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Stromversorgung: Was vor dem großen Blackout schützen soll

Wie sensibel das Geflecht ist, das Europa mit Strom versorgt, zeigte ein Zwischenfall im Januar. Wie lassen sich solche Beinahekatastrophen künftig verhindern?
Von Wendlingen aus steuert TransnetBW sein gesamtes Netz

Es ist Nachmittag, exakt um 14:04:25,9 Uhr MEZ, als die verhängnisvolle Kettenreaktion beginnt. Im Umspannwerk Ernestinovo in Kroatien öffnet sich automatisch eine Kupplung zwischen zwei Stromschienen. Zwei 400-Kilovolt-Leitungen, die Strom vom Balkan nach Mitteleuropa liefern, sind damit unterbrochen. Der Strom sucht sich neue Wege, belastet andere Leitungen, überlastet sie. Automatische Schutzschalter reagieren und trennen weitere Verbindungen in Serbien, Rumänien, Kroatien. Kaum eine Minute später, exakt um 14:05:08,6 Uhr MEZ, ist der riesige Verbund des europäischen Übertragungsnetzes in zwei Teile gebrochen.

Dem Teil im Nordwesten fehlt plötzlich die Leistung von rund sieben Großkraftwerken, die Netzfrequenz sackt ab. Im Südosten schieben die Energieerzeuger viel mehr in die Leitungen, als benötigt wird, die Frequenz steigt, jeweils nur um wenige Zehntelhertz. Zügig werden dort Kraftwerke vom Netz genommen. Im Nordteil hingegen versuchen die Netzbetreiber, die Lage in den Griff zu bekommen, indem sie Großabnehmern den Strom abstellen. Wem genau, ist nicht bekannt, mutmaßlich sind es Industriekunden in Frankreich und Italien, die für solche Fälle ihre Einwilligung gegeben haben – und dafür bezahlt werden. Schließlich gelingt es, die beiden Teilnetze zu beruhigen. Eine Stunde später werden sie wieder synchronisiert und vereint.

Eine solche Störung, wie sie sich am 8. Januar 2021 ereignete, zeigt: Ein Stromnetz ist höchst sensibel. Kleine Abweichungen oder Fehler, wie die bis heute nicht aufgeklärte Öffnung der Kupplung in Ernestinovo, können sich fortsetzen und verstärken. Im schlimmsten Fall kollabieren Netze, der Strom ist weg. Längst heißt das nicht mehr nur, dass kein Licht mehr leuchtet oder der Wasserkocher kalt bleibt. Strom ist der Treibstoff des 21. Jahrhunderts. Auch die meisten Heizungsanlagen benötigen ihn, um zu funktionieren, Telefonie und Internetverbindung ebenso wie E-Autos. Und dies sind nur naheliegende Anwendungen in Privathaushalten. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich die Folgen eines Blackouts für das öffentliche Leben, für Wirtschaft und Verkehr auszumalen.

Ab wann wird ein Stromnetz instabil? Ein wichtiges Maß dafür ist die Netzfrequenz von 50 Hertz. Angebot und Nachfrage halten sich die Waage. Wird mehr Strom »gezogen«, weil plötzlich zehntausende ihr E-Auto an die Ladesäule anschließen, sackt die Frequenz ab. Wie bei einer Radfahrerin, die vom Flachland her einen Hügel erreicht, wodurch ihre Trittfrequenz abnimmt. Sie versucht, kräftiger zu treten, doch ist der Berg zu steil, reicht auch das nicht. Um trotzdem noch gleichmäßig zu treten, muss sie einen Gang runterschalten und langsamer fahren. Oder sie steigt entnervt ab.

Ein großer Blackout könnte über Tage andauern

Ähnlich ist es im Stromnetz. In Großkraftwerken drehen Turbinen und Generatoren mit einer bestimmten Drehzahl, so dass Wechselstrom mit 50 Hertz erzeugt wird. Sinkt die Frequenz im Netz, heißt es: »Kräftiger treten!« Es wird mehr Dampf auf die Turbine gegeben, um gegen den Abfall anzukommen. Genügt das nicht, werden binnen einer halben Minute Reservekraftwerke zugeschaltet. Sollte auch das nicht helfen, greift die Strategie »Mach's dir leichter, schalte einen Gang runter«: Einzelnen Großkunden, mit denen entsprechende Verträge bestehen, wird der Strom abgestellt. In der Fachsprache klingt das sogar ein bisschen lustig, »vertraglicher Lastabwurf«, ist es aber nicht. Denn das Netz ist instabil und muss womöglich durch den nächsten Schritt, einen »automatischen Lastabwurf« gerettet werden. Analog zum Absteigen vom Rad werden nun regionale Teilnetze komplett abgeschaltet, um den übergeordneten Verbund zu entlasten und zu erhalten.

»In jedem Fall will man einen großen Blackout verhindern«, sagt Albert Moser vom Institut für Elektrische Anlagen und Netze, Digitalisierung und Energiewirtschaft an der RWTH Aachen. Denn der Stromausfall bringt neben den gesellschaftlichen Folgen, die in diversen Thrillern zu sehen sind, auch das Problem mit sich, das Netz wieder aufbauen zu müssen. »Viele Kraftwerke und auch das Netz brauchen selbst Strom, um zu funktionieren.« Für einen Neubeginn sind so genannte schwarzstartfähige Anlagen nötig, beispielsweise Wasserkraftwerke. »Dort muss, überspitzt formuliert, nur der Hahn aufgedreht werden, um die Turbine zum Laufen zu bringen«, sagt Moser. Schrittweise werden dann einzelne Netzknoten und Kraftwerke wieder zugeschaltet. »Es kann Tage dauern, bis alle wieder Strom haben.« Dieses Szenario gelte es unbedingt zu vermeiden und möglichst frühzeitig einzugreifen, wenn Störungen auftreten.

Mit dem herkömmlichen Energiesystem sei das noch vergleichsweise einfach, erklärt der Forscher. »Ein paar Großkraftwerke lassen sich leichter steuern als viele kleine Erzeuger«, wie sie vor allem durch den Ausbau der erneuerbaren Energien ans Netz gehen. Zudem stellen ihre gewaltigen Turbinen und Generatoren große rotierende Massen dar, die träge auf Veränderungen reagieren. »Dadurch gleichen sie Frequenzschwankungen über einige Sekunden automatisch aus.«

Die Energiewende belastet das Netz zusätzlich

Mit der Energiewende ändert sich das. Kern- und Kohlekraftwerke werden abgeschaltet, stattdessen speisen viele Wind- und Fotovoltaikanlagen ein – mal mehr, mal weniger, je nachdem, wie der Wind weht und die Sonne scheint. Hinzu kommt, dass der Strom mitunter über sehr weite Strecken transportiert wird, um etwa den Bedarf in den Ballungszentren Süddeutschlands mit Windenergie aus dem Norden zu decken. Immer häufiger müssen Netzbetreiber eingreifen und Kraftwerke hoch- oder runterfahren, um mit der so genannten Regelleistung das Netz stabil zu halten.

»Je weniger Großkraftwerke vorhanden sind, die zur Netzstabilisierung beitragen, umso nötiger sind Alternativen«, sagt Moser. In Frage kommen vor allem Batteriespeicher und Gaskraftwerke, die perspektivisch nicht mehr mit fossilem, sondern mit »grünem« Gas betrieben werden. Damit ist beispielsweise Wasserstoff gemeint, der mittels klimafreundlich erzeugten Stroms aus Wasser gewonnen wurde, oder Biomethan.

Technologisch hält der Wissenschaftler dies alles für machbar. »Ich sehe eher die Gefahr, dass die Politik nicht die nötigen Anreize schafft.« Denn auch die Betreiber eines solchen Gaskraftwerks, das als Lückenfüller gedacht ist, werden nur für den eingespeisten Strom bezahlt, ein Neubau rechne sich damit kaum. »Besser ist es, wenn solche Anlagen zuverlässig finanziert werden, denn wir werden sie dringend brauchen.«

Wie aufwändig es ist, den Stromfluss zu organisieren, schildert Markus Fürst, verantwortlich für die Systemführung beim Übertragungsnetzbetreiber TransnetBW. Waren vor Jahren noch dutzende Umspannwerke mit Personal besetzt, die per Telefon angewiesen wurden, diese oder jene Leitung zu schalten, so erfolgt die Steuerung heute zentral von der TransnetBW-Leitstelle in Wendlingen am Neckar. Die Fachleute versuchen, sich möglichst genau darauf einzustellen, was in den nächsten Stunden und Tagen im Netz passiert. Anhand von Daten der Stromhändler, Wetterdienste und benachbarter Netzbetreiber berechnen Fürst und seine Kollegen vorab, wie stark ihre Leitungen zu welcher Uhrzeit ausgelastet werden und wo vorausschauend zusätzliche Kraftwerksleistung bestellt oder gedrosselt werden muss, in Fachkreisen Redispatch genannt. Auch unerwartetes Verhalten der Verbraucher führt zu Abweichungen, die ausgeglichen werden müssen.

Neue Trassen für das neue Netz

»An gewöhnlichen Werktagen treffen die Energiehändler die Bedarfsprognosen ziemlich zuverlässig, rund um Feiertage wird es manchmal etwas anspruchsvoller«, sagt Fürst. Herrscht dann noch eine instabile Wetterlage, müssen die Prognosen für Fotovoltaik und Windkraft ständig aktualisiert und im Netz mit Regelleistung nachgesteuert werden. Zudem müssen die Experten Netzausbau und Wartungsarbeiten berücksichtigen, für die Teile des Netzes planmäßig abgeschaltet werden, und unvorhersehbare Störungen. »Bei allem arbeiten wir nach dem (n-1)-Kriterium«, sagt Fürst. Das heißt: Ein Netz aus n Komponenten darf selbst dann nicht zusammenbrechen, wenn es nur noch mit einer Komponente weniger läuft – etwa weil ein wichtiges Element, wie eine Leitung, plötzlich ausgefallen ist.

Eine geschickte Steuerung, Kraftwerksreserven und Batterien allein genügen aber nicht. Auch die Netze selbst müssen erheblich ausgebaut werden, um mit der steigenden Zahl an Einspeisern und Verbrauchern mithalten zu können, sagt Jutta Hanson vom Fachgebiet Elektrische Energieversorgung unter Einsatz erneuerbarer Energien an der TU Darmstadt. »Vereinfacht gesagt: Es nützt nichts, wenn ich eine Solaranlage auf dem Dach habe, aber die Batterie beim Nachbarn steht, denn dann muss ich das Netz trotzdem belasten.« Jedes Kabel könne nur eine bestimmte Menge an Energie transportieren, daher müsse ausgebaut werden – auf allen Ebenen, vom Höchstspannungsnetz bis zu den regionalen Verteilnetzen.

Hanson vergleicht das mit dem Verkehr. Um viel Windstrom von Norden nach Süden zu bringen, werden aktuell neue Leitungen gebaut, »Stromautobahnen«. Das hohe Verkehrsaufkommen muss aber auch in der Fläche verteilt werden, über Landstraßen. Und diese sollten genug Kapazitäten haben, falls eine Stromautobahn ausfällt und »gesperrt« werden muss.

Das Umspannwerk Wolmirstedt | Von hier in Sachsen-Anhalt aus soll eine 580 Kilometer lange Gleichstromtrasse nach Bayern gebaut werden. Mit diesem so genannten Sued-OstLink soll das Stromnetz für künftige Herausforderungen ertüchtigt werden.

Wo der Ausbau am dringendsten ist, haben die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber im Netzentwicklungsplan aufgeführt, dessen erster Entwurf Ende Januar veröffentlicht wurde. Er beschreibt keine konkreten Trassenverläufe, sondern verzeichnet den Übertragungsbedarf zwischen Netzknoten. Das heißt, es werden lediglich Anfangs- und Endpunkte von zukünftigen Leitungsverbindungen definiert.

Wo dann genau die Baufahrzeuge rollen, muss also noch geklärt werden. Jutta Hanson drängt darauf, dabei die Bevölkerung stärker einzubeziehen und für Akzeptanz zu werben. »Viele wollen Klimaschutz, aber nicht eine 380-Kilovolt-Freileitung hinter ihrem Garten.«

Zwangspausen für Abnehmer und Produzenten?

Und noch auf eine andere Weise dürften Bürgerinnen und Bürger mit der Sicherheit des Stromnetzes konfrontiert werden. Zu Jahresbeginn 2021 kursierte ein Gesetzentwurf, der vorsah, dass neue Anschlüsse wie E-Auto-Ladesäulen, Wärmepumpen und Stromspeicher zeitweise im Verbrauch gesenkt werden können oder sogar die Versorgung unterbrochen werden kann. So sollten Belastungsspitzen vermieden werden. Obwohl ein finanzieller Ausgleich vorgesehen war, gab es viel Kritik, und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier zog den Entwurf schließlich zurück. Vorerst.

Viele Fachleute empfehlen, die Möglichkeiten eines »Smart Grid« zu nutzen und Verbraucher – mittels Geld – zu animieren, verkraftbare Pausen hinzunehmen. Genau wie die Einspeiser, die ebenfalls bisweilen pausieren müssen, um eine Überlastung zu verhindern. Im Fall der Erneuerbaren gelangen auf Grund dieser so genannten Abregelung derzeit rund drei Prozent weniger Energie in die Netze, als die Erzeuger einzuspeisen in der Lage wären. Dank Digitalisierung soll diese Quote gleich bleibend niedrig gehalten werden, obwohl das Stromsystem immer komplexer wird. »Besonders die Verteilnetze müssen weitreichender automatisiert werden, um die wachsende Menge an variabler Erzeugung aus Erneuerbare-Energien-Anlagen effizient zu integrieren«, heißt es in der Stellungnahme »Resilienz digitaler Energiesysteme«. Sie wurde heute vom Akademieprojekt ESYS (Energiesysteme der Zukunft) veröffentlicht.

Digitale Netze schaffen neue Verwundbarkeiten

Darin warnen die Autorinnen und Autoren zugleich vor einer neuen Verwundbarkeit des Netzes »durch Lücken in der Cybersicherheit, fehlerhafte Software oder deren fehlerhafte Nutzung«. Der Hackerangriff, der im Dezember 2015 in der Ukraine einen Stromausfall herbeiführte, mache deutlich, welche Gefahren lauern, wenn die Netze vor allem durch Computer gesteuert werden. Diese neuen Bedrohungen müssten unbedingt bedacht und entsprechend vorgesorgt werden.

Die bereits bekannten Gefahren bestehen natürlich weiterhin. Sie reichen von Naturkatastrophen über Terrorakte und Pandemien, die zu Personalengpässen führen können, bis hin zu Sonnenstürmen. Dabei schleudert die Sonne massenhaft geladene Teilchen auf die Erde. Treffen diese hier auf die elektrische Infrastruktur am Boden, können sie darin Ströme induzieren, die wiederum Transformatoren in Stromnetzen zerstören können.

Der bisher stärkste beobachtete Sonnensturm traf die Erde im Jahr 1859. Damals erleuchteten Polarlichter die Nacht taghell, und die Telegrafie wurde empfindlich gestört. Im heutigen Strom- und Kommunikationsnetz wären die Folgen weitaus dramatischer.

Für verschiedenste solche Bedrohungen sorgen die Netzbetreiber vor. »Ein vollständiger Schutz vor allen Gefahren ist aber illusorisch«, sagt Albert Moser und vergleicht das Vorgehen mit dem Bau eines Deichs. Den baue man eben genau so hoch, dass er den meisten Hochwassern standhält. »Wenn es zu einem extrem seltenen Ereignis wie einer Jahrhundertflut kommt, reicht der Deich nicht mehr aus. Damit muss man dann leben.«

Mit den gewöhnlichen Belastungen hingegen scheinen die Betreiber klarzukommen. Pro Jahr ist jeder Verbraucher im Schnitt 10 bis 15 Minuten ohne Strom. Dieser Wert ist seit gut zehn Jahren gleich bleibend.

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