Traumatherapie: Kindheit im Krieg
Seit Monaten sind die Nachrichten voll von Meldungen aus den Kriegsgebieten wie dem Gazastreifen und der Ukraine. Immer wieder sehen wir schreckliche Szenen von all den Leben, die ausgelöscht oder zerstört werden. Aber das ist nur ein kleiner Teil dessen, was weltweit passiert. In vielen Ländern ist Krieg längst ein Dauerzustand – wir bekommen es nur kaum mehr mit. Für alle Menschen sind Gewalt, Angst und Unsicherheit furchtbar, ganz besonders aber für Kinder und Jugendliche, die noch keine Bewältigungsmechanismen dafür entwickeln konnten. Umso schlimmer, dass laut der Kinderhilfsorganisation UNICEF über 400 Millionen Kinder in Ländern leben, in denen Krieg oder andere gewalttätige Konflikte zum Alltag gehören.
Wie sich das genau auf die kindliche Entwicklung auswirkt, haben bereits einige Studien untersucht. Je besser man die Folgen versteht, desto eher kann man helfen, so jedenfalls die Überlegung. Allerdings beziehen sich die meisten Analysen nur auf bestimmte Länder und Konflikte und lassen sich nicht unbedingt auf andere übertragen.
»Was Krieg oder auch Flucht für ein Kind und seine Gesundheit bedeuten, kann ganz unterschiedlich sein«, erklärt Hanna Christiansen, Leiterin der Klinischen Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Marburg. »Welche traumatischen Erfahrungen genau hat es gemacht? Verlor es Angehörige auf Grund des Kriegs? Musste es seine Heimat verlassen, vielleicht sogar allein? Unbegleitet sind Heranwachsende größeren Gefahren ausgesetzt – je jünger, desto schwieriger ist es.« Sind Erwachsene dabei, komme es sehr auf deren Verhalten und psychischen Zustand an. »Strahlen diese Sicherheit aus, können die Kinder die Lage eher bewältigen.« Aber oft sind die Begleitenden selbst traumatisiert und daher nicht dazu in der Lage.
Gefahren für Leib und Seele
In akuten Kriegssituationen geht es oft zunächst um die körperliche Gesundheit. Werden etwa die Lebensmittel knapp, sind Kinder in der Regel als Erstes von Unterernährung betroffen. Dadurch werden sie anfälliger für Erkrankungen, wenn sie nicht sogar verhungern. Hinzu kommen diverse ansteckende Erkrankungen wie Tuberkulose, Hepatitis B oder die Masern. Letztere drohen laut den italienischen Gesundheitswissenschaftlern Davide Orsini und Mariano Martini derzeit in der Ukraine. Bereits zwischen 2017 und 2019 hatte es dort eine Masernepidemie gegeben, begünstigt durch eine niedrige Impfrate von 42 Prozent.
Seitdem haben sich zwar wesentlich mehr ukrainische Familien impfen lassen; im Jahr 2021 lag die Quote bei 88 Prozent. Nun aber, durch den Krieg, gehen die Zahlen wieder zurück. Das lässt Orsini und Martini eine neue Epidemie befürchten, die unter den gegebenen Umständen noch folgenreicher ausfallen könnte als die vorherige. In Afghanistan hingegen gibt es immer wieder Ausbrüche des Polio-Virus, das Kinderlähmung hervorruft. Fast überall sonst auf der Welt gilt es als ausgerottet.
Hilfsorganisationen versuchen, so viele Kinder wie möglich gegen solche Erkrankungen zu impfen. Doch gerade in Kriegsgebieten gestaltet sich das schwierig. Zudem begünstigt verschmutztes Wasser verschiedene Infektionskrankheiten. Der schlechte Zugang zu den Gesundheitssystemen führt außerdem dazu, dass auch etwa Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen nicht schnell genug oder ausreichend behandelt werden, ganz zu schweigen von Verletzungen durch Bomben, Schusswaffen oder Landminen.
»Wer wochen- oder monatelang zu Fuß durch mehrere Länder fliehen musste, hat in der Regel so viel erlebt, dass er eine PTBS entwickelt«Hanna Christiansen, Psychologin
Mindestens genauso schwer wiegen jedoch die psychischen Probleme, die als Folge des permanenten Stresses und akuter Traumata entstehen. »Verschiedene Stressoren treffen dabei aufeinander«, sagt Claudia Catani, Psychotherapeutin und Professorin für Klinische Psychologie an der Universität Bielefeld. So hat der Krieg oft eine ganze Reihe Belastungen im Schlepptau: »Die Kinder können nicht mehr in die Schule gehen und verlieren damit ihre soziale Struktur. Die Gesundheitsversorgung bricht weg, sie verlieren Angehörige, werden vielleicht sogar zu Halbwaisen oder Waisen.«
Besonders häufig führen solche Situationen zu einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Betroffene sind im Alltag oft stark beeinträchtigt, schreckhaft, leicht reizbar, können sich schlechter konzentrieren und haben teils schwere Schlafstörungen. Allerdings entwickeln nicht alle Menschen nach traumatischen Ereignissen eine PTBS. In der Ukraine befragte ein Team sechs Monate nach der Kriegseskalation, im August 2022, Eltern zum psychischen Zustand ihrer Kinder. Demnach erfüllten fast 18 Prozent der Vorschulkinder und rund 13 Prozent der Schulkinder die Kriterien für eine PTBS.
Wer eine psychische Erkrankung entwickelt und wer sich ohne professionelle Hilfe vom Trauma erholt, ist schwer vorherzusagen. Es gibt jedoch einige Risikofaktoren: Laut der Studie in der Ukraine etwa zeigten Kinder eher Symptome einer psychischen Störung, wenn mindestens ein Elternteil den Rettungsdiensten oder der Armee angehörte.
Die Rolle der Bezugspersonen
Die mentale Verfassung der direkten Bezugspersonen beeinflusse die Kinder sehr, sagt Claudia Catani. So komme es in Kriegszeiten deutlich öfter zu häuslicher Gewalt: »Wenn in einem Krieg die ganze Familie traumatisiert ist, sind die Betroffenen häufig nicht in der Lage, sich umeinander zu kümmern.« Das äußert sich manchmal auch in ungünstigen Erziehungsmustern; die Eltern würden etwa schneller aggressiv oder ungehalten – ein Teufelskreis, der zu einer weiteren Traumatisierung des Kinds führen kann.
»In akuten Gewaltsituationen geht es ums Überleben und um ganz basale Dinge wie Nahrung«, sagt Hanna Christiansen. »Oft funktionieren Menschen in solchen Situationen sehr gut, da ist das Fight-oder-Flight-System angesprochen. Aber später kommen die Flashbacks.« Hält der Konflikt im Land länger an, brauchen die Menschen psychische Unterstützung – selbst wenn vielleicht an ihrem eigenen Wohnort gerade keine Bombardierung oder andere Kriegshandlungen stattfinden. Das können die Strukturen in den betroffenen Ländern jedoch meist nicht leisten. In der Ukraine etwa ist die Versorgung psychischer Erkrankungen unterfinanziert, mit zu wenigen gut ausgebildeten Fachkräften und häufig schlechter Qualität der angebotenen Möglichkeiten.
In Afghanistan sieht es noch kritischer aus. Dort sind psychische Erkrankungen schon lange stigmatisiert. Die meisten Betroffenen wagen es vermutlich gar nicht, sich Hilfe zu suchen. Gleichzeitig führten die einbrechende Wirtschaft und die allgemeine Armut dazu, dass die Prioritäten auf anderen Gebieten liegen.
Solche Probleme bleiben häufig, wenn ein Krieg zu Ende ist. Die fehlenden Strukturen sind nicht so schnell wieder aufgebaut. Sogar Kinder, die den Krieg selbst gar nicht mehr miterlebt haben, leiden oft unter den Auswirkungen. Man spricht dann von einem generationenübergreifenden Trauma. Das erkannten Forschungsteams erstmals bei den Nachkommen von Holocaust-Überlebenden und in einer Studie von 2023 einmal mehr bei Familien im Kosovo: Albanische Minderjährige, die nach dem Kriegsende im Juni 1999 geboren wurden, haben oft erhebliche PTBS-Symptome.
Eine aktuelle Untersuchung von Forschern um Sahar Obeid von der Lebanese American University mit Kindern und deren Vätern, die im Bürgerkrieg im Libanon (1975–1990) gekämpft hatten, kam zu einem ähnlichen Schluss. Das Trauma der erlebten Gräuel hat sich übertragen und es belastet die Nachfolgegeneration mit schwer wiegenden Problemen, von emotionalen Regulationsstörungen bis hin zu einer auffälligen Gefühlskälte.
Was kommt nach der Flucht?
Auch nach der Flucht aus einem Kriegsgebiet in ein sicheres Land endet der Schrecken nicht automatisch. »Wer wochen- oder monatelang zu Fuß durch mehrere Länder fliehen musste, hat in der Regel so viel erlebt, dass er eine PTBS entwickelt«, sagt Hanna Christiansen. Nach Einschätzung von Claudia Catani erfüllen unter den geflüchteten Kindern in Deutschland ungefähr ein Fünftel die Kriterien einer Posttraumatischen Belastungsstörung.
Als sicheres Land mit vielen Ressourcen hat Deutschland eine politische Verantwortung, Geflüchteten zu helfen – das sieht auch das Bundesinnenministerium so und schreibt auf seiner Website: »Die Bundesregierung betrachtet es als ihre humanitäre und völkerrechtliche Verpflichtung, Menschen in Not schnell und unbürokratisch zu helfen.« Doch so einfach ist das nicht. Bereits die Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften gelingt oft nur schwer. Dazu kommt die Ungewissheit: »Familien aus der Ukraine haben immerhin erst mal ein Bleiberecht«, sagt Christiansen. Für viele andere Geflüchtete dagegen stelle sich in langwierigen Asylverfahren immer die Frage, ob sie vielleicht wieder abgeschoben werden. »Das ist eine sehr belastende Zeit; und die Unsicherheit kommt als weiterer Stress zum bisher erlebten Trauma hinzu.«
Eine sichere Umgebung ist die erste und wichtigste Voraussetzung für das Wohl der geflüchteten Minderjährigen. »Danach sollten wir dafür sorgen, dass die Kinder ausreichend schlafen, essen und trinken«, so Christiansen. Denn auch körperliche Mangelzustände können die traumatischen Erfahrungen wiederaufleben lassen.
»Die psychotherapeutische Versorgung für Geflüchtete ist eine Katastrophe«Claudia Catani, Psychologin
Positiv wirken Ziele und das Gefühl, die Dinge selbst in der Hand zu haben. »Alles, was eine Perspektive schafft, hilft: Schule, später ein Beruf, das Gefühl, hier irgendetwas leisten zu können«, sagt Catani. Tatsächlich berichten Menschen aus der Ukraine, die jetzt in Italien leben, dass – neben spirituellem Glauben, sozialer Unterstützung und erlebter Menschlichkeit – das Gefühl, etwas tun zu können, ihre größte emotionale Stütze darstellt.
Kinder erholen sich zudem besser von den traumatischen Erfahrungen, wenn ihnen ein warmes, stabiles familiäres Umfeld ermöglicht wird und sie sich in der Schule von den Lehrkräften und den Gleichaltrigen angenommen fühlen. Somit können die Menschen in den Aufnahmeländern bereits viel bewirken, indem sie offen und herzlich mit ihnen umgehen.
Die Trauma-Spirale unterbrechen
Dennoch benötigt rund ein Fünftel der Geflüchteten eine psychotherapeutische Begleitung. »Kinder mit einer unbehandelten PTBS könnten zwar irgendwann auch heilen, wären in der Zwischenzeit aber nicht funktionsfähig – schon gar nicht so, wie es ein leistungsorientiertes Land wie Deutschland erwartet«, sagt die Psychologin Catani.
Funktionsfähig – damit ist zum Beispiel gemeint, in der Schule mitzuarbeiten oder Freundschaften aufzubauen. Bereits 2018 hatte sie in einer Publikation auf besondere Belastungen traumatisierter Kinder hingewiesen: Die schlimmen Erfahrungen führen häufig zu Verhaltensproblemen wie Aufmerksamkeitsdefiziten, Schwierigkeiten in der Gefühlsregulation bis hin zu Wutausbrüchen, mit denen wiederum die Familie oder Lehrkräfte nicht umgehen können. Dann verhält sich das Umfeld unter Umständen ungünstig. Eltern versuchen es mit strengeren Erziehungsmethoden, in der Schule gibt es Strafen, und die Gleichaltrigen wenden sich ab, was das Kind noch mehr belastet.
Über das Erlebte sprechen
Psychotherapeutische Interventionen wie die Narrative Expositionstherapie (NET), eine Abwandlung der traumafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie, könnten solche Abwärtsspiralen verhindern. »Es geht darum, mit den Patienten und Patientinnen über die belastenden Erinnerungen zu sprechen. So können sie die Erfahrung machen, dass es ›nur‹ Gedanken sind und sie im Hier und Jetzt sicher sind«, erklärt Hanna Christiansen. In der Therapie schreibe man dabei die traumatische Geschichte auf, aber auch die Zeit vorher und danach. Dadurch lernten die Betroffenen, die Erinnerungen besser zu kontrollieren.
Die NET gilt als Goldstandard bei der Behandlung von erwachsenen Geflüchteten mit einer PTBS. Um zu untersuchen, wie machbar und hilfreich eine NET speziell für geflüchtete Kinder in Deutschland ist, beteiligt sich Claudia Catani an einer noch laufenden, kontrollierten Behandlungsstudie.
Für die meisten Betroffenen ist es sehr schwierig, einen Termin in einer psychotherapeutischen Praxis zu bekommen, ganz zu schweigen von einer passgenauen Therapie. »Auch deutsche Kinder warten teilweise ein Jahr auf eine Psychotherapie«, sagt Catani. Da sei es nicht überraschend, wenn die Forderung nach schneller zugänglichen Therapieplätzen für Geflüchtete bei manchen Einheimischen eine Abwehrhaltung hervorrufe.
Hinzu kommt die Sprachbarriere. Für das Dolmetschen gibt es kein Budget, selbst wenn die Kosten der eigentlichen Therapie übernommen werden. Findet sich dennoch jemand, verkompliziert die Übersetzung den Therapieprozess, erhöht die Behandlungsdauer und entsprechend auch die finanziellen Anforderungen. Kurz gesagt: »Die psychotherapeutische Versorgung für Geflüchtete ist eine Katastrophe«, resümiert Claudia Catani.
Welche Kinder brauchen eine Therapie?
Ideen zur Verbesserung gibt es immerhin. So könnte man beispielsweise schnell und möglichst unkompliziert filtern, welche Kinder überhaupt eine Therapie benötigen. Dafür eignen sich laut Catani so genannte »Screen-and-treat«-Programme. In diesem Zusammenhang sollten am besten Menschen mit einem ähnlichen sprachlichen und kulturellen Hintergrund dazu ausgebildet werden, die Kinder in Schulklassen oder Aufnahmeeinrichtungen anhand kurzer psychologischer Screenings einzuschätzen. Damit lassen sich diejenigen erkennen, die zumindest einmal ein Gespräch mit einer Therapeutin oder einem Therapeuten führen sollten. »Das würde Kapazitäten frei machen – aber so ein Ansatz wird gar nicht verfolgt«, bedauert die Professorin.
Ein Strukturproblem
Einen weiteren Vorteil des Screenings erklärt Hanna Christiansen: »Es hat sich gezeigt, dass es teils sogar schaden kann, über traumatische Erlebnisse zu sprechen, wenn noch keine psychische Erkrankung vorliegt.« Denn dann könne die Beschäftigung mit dem Erlebten dazu führen, dass sich erst recht eine PTBS entwickelt. Insofern wäre eigentlich klar, was Geflüchtete bei ihrer Ankunft in einem anderen Land benötigen: eine sichere Umgebung, ausreichend Schlaf und Nahrungsmittel, sinnvolle Perspektiven, eine schnelle Einschätzung der psychischen Bedürfnisse und – sofern nötig – einen Behandlungsplatz in einer psychotherapeutischen Praxis. Das alles klingt machbar, scheitert aber an den Strukturen.
Organisationen wie die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) oder die Marburger Arbeitsgruppe unter Hanna Christiansens Leitung versuchen, den Familien zumindest mit Informationsmaterial zu helfen, etwa mit erklärenden Filmen und Broschüren in verschiedenen Sprachen. Angesichts der unzähligen Konflikte weltweit sowie der Klimaerwärmung müssen wir in den kommenden Jahren mit vielen weiteren Flüchtenden rechnen. Es wäre nun also an der Zeit, die strukturellen Hürden anzupacken, damit wir diejenigen Kinder und Jugendlichen besser unterstützen können, die furchtbare Dinge erlebt haben und künftig noch erleben werden.
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