Assistierter Suizid: Der Arzt, dein Sterbehelfer?
Darf man um Hilfe bei einem Suizid bitten, wenn man starke Schmerzen hat oder psychisch so sehr leidet, dass das eigene Leben nicht mehr lebenswert erscheint? Oder dürfen das nur tödlich Erkrankte? Das Bundesverfassungsgericht erklärte 2020 das Verbot der »geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung« für verfassungswidrig und hob den entsprechenden Artikel 217 im Strafgesetzbuch auf. Die Regierung war aufgefordert, die Sterbehilfe in Deutschland neu zu regeln, woraufhin parteiunabhängige Abgeordnetengruppen verschiedene Gesetzesentwürfe ausarbeiteten. Eine Abstimmung zu den Entwürfen soll noch vor der Sommerpause stattfinden.
Frau Professorin Bozzaro, Herr Professor Pollmächer, dürfen sich gesunde Menschen in Deutschland bei einem Suizid helfen lassen?
Claudia Bozzaro: Ja, das dürfen sie. Sein Urteil von 2020 hat das Bundesverfassungsgericht mit dem Persönlichkeitsrecht begründet und klargestellt, dass die Autonomie des Menschen unbedingt zu beachten ist. Jeder in Deutschland darf demnach selbstbestimmt sterben – auch durch einen Suizid – und dabei Hilfe anderer in Anspruch nehmen, sofern diese angeboten wird. Das Interessante an dem Urteilsspruch ist, dass die Richter in Karlsruhe das Recht auf assistierten Suizid nicht eingegrenzt haben, indem sie beispielsweise ein unerträgliches Leiden auf Grund einer zum Tode führenden Krankheit zu einer Voraussetzung gemacht haben. Diese Ausgangslage unterscheidet die Situation hier zu Lande von der in anderen Ländern mit bereits vorhandenen Sterbehilfe-Gesetzen. In den Niederlanden, Kanada und Portugal beispielsweise sind Kriterien wie ein unheilbares oder unerträgliches Leiden eine Bedingung für assistierten Suizid und die dort ebenfalls zulässige aktive Sterbehilfe, also die Tötung auf Verlangen. Letztere steht bei uns noch nicht zur Debatte, aber ich vermute, dass wir diese in nicht allzu ferner Zukunft auch diskutieren werden.
Thomas Pollmächer: Aber unsere Gesetzgeber haben neben der Wahrung der Autonomie natürlich eine Schutzpflicht des Staates zu beachten. Sie müssen sicherstellen, dass Sterbewillige wirklich selbstbestimmt handeln. Das Bundesverfassungsgericht hat dafür den Ausdruck »freie Suizidentscheidung« gewählt. Bedeutet: Man muss sich der Bedeutung seiner Entscheidung vollumfänglich bewusst sein, Alternativen kennen und diese in seine Überlegungen einbeziehen. Jemand, der gerade von seiner Freundin sitzen gelassen wurde und noch am selben Tag erklärt, dass er deshalb sterben möchte, denkt vermutlich nicht reflektiert. Solch eine Suizidentscheidung wäre nicht frei. Man kann sich nun massive Schutzvorkehrungen vorstellen, um die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu überprüfen, etwa mehrere Gutachten von Fachleuten einfordern oder nur den behandelnden Arzt entscheiden lassen. Wie genau und tief die Selbstbestimmungsfähigkeit geprüft wird – darin unterscheiden sich die Gesetzesentwürfe.
Kann diese Gratwanderung zwischen Wahrung der Entscheidungsfreiheit einerseits und Erfüllung der Schutzpflicht andererseits überhaupt gelingen?
Bozzaro: Das Dilemma lässt sich nicht vollständig auflösen. Es wird immer Einzelfälle geben, die erneut diskutiert werden müssen.
Hoffnungslosigkeit und der Wunsch, seinem Leben ein Ende zu setzen, sind ein häufiges Symptom psychischer Erkrankungen. Ein schwer depressiver Patient erhält deshalb sicherlich keinen Zugang zum assistierten Suizid.
Pollmächer: So einfach ist es nicht. Suizidalität kommt zwar vor allem bei psychisch kranken Menschen vor – verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten zufolge macht diese Gruppe 60 bis 90 Prozent aller Sterbewilligen aus. Das verleitet zur Schlussfolgerung, deren Suizidwunsch sei grundsätzlich krankhaft und deshalb nicht frei. Meist ist das vermutlich auch so. Bei depressiven Menschen leidet das Selbstwertgefühl oft in völlig übersteigerter Weise. Ein Patient hat vielleicht das Gefühl, seine Familie ruiniert zu haben, obwohl es dafür keinerlei objektive Anhaltspunkte gibt. Diese verzerrte Wahrnehmung kann dazu führen, dass man nicht mehr leben möchte. Und Patienten mit einer Schizophrenie werden manchmal von Stimmen bedrängt, die ihnen regelrecht befehlen, sich das Leben zu nehmen. Hier würde man natürlich auch nicht von einer freien Suizidentscheidung sprechen. Dennoch gibt es meines Erachtens keine psychiatrische Diagnose, die die Selbstbestimmungsfähigkeit von vornherein ausschließt. Das erkläre ich in einem kürzlich erschienenen Artikel.
Unter welchen Umständen ist ein psychisch kranker Mensch denn fähig, eine freie Suizidentscheidung zu treffen?
Pollmächer: Es ist denkbar, dass jemand mit schwerer Krebserkrankung zum Beispiel schon seit 20 Jahren an einer Zwangsstörung leidet, die aber gut behandelt ist. Solch eine nicht kausale Koexistenz von psychischem und körperlichem Leiden wäre für mich kein Grund, der Person Zugang zu assistiertem Suizid zu verwehren. Eine zweite Möglichkeit ist, dass zwar ein Zusammenhang zwischen physischen und psychischen Beschwerden besteht, die freie Entscheidungsfähigkeit aber zum aktuellen Zeitpunkt dennoch nicht eingeschränkt ist. Viele psychische Erkrankungen verlaufen phasisch, die Betroffenen sind also über Monate oder Jahre hinweg völlig gesund. Eine manisch-depressive Person könnte zwischen zwei Krankheitsepisoden entscheiden, dass sie sterben möchte. Vielleicht war sie während depressiver Phasen tief verzweifelt, hat während der manischen Episoden ihr Vermögen verschleudert und möchte das nicht noch einmal erleben. Deutschland braucht künftig Mechanismen, um solche Fälle beurteilen zu können. Indem das Bundesverfassungsgericht sich auf das Persönlichkeitsrecht berufen hat, hat es ein Riesentor aufgemacht. Es wird bereits diskutiert, ob nicht Strafgefangene ein Recht auf assistierten Suizid haben.
Bozzaro: Ich halte diese Diskussionen um Strafgefangene auch für wichtig. Menschen in Haft werden immer älter, weshalb das Sterben in Gefängnissen an Bedeutung gewinnt – und damit die Realität assistierten Suizids. Bekannt ist ein Fall aus Belgien. Ein schon seit Jahrzehnten inhaftierter Mann hatte lange vergeblich um Euthanasie gebeten. Grund waren unerträgliche psychische Leiden, primär verursacht durch die Aussicht auf eine lebenslang zu verbüßende Haftstrafe. Schließlich gab ein Arzt dem Antrag statt, zog seine Zustimmung aber kurz vor dem Termin zurück. Am selben Tag genehmigte der belgische Justizminister eine Verlegung des Insassen in eine psychiatrische Einrichtung. Dieser zog daraufhin seine Bitte um Suizidbeihilfe zurück. Ich finde den Fall sehr lehrreich, weil er Fragen aufwirft, zum Beispiel: Wie müssen die Bedingungen während einer Haftstrafe oder Sicherheitsverwahrung sein, um keinen Suizidwunsch auszulösen? Man kann das weiterspinnen und auf andere Personengruppen ausweiten, etwa psychisch kranke oder alte, pflegebedürftige Menschen. Wie gut muss unsere Gesellschaft diese versorgen, damit sie nicht sterben wollen?
Es gibt noch andere vulnerable Gruppen, zum Beispiel Kinder. Müssen hier nicht ebenfalls Diskussionen geführt werden?
Bozzaro: Auch darüber werden wir sprechen werden müssen. In den Niederlanden und in Belgien ist die Tötung auf Verlangen unter Berücksichtigung bestimmter Kriterien inzwischen für Kinder erlaubt. Doch rein numerisch gesehen ist aus meiner Sicht noch eine andere Gruppe bedeutsam.
Und die wäre?
Bozzaro: Die Älteren. Ich denke da an Menschen, die zwar altersbedingte Beschwerden haben, aber keine gravierende oder zum Tode führende Erkrankung. Die aber sozial nicht mehr integriert sind, teils vielleicht auch auf Grund ihres Leidens. Es geht mir um Männer und Frauen, die einsam sind und sich nutzlos fühlen, weil es für sie keinen Platz gibt in unserer auf Leistung und Jugend ausgerichteten Gesellschaft. Freunde sind vielleicht schon verstorben, die Kinder und Enkel führen woanders ihr eigenes Leben. Sehr viele Menschen im Rentenalter fragen sich: Was soll ich hier noch? Es stellt sich eine Lebensmüdigkeit ein. Und Depressionen werden bei Älteren ja oft gar nicht diagnostiziert.
Pollmächer: Da stimme ich Ihnen zu. Die Integration – oder besser Inklusion – Älterer in unserer Gesellschaft ist eine ganz massive gesellschaftliche Herausforderung.
Bozzaro: Die Babyboomer gehen demnächst in Rente. Das sind Menschen mit ganz großen Ansprüchen an Autonomie und Selbstbestimmung. Ich glaube, dass dies die Zahlen bei assistiertem Suizid künftig ganz stark beeinflussen wird. Viele von ihnen werden irgendwann sagen: Ich mag nicht mehr. Das ist ein ganz großes Thema, das uns auf Grund unserer demografischen Struktur und dem Fachkräftemangel beschäftigen wird.
Gibt es dazu Zahlen aus anderen Ländern?
Pollmächer: In den Niederlanden oder dem kanadischen Quebec gehen bereits etwa fünf Prozent aller Todesfälle auf assistierten Suizid oder Tötung auf Verlangen zurück. Und es stimmt – darunter sind viele weitgehend gesunde Menschen. Es wird akzeptiert, dass Menschen ihr Altsein als unerträglich empfinden.
Bozzaro: Die Statistiken aus der Schweiz sind ebenfalls sehr interessant. Die Menschen, die dort durch Sterbehilfeorganisationen wie EXIT sterben, sind meist weiblich und aus bildungsnahen Schichten.
Pollmächer: … während Suizide ohne jede Unterstützung überwiegend von Männern begangen werden.
Bozzaro: Außerdem stammen diejenigen, die in der Schweiz Sterbehilfe beanspruchen, vor allem aus deutschsprachigen Regionen. Weitaus weniger kommen aus den stärker säkularisierten frankofonen oder italienischen Gegenden. Die Kultur spielt offenbar eine Rolle. Es wäre übrigens ein Trugschluss, zu glauben, man könne die Zahl der eigenständig verübten Suizide merklich verringern, indem man Menschen Sterbehilfe anbietet. Auch das zeigen die Statistiken. Bei denjenigen, die sich beispielsweise vor einen Zug werfen, handelt es sich um eine andere Gruppe von Personen, die Sterbehilfeorganisationen nicht in Anspruch nehmen.
»Wir brauchen ein neues Miteinander, das vor allem die Älteren integriert«Claudia Bozzaro, Medizinethikerin
Wie kann man verhindern, dass Menschen sterben wollen – vor allem, wenn sie gar nicht so schwer krank sind?
Bozzaro: Dafür gibt es keine einfache Lösung. Wir brauchen ein neues Miteinander, das vor allem die Älteren integriert. Ich kann jeden verstehen, der nicht in ein Pflegeheim möchte. Nach ihrer Pensionierung leben die Menschen durchschnittlich noch etwa 20 Jahre. Ganz viele von ihnen verschwinden einfach hinter den Wänden ihrer Wohnung und werden von der Gesellschaft nicht mehr wahrgenommen. Und manche von ihnen nehmen sich das Leben. Ich habe neulich einen Brief von der Schule bekommen, in dem Eltern gebeten wurden, einmal pro Woche zu einer Lesestunde zu kommen. Könnte man hier nicht stattdessen Rentnerinnen und Rentner aus der Nachbarschaft heranziehen, die so etwas ehrenamtlich machen? Ich kann mir auch vorstellen, dass man andere, flexiblere Arbeitskonzepte etabliert. Es ist doch eigentlich absurd, dass wir mehr als 40 Jahre lang vor lauter Arbeit kaum Zeit zu leben haben und dann von einem Tag auf den anderen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden – und in der Folge vielleicht nicht mehr leben wollen.
Pollmächer: Aber es ist ja nicht so, dass alle am liebsten noch zehn Jahre länger arbeiten würden. Und was ehrenamtliche Tätigkeiten wie zum Beispiel das Vorlesen in Kindergärten oder Schulen angeht: In meiner klinischen Praxis bin ich immer damit konfrontiert, wie schwer es ist, selbst gesundeten Menschen mit einer Depression deutlich zu machen, dass sie nach einer erfolgreichen Behandlung sozial aktiv sein sollten, um keinen Rückfall zu erleiden.
Stellen Sie Ihren Patienten denn verschiedene Beschäftigungsmöglichkeiten vor?
Pollmächer: Wir haben ein ganzes Repertoire an Aktivitäten, die unsere Sozialpädagogen unseren Patientinnen und Patienten unterbreiten. Aber ich bin jedes Mal aufs Neue erstaunt, wenn Menschen, die zum Beispiel wegen ihrer Einsamkeit depressiv geworden sind, all diese Möglichkeiten ausschlagen und sich zu Hause wieder in exakt dieselbe Situation begeben wie zuvor. Wir brauchen dringend Konzepte für sozialverträgliches Altern.
Bozzaro: … die aber bereits im Kinder- und Jugendalter eingeführt werden. Denn jemand, der sein Leben lang nie ehrenamtlich aktiv war, wird das mit 65 nicht plötzlich ändern. Ich wünsche mir wieder so etwas wie ein verpflichtendes soziales Jahr – um den intergenerationalen Austausch fördern, aber auch, um die Sensibilität für Vulnerabilität zu schulen, die ein Teil unser aller Leben ist.
Das klingt beinahe so, als käme eine Welle assistierter Suizide auf uns zu. Ist bei uns ein ähnlicher Anstieg der Zahlen wie in unseren Nachbarländern zu erwarten?
Pollmächer: Das ist möglich. Rechnet man allein die Entwicklung in der Schweiz hoch, hätten wir in zehn Jahren 10 000 assistierte Suizide jährlich in Deutschland. Deshalb bin der Meinung, dass Suizidprävention gesetzlich genauso verankert werden muss wie ein Schutzkonzept zum assistierten Suizid. Auch wenn es in gewissen Situationen legitim sein mag, Sterbewünsche Einzelner zu unterstützen, muss doch klar sein, dass die Hilfe, die die Allermeisten benötigen, eine andere ist, als vom Leben zum Tod befördert zu werden.
Sind Sie mit konkreten Anfragen von Patienten konfrontiert, die um Unterstützung beim Suizid bitten?
Pollmächer: Ja, die Anfragen sind da.
Bozzaro: Auch bei uns im Uniklinikum Schleswig-Holstein mehren sich die Anfragen, und ich erlebe bei den Kolleginnen und Kollegen eine große Unsicherheit, wie damit umzugehen ist.
Pollmächer: Ich kann einen konkreten Fall schildern. Eine Patientin erklärte uns bei der Aufnahme, sie sei nun 70 Jahre alt, habe lange genug gelebt, ihr Mann sei vor anderthalb Jahren an Krebs gestorben, das Verhältnis zur Enkelin sei schlecht, sie sehe keinen Sinn mehr in ihrem Leben und bitte um assistierten Suizid. Wir haben uns Zeit für die Dame genommen und festgestellt, dass sie depressiv war und zusätzlich unter Schlafstörungen und Appetitmangel litt. Auch einige körperliche Erkrankungen machten ihr das Leben schwer. Nach zwei Wochen des Kennenlernens hat sich die Frau auf eine Therapie eingelassen, acht Wochen später hat sie zuversichtlich und von ihrer Depression genesen die Klinik verlassen. Das funktioniert sicherlich nicht immer so gut. Aber man sollte stets ins Kalkül ziehen, dass jemand unter einer psychischen Erkrankung leidet, die den Wunsch zu sterben auslöst.
Bozzaro: Was mich in diesem Zusammenhang wirklich umtreibt, ist die Frage: Haben wir genug Ärzte und Psychiater für frühzeitige und leicht erreichbare Behandlungsangebote?
Haben wir das, Herr Pollmächer?
Pollmächer: Es ist richtig, dass dies auf Grund des zunehmenden Personalmangels immer schwieriger wird. Trotzdem besteht keine Eins-zu-eins-Relation zwischen Personalbedarf und Suizidprävention. Es geht nämlich auch darum, niederschwellige Angebote bekannt zu machen, wie zum Beispiel digitale Selbsthilfe-Programme oder psychosoziale Beratungsangebote. Diese sind oft hilfreicher, als viele glauben.
»Für mich persönlich steht die ärztliche Pflicht zur Lebenserhaltung nicht zur Disposition«Thomas Pollmächer, Psychiater
Empfinden Sie Suizidbeihilfe als ärztliche Aufgabe?
Pollmächer: Nein. Für mich persönlich steht die ärztliche Pflicht zur Lebenserhaltung nicht zur Disposition. Das Thema ist aber Gegenstand derzeitiger Diskussionen, und es gibt Menschen – darunter Ärzte –, die das anders sehen als ich. Sie argumentieren, es sei ihre Aufgabe, Leiden auch auf diese Art und Weise zu lindern. Der deutsche Ärztetag hat das formale Verbot der Unterstützung eines Suizids aus der Berufsverordnung der Ärzte zwar gestrichen. Trotzdem hat er beschlossen, dass Suizidassistenz weiterhin keine ärztliche Aufgabe ist. Das klingt widersprüchlich, aber ich finde das eigentlich ganz passend, denn natürlich kann man niemandem etwas verbieten, das juristisch legitim ist. Dennoch kann und sollte die Ärzteschaft klarmachen, dass Assistenz beim Suizid nicht Teil ihrer Aufgaben ist, sondern sie sich unverbrüchlich dem Leben verpflichtet fühlt.
Bozzaro: Für mich ist die Frage, was mit Lebenserhaltung eigentlich gemeint ist. Das biologische Leben wohl eher nicht – Ärzte verzichten ja schon lange auf lebensverlängernde Therapien, wenn schwer kranke Patientinnen und Patienten das nicht möchten. Geht es dann um das lebenswerte Leben? Und wer definiert das? Genau wie Herr Pollmächer sehe ich die Ärzteschaft in Sachen Sterbehilfe aber auch nicht in der Pflicht, jedoch aus anderen, eher pragmatischen Gründen: In Anbetracht der Arbeitsbedingungen und des hohen Zeitdrucks in vielen Kliniken und Praxen sehe ich die Gefahr einer Überforderung. Ich bezweifle, dass es dort möglich ist, Menschen bei einem solchen Prozess gut zu begleiten. Mich wundert, dass in Deutschland eine gewisse Skepsis gegenüber Sterbehilfeorganisationen herrscht. So hätte man eine klare Trennlinie: Die Ärzte bemühen sich um Symptomlinderung und -kontrolle, die Sterbehilfeorganisationen begleiten beim Suizid.
Pollmächer: Ich als Psychiater würde in einen unlösbaren Konflikt geraten, wenn Sterbehilfe zu meinen Aufgaben gehörte – das ist vielleicht in anderen Fachrichtungen nicht so deutlich. Wir haben ja ständig mit Menschen zu tun, die nicht mehr leben wollen. Das ist oft über Jahrzehnte hinweg bei denselben Patientinnen und Patienten ein Thema. Ich sage dann immer: Wir kriegen das auch diesmal hin und finden Wege, damit es Ihnen besser geht. Ihre Depression wird weggehen. Stellen Sie sich vor, ich würde irgendwann stattdessen sagen: »Na gut, dann lassen wir es jetzt eben. Sie haben Recht, Ihr Leben hat wirklich keinen Sinn mehr.« Für mich undenkbar.
Wege aus der Not
Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: an den Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.
Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 0800 1110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per Mail von einem Peer beraten lassen.
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