News: Unordnung durch Umordnung
Die Wissenschaftler untersuchten ausgewachsene Affen, die erhebliche Wirbelsäulenverletzungen erlitten oder denen man aus therapeutischen Gründen einen Arm abnehmen musste. Die Großhirnrinde der Primaten ist weniger stark gewunden als die der Menschen. Daher sind die Regionen, in denen die Informationen aus Armen, Händen, Gesicht oder anderen Bereichen des Körper eintreffen, bei ihnen leichter zu lokalisieren. Die Forscher entdeckten, dass die mit der Hand verbundenen Hirnareale direkt neben den Regionen liegen, die Signale aus dem Gesicht erhalten. "Das menschliche Gehirn ist auf die gleiche Weise organisiert", erläutert Jain. "Personen, die einen Arm verloren haben, berichten häufig, dass sie, wenn sie im Gesicht berührt werden, Signale von der fehlenden Gliedmaße bekommen."
Um zu bestimmen, wie das Gehirn der Affen auf den schweren Verlust reagiert, injizierten die Wissenschaftler eine Indikatorsubstanz in das Kinn der Versuchstiere. Bei der Untersuchung der Gehirne konnte die Substanz nicht nur in den mit dem Kinn assoziierten Arealen nachgewiesen werden, sondern auch in den Bereichen, die Informationen von Händen und Armen erhalten. Offenbar programmiert das Gehirn Areale um, die keine nützliche Funktion mehr haben, wenn die Informationen aus den assoziierten Gliedmaßen ausbleiben.
Um die Frage zu klären, ob neuronales Wachstum an diesem Prozess beteiligt ist, betrachteten die Forscher das Stammhirn der untersuchten Tiere genauer. Dabei konnten sie beobachten, dass Neuronen aus der "Gesichtsregion" Axone ausbildeten, die Kontakte zur "Handregion" herstellten. Obwohl die Anzahl dieser Verbindungen nicht sehr hoch war, reichte sie doch aus, um Nervenzellen des mit der Hand assoziierten Areals zu aktivieren. "Das zeigt, dass das Gehirn nicht still steht, sondern in der Lage ist, auf gravierende Veränderungen zu reagieren", meint Jain.
Diese Entdeckung ist auch für Patienten mit erheblichen Wirbelsäulenschäden tröstlich, deren Leiden eines Tages eventuell durch gezielte Förderung des regenerativen Wachstums von Neuronen behoben werden kann. Außerdem hoffen die Wissenschaftler, "dass die neuen Einsichten, Wege zur Behandlung des Phantomglied-Syndroms zeigen."
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 20.5.1999
"Prothesen parieren Phantomschmerzen"
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum der Wissenschaft 3/96, Seite 16
"Entsteht Phantomschmerz durch Reorganisation der Signalleitung im Gehirn?"
(nur für Heft-Abonnenten online zugänglich)
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