfels eingeschränkt werden. In Europa läuft derzeit eine größere klinische Untersuchung mit der VR-Plattform, bei der Kinder die Headsets beim Videospielen tragen.

Einigen weiteren Forschungsergebnissen zufolge könnten noch kürzere Lichtwellenlängen das Mittel der Wahl sein: Laborstudien zeigten etwa, dass violettes Licht das Fortschreiten der Myopie bei Mäusen und Küken verlangsamen oder gar stoppen kann. Augenärzte der Keio University School of Medicine in Tokio untersuchten diese Theorie in zwei randomisierten Studien am Menschen: Kurzsichtige Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren mussten eine spezielle Brille tragen, deren Gestell mehrere Stunden täglich violettes Licht ausstrahlte. Doch selbst nach Monaten oder Jahren beeinflusste diese Maßnahme kaum das Wachstum der Augäpfel.

Richard Lang, Biologe am Cincinnati Children's Hospital Medical Center in Ohio, befasst sich schon lange mit dem Sehvermögen und hat mit der Gruppe von Keio bereits zusammengearbeitet. Er glaubt zu wissen, warum die Brillen nicht den gewünschten Effekt hatten: Die von Keios Team gewählte Wellenlänge – zwischen 360 und 400 Nanometern – basierte auf Studien an Mäusen. Doch das menschliche Auge reagiert möglicherweise überhaupt nicht auf diesen Teil des Spektrums. Lang und sein Mitarbeiter Rafael Grytz, ein Bioingenieur an der University of Alabama in Birmingham, untersuchten das Spitzhörnchen (Tupaia belangeri), das eine dem Menschen ähnliche Sehkraft hat. Dabei stellten sie fest, dass seine Augen den Großteil des violetten Lichts mit einer Wellenlänge von weniger als 400 Nanometern herausfiltern.

»Ich glaube, violettes Licht könnte der Schlüssel sein. Womöglich kann es für immer verändern, wie man Kurzsichtigkeit behandelt und vorbeugt«Rafael Grytz, Bioingenieur

Falls das menschliche Auge Licht auf die gleiche Weise verarbeitet, könnte dies erklären, warum die Brillen der Keio-Gruppe mit violettem Licht kaum wirkten. Bei nur geringfügig längeren Wellenlängen – etwa 420 Nanometern – konnten Lang und Grytz die schützenden Auswirkungen von violettem Licht bei ihren Spitzhörnchen reproduzieren. Entsprechend erwarten sie ähnliche Effekte beim Menschen. »Es gibt diese besondere Wellenlängensensibilität«, sagt Grytz über die unveröffentlichten Daten der Spitzhörnchen. »Ich glaube, violettes Licht könnte der Schlüssel sein. Womöglich kann es für immer verändern, wie man Kurzsichtigkeit behandelt und vorbeugt«, sagt er. Grytz ist davon so überzeugt, dass er für seine achtjährige Tochter eine Lampe gebaut hat, die violettes Licht abstrahlt, um sie vor Kurzsichtigkeit zu schützen. Lang und seine Kollegen am Cincinnati Children's Hospital testen derzeit ein ähnliches Lichtsystem in einer laufenden randomisierten Studie.

Ist rotes Licht noch besser?

Diejenige lichtbasierte Intervention, die weltweit am meisten Zuspruch findet, nutzt jedoch Wellenlängen am anderen Ende des sichtbaren Spektrums: die so genannte »Repeated Low-Level Red-Light Therapy«, also die wiederholte niedrig dosierte Rotlichttherapie. Ein Gerät, das einem Tischmikroskop ähnelt, fokussiert dabei einen Laserstrahl mit niedriger Intensität und langer Wellenlänge direkt in die Augen des Benutzers. Ursprünglich wurde die Anwendung für eine andere Augenerkrankung entwickelt. Man geht davon aus, dass sie die Durchblutung des Augapfels verbessert. Dieser Mechanismus unterscheidet sich grundlegend von der Dopaminproduktion durch natürliche Sonneneinstrahlung.

»Wenn wir diese Rotlichtbehandlung durchführen, wird die Prävalenz der Myopie im Lauf der Zeit erheblich zurückgehen«Mingguang He, Augenarzt

Versuchsdaten aus China haben aber gezeigt, dass dieser Ansatz auch bei der Prävention und Behandlung von Kurzsichtigkeit viel versprechend ist. In einer einjährigen Studie an zehn Grundschulen in Schanghai stellten Forscher Folgendes fest: Kinder mit hohem Risiko für Kurzsichtigkeit, die zweimal täglich fünf Tage pro Woche drei Minuten lang eine Rotlichttherapie erhielten, erkrankten nur halb so häufig an Kurzsichtigkeit wie Kinder, die nicht behandelt wurden. »Wenn wir diese Rotlichtbehandlung durchführen, wird die Prävalenz der Myopie im Lauf der Zeit erheblich zurückgehen«, prognostiziert Mingguang He, Augenarzt an der Hong Kong Polytechnic University und einer der Studienleiter. He ist außerdem Mitbegründer und leitender medizinischer Direktor von Eyerising International, einem führenden Hersteller von Rotlichttherapiegeräten mit Sitz in South Yarra, Australien.

Zehntausende, wenn nicht hunderttausende Kinder in China – und in geringerer Zahl auch in anderen Ländern – blicken regelmäßig morgens und abends für drei Minuten in Rotlicht, um ihre Kurzsichtigkeit zu lindern. »Es ist wie zweimal täglich Zähneputzen«, sagt Kaikai Qiu, Augenarzt am Fuzhou South East Eye Hospital in China. Die Geräte werden von den Familien in der Regel für ein paar Dollar pro Tag gemietet und zu Hause angewendet. Damit die Rotlichttherapie jedoch wirklich zu einer praktikablen Option wird, um der weit verbreiteten Myopie vorzubeugen, müsse die Technologie leichter zugänglich werden, so Congdon. »Wir brauchen eine Lösung in den Schulen«, sagt er. »Wenn die Methode dort nicht umgesetzt werden kann, werden wir das Problem nicht lösen können.«

Fachleute für Myopie äußerten allerdings Bedenken hinsichtlich der Sicherheit von Rotlichttherapien, nachdem ein solches Gerät die Netzhaut eines zwölfjährigen Mädchens beschädigt hatte. »Die technischen Spezifikationen sind Besorgnis erregend«, sagt Lisa Ostrin, Augenspezialistin an der University of Houston College of Optometry in Texas, die Anfang 2024 einen Bericht mitverfasst hat, der betont, dass die Therapie das Potenzial hat, Verbrennungen des Auges hervorzurufen. Befürworter argumentieren jedoch, dass die Anwendung sicher ist. Und Congdon und seine Kollegen planen, die Behandlung in Schulen zu testen – in Singapur an Vorschulkindern und in Hongkong an Grundschülern.

Daneben gewinnt eine weitere Vorsorgemaßnahme an Bedeutung: das Medikament Atropin. Ähnlich wie einige lichtbasierte Therapien zielt auch dieses Mittel auf Dopamin ab. Im Jahr 2023 berichteten Forscherinnen und Forscher aus Hongkong, dass Atropin-Augentropfen die Häufigkeit von Kurzsichtigkeit senken können. Das Medikament wird bereits häufig eingesetzt, um zu kontrollieren, wie sehr die Kurzsichtigkeit fortgeschritten ist. Im Allgemeinen treten dabei nur minimale Nebenwirkungen auf. Dennoch könnte es sein, dass bei einer präventiven Anwendung selbst leichte Nebenwirkungen nicht als akzeptabel eingestuft werden.

Augen Richtung Horizont

In der Provinz Yunnan im Südwesten Chinas wurde mit Grundschülern eine ganz andere Methode erprobt, um das Draußensein zu imitieren. Die Methode basiert nicht auf Licht, sondern auf der Nachbildung von natürlichen Umgebungen, auf die die Netzhaut fokussieren kann. In neun Klassenzimmern in der Stadt Lijiang brachte ein Team unter der Leitung des Augenarztes Weizhong Lan vom Aier Eye Hospital in Changsha, China, maßgeschneiderte Tapeten an. Sie zeigen Parks mit Bäumen, herumtollenden Hunden, fliegenden Spatzen und flatternden Schmetterlingen. Die Decke wurde mit einem blauen Himmel mit weißen Wolken, Möwenschwärmen, schwebenden Luftballons oder einem Drachen bemalt. »Ich habe versucht, alles so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten«, sagt Lan.

Im Klassenzimmer gegen Kurzsichtigkeit | Bäume und Wolken an den Wänden sollen die Kinderaugen vor Kurzsichtigkeit bewahren.

In einer unveröffentlichten Studie haben Lan und seine Kollegen gezeigt, dass Kinder, die ein Jahr lang in diesen Klassenzimmern mit Außenszenen verbrachten, eine viel geringere Augenlänge aufwiesen als Kinder, die in herkömmlichen Schulräumen mit weißen Wänden unterrichtet wurden. Die Maßnahme sei einfach umzusetzen, sagt Lan, und sie zeige, dass »Licht nicht der einzige Grund« ist, weshalb Aufenthalte im Freien vorteilhaft für Kinderaugen sind.

Da immer mehr Interventionen ihre Wirksamkeit bewiesen haben, haben Forschungsteams nun die Qual der Wahl, welchen Ansatz sie priorisieren wollen. Sie könnten sich natürlich auch für die einzige nicht klinische Option entscheiden, die sich bereits als kostengünstig und wirksam erwiesen hat: tatsächlich mehr Zeit im Freien. Fachleute und Gesundheitsbehörden werden sich überlegen müssen, ob sie Ressourcen bereitstellen wollen, um natürliche Umgebungen in Innenräumen zu simulieren, sagt Kevin Frick, Gesundheitsökonom an der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland. Frick leitet gemeinsam mit einem anderen Vorsitzenden ein Studienkomitee für Myopie für die US National Academies of Science, Engineering, and Medicine. »Oder wollen wir einen viel einfacheren Weg einschlagen«, fragt er, »und Möglichkeiten finden, die Kinder nach draußen zu bringen?« Die Gesellschaft müsse eine grundlegende Entscheidung treffen, sagt Frick. Auf dem Spiel steht viel: nämlich die Gesundheit der Augen von unzähligen Kindern.

WEITERLESEN MIT SPEKTRUM - DIE WOCHE

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen »spektrum.de« Artikeln sowie wöchentlich »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Genießen Sie uneingeschränkten Zugang und wählen Sie aus unseren Angeboten.

Zum Angebot

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.