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Medikamententest in Frankreich: Todesfall bei klinischer Studie bleibt rätselhaft

Nach dem Tod eines Probanden und schweren gesundheitlichen Schäden bei weiteren Teilnehmern einer Phase-1-Studie bleibt die Ursache unklar. Über die Struktur des Wirkstoffs ist wenig bekannt, was die Aufklärung erschwert.
Geöffnete Pillenkapsel

Bei einem frühen klinischen Test eines in der Entwicklung befindlichen experimentellen Wirkstoffs ist einer der freiwilligen Probanden, der das Medikament eingenommen hatte, verstorben, fünf weitere liegen im Krankenhaus. Seitdem dies bekannt wurde – am 15. Januar – gelangen aber nur spärliche Informationen über die näheren Umstände ans Licht. Für Fachleute und die Öffentlichkeit bleibt somit unklar, was eigentlich genau vorgefallen ist.

Dabei reagierten "die Behörden in Frankreich nicht gerade schnell und transparent" auf Anfragen, meint Catherine Hill, eine Expertin für die Planung und Durchführung für klinische Medikamententests und früher selbst Mitglied des wissenschaftlichen Beratungsstabs der staatlichen französischen Zulassungsbehörde für Medizin- und Gesundheitsprodukte (ANSM). Ohnehin operierten die französischen Behörden bei der Untersuchung ähnlicher medizinischer Unfälle typischerweise zunächst eher im Verborgenen, so Hill.

Der tragische Versuch ereignete sich im Rahmen einer "klinischen Phase-1-Studie", bei der ein neues Medikament erstmals nach Tierversuchen an wenigen gesunden menschlichen Freiwilligen getestet wird, um mögliche schädliche Nebenwirkungen aufzudecken. Der Wirkstoff, produziert von der portugiesischen Pharmafirma Bial, sollte gegen Angststörungen und motorische Probleme wirken, wie sie beispielsweise bei einer Parkinsonerkrankung auftreten; und außerdem die chronische Schmerzen lindern, die Alzheimerdemenz-, Krebs- und andere Patienten erdulden müssen. Die Forschungseinrichtung Biotrial im französischen Rennes war mit der Durchführung der Versuche beauftragt worden.

Nach dem Unglück bleiben nun wichtige Fragen ungeklärt, fasst Marc Rodwin zusammen, der als Jurist und Experte für biomedizinische Rechtsfragen an der Suffolk University lehrt. Zum Beispiel ist unklar, was genau die tiefen nekrotischen und hämorrhagischen Hirnverletzungen verursacht hat, die bei Untersuchung der Betroffenen im Magnetresonanztomografen deutlich wurden. Ebenso ungeklärt ist, ob die Experimente protokollgemäß durchgeführt worden sind.

Enzyme aus dem Gehirn

Besonders hinderlich für eine genauere Aufarbeitung ist, dass weder die französischen Behörden noch die Firma Biotrial bisher öffentlich gemacht hat, welche Moleküle genau getestet worden sind. Bial gab bekannt, dass es sich beim Wirkstoff um einen Inhibitor einer Fettsäureamidohydrolase (FAAH) handelte. Dieses Enzym wird im Gehirn und in anderen Geweben von den Körperzellen produziert und baut Endocannabinoid-Neurotransmitter ab. Wird es blockiert, so sammeln sich mehr Endocannabinoide an, was ihre Wirkung verstärkt. Die Neurotransmitter aktivieren die gleichen Rezeptoren, die etwa auch von Cannabisinhaltsstoffen angesteuert werden. Die Hemmung des Enzyms könnte eine schmerzstillende Wirkung nach sich ziehen.

In den vergangenen Tagen haben verschiedene Forscher versucht, Genaueres über den getesteten Wirkstoff herauszufinden – unter anderem Stephen Alexander, der als Pharmakologe an der University of Nottingham beschäftigt ist und seit 15 Jahren über FAAH-Enzyme forscht. Zusammen mit seinem Kollegen Christopher Southan von der University of Edinburgh haben sie die online einsehbare Liste der verschiedenen Wirkstoffe unter die Lupe genommen, die bei der Pharmafirma in der Medikamenten-Entwicklungspipeline warteten.

Nur zwei Substanzen waren aktuell in einem klinischen Phase-1-Test – und nur eines der beiden (mit dem Kodenamen BIA 10-2474) erfüllt gut das Anforderungsprofil an das von Bial angestrebte therapeutische Endziel. Französische Journalisten haben zudem das Rekrutierungsformular für die Probanden aufgespürt, auf denen eben dieser Kodename auftaucht. "Nach unserem derzeitige Wissensstand ist diese Substanz nirgendwo in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben", meint Alexander: "Wir stochern also im Nebel."

"Wir stochern im Nebel"Stephen Alexander

Pharmafirmen geben typischerweise keine Informationen über die molekulare Struktur eines Wirkstoffs preis, der sich in einer noch sehr frühen Phase der Medikamentenentwicklung befindet – ein Vorgehen, das von Forschern kritisch gesehen wird. "Kodenamen für Medikamentenkandidaten dienen dazu, deren Struktur zu verschleiern", erklärt Southan. "Das sollte man meiner Meinung nach ändern." Die Folge des üblichen Prozedere war in den letzten Tagen zu beobachten, als Experten auf der Basis der Bial-Firmenpatente über die wahrscheinliche Struktur des Wirkstoffs spekulierten, so Southan – während im offiziellen Register für klinische Tests gar kein Eintrag über die Substanz zu finden war.

Radioaktive Marker

Gleich einige Pharmafirmen arbeiten derzeit an der Entwicklung von FAAH-Inhibitoren – auf dem Markt ist allerdings noch keiner, weil sie sich in den meisten Tests als wenig wirksam erwiesen haben. Aber: Die bisher getesteten haben sich jedenfalls als gesundheitlich unbedenklich bestätigt.

Im Bezug auf BIA 10-2474 glauben die meisten Forscher an eine "off-target"-Wirkung: dass die Substanz also auf eine unerwartete andere Zielstruktur wirkt, zum Beispiel ein anderes Enzym neben FAAH hemmt. Man kann experimentell überprüfen, welche Proteine noch mit dem Wirkstoff interagieren, indem die Verbindung radioaktiv markiert und anschließend mitsamt den verschiedenen Bindungspartnern herausgefischt wird, etwa aus dem Hirngewebe eines Toten. Die molekulare Struktur zu kennen würde anderen, unabhängigen Teams helfen, im Computer Vorhersagen über solches Bindungsverhalten und mögliche toxischen Nebenwirkungen zu modellieren: Dafür, so Southan, stünde immerhin "eine ganze Palette hoch entwickelter Computertechniken für alle möglichen analytischen Fragestellungen" parat.

Unabhängige Teams könnten auch genauer herausarbeiten, ob das FAAH-Stoffwechselgeschehen den Inhibitoren Potenzial bietet, an etwas anderes zu binden als an die eigentliche Zielstruktur. "Ziemlich sicher hätten alle universitären und privatwirtschaftlichen Experten ein großes Interesse an Forschung über die Ursachen möglicher Off-Target-Effekte und Nebenwirkungen", sagt Alexander.

Der Mangel an Transparenz sei typisch für die Aufarbeitungskultur in Frankreich – dort tendierten die Verantwortlichen dazu, Missstände eher im Verborgenen aufzuklären, bis endgültige Schlussfolgerungen gezogen werden könnten, erklärt ein Experte für Medizinrecht aus Frankreich, der nicht namentlich genannt werden möchte. Die Richtlinien für medizinische Tests in Frankreich seien streng und böten den freiwilligen Teilnehmern ein hohes Maß an Sicherheit. Sicherheitsbedenkliche Vorfälle seien auch weitgehend unbekannt – tatsächlich würde die Zulassung durch Medikamente durch diese Prozedere sogar oft deutlich verzögert.

In den letzten Jahren gab es in Frankreich zwei Gesetzesänderungen, die die Zulassung von Wirkstoffen zu medizinischen Tests betrafen. So erhöhten die Behörden etwa die Sicherheitsanforderungen, nachdem 2009 ein Diabetesmedikament unter Verdacht geraten war, hunderte Todesfälle verursacht zu haben. Besonders das Sunshine-Gesetz von 2011 hat den Rahmen deutlich enger gefasst, in dem sich Experten mit möglichen Interessenkonflikten bewegen, bevor ein Medikament in Frankreich zugelassen werden kann; zudem erhöhte sich die Zahl der angeforderten Sicherheitsüberprüfungen nach der Zulassung. Im Jahr 2012 verabschiedete das französische Parlament ein weiteres Gesetz, das die Verfahrensprozesse verschlanken sollte, um klinische Forschung mit menschlichen Freiwilligen im Land für die Pharmabranche attraktiver zu machen.

Im aktuellen Fall, so Hill, war beim Test von BIA 10-2474 möglicherweise besonders bedenklich, dass alle sechs Teilnehmer gleichzeitig ihre Medikamentendosis erhalten haben – anstatt nacheinander, um so mögliche negative Auswirkungen erst einzeln an den Kandidaten abwarten zu können. Eben dieses simultane Vorgehen war schon als eine Hauptursache für den katastrophalen Medikamententest ausgemacht worden, der 2006 in England bei freiwilligen Teilnehmern zu Multiorganversagen geführt hat. "Aus diesem Fall hatte zumindest ich den Schluss gezogen, dass es ein großer Fehler war, an einem Tag der Phase-1-Studie mehrere Teilnehmer mit identischen Dosen zu testen", fasst Hill zusammen.

Gegenüber "Nature" meint Jean-Marc Gandon, leitender Vorstand von Biotrial, er könne auf die aufgeworfenen Fragen nicht zeitnah antworten, im Augenblick sei wichtiger, das Leben der Testteilnehmer zu retten. Das Unternehmen werde sich aber zu einem späteren Zeitpunkt einbringen. Eine Sprecherin von Bial, Susana Vasconcelos, teilt mit, die Versuche seien "in Übereinstimmung mit allen gängigen internationalen Praxisrichtlinien durchgeführt worden, nachdem alle Tests und präklinischen Versuchsphasen erfolgreich durchlaufen waren". Das Unternehmen sei zudem entschlossen, "mit aller Gründlichkeit und allem Nachdruck die zu Grunde liegenden Ursachen für den Vorfall aufzuklären".

Bisher bekannte Fakten über den Medikamententest

  • Am Versuch nahmen 128 gesunde Freiwillige im Alter zwischen 18 und 55 Jahren teil, die dafür 1900 Euro erhalten haben.
  • 90 Teilnehmer nahmen den Wirkstoff in unterschiedlichen Dosen zu sich, der Rest ein Placebo.
  • Im Versuch wurde die Dosis bei jeder individuellen Wirkstoffgabe nach und nach erhöht, wobei keine schädliche Nebenwirkung aufgefallen ist.
  • Die sechs erkrankten Teilnehmer waren die ersten, die mehrmals hintereinander an aufeinander folgenden Tagen eine höhere Dosis erhalten hatten.
  • Der erste Teilnehmer erkrankte am 10. Januar und starb am 17. Januar.
  • Biotrial stoppte den Versuch am 11. Januar, die fünf anderen Teilnehmer wurden ins Krankenhaus gebracht und erkrankten in den kommenden Tagen.
  • Einer dieser Patienten erholte sich und konnte entlassen werden, der Zustand der anderen ist ernst, aber stabil.
  • Die Behörden haben sich mit den 84 anderen Personen in Verbindung gesetzt, die niedrigere Dosen der Substanz erhalten hatten; sie werden nun einem medizinischen Check unterzogen. Bei 18 zunächst erfolgten neurologischen Untersuchungen sind vorerst keine Symptome wie jene aufgefallen, die bei den ernsthaft Erkrankten auftreten.

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