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Kosmologie: Vermisste Materie gefunden

Jahrzehntelang waren die Astronomen nicht in der Lage, sämtliche atomare Materie im Universum zu finden. Nun glauben sie zu wissen, wo sie sich versteckt hält.
Simulation der Verteilung heißer Materie zwischen den Galaxien

Astronomen haben endlich einen Teil des Universums aufgespürt, den sie schon lange gesucht haben. Als die Forscher Mitte der 1990er Jahre die »gewöhnliche« Materie im Kosmos – Sterne, Planeten und Gas; also alles, was aus Atomen besteht – inventarisierten, stellten sie fest, dass von einem Teil davon jede Spur fehlt. Experten werden sofort an die »Dunkle Materie« denken – aber sie ist hier nicht gemeint.

Die fehlende gewöhnliche Materie ist ein völlig eigenständiges Rätsel: Astrophysiker hatten auf der Grundlage theoretischer Untersuchungen, wie seit dem Urknall Materie entstanden ist, eine klare Erwartung, wie viele Sterne, Planeten und Gas sie in den Weiten des Alls finden würden. Auch eine Untersuchung des kosmischen Mikrowellenhintergrunds (cosmic microwave background, CMB) – des Restlichts des Urknalls – deutete klar in diese Richtung.

Also addierten die Wissenschaftler alles, was sie mit Teleskopen sehen konnten – Sterne und Gaswolken und dergleichen, alle so genannten Baryonen. Diese summierten sich jedoch nur etwa auf zehn Prozent dessen, was die Forscher erwartet hatten. Und als sie bedachten, dass die gewöhnliche Materie lediglich 20 Prozent aller Materie im Universum ausmacht – der Rest entfällt auf die Dunkle Materie –, hatten sie sogar nur zwei Prozent aller Materie im Universum inventarisiert.

Jetzt, im Rahmen von drei neuen Forschungsarbeiten, haben die Astronomen die restliche gewöhnliche Materie im Universum aus ihrem Versteck gelockt. Und obwohl es so lange gedauert hat, sie zu identifizieren, entdeckten die Forscher sie genau dort, wo sie sie schon immer erwartet hatten: in ausgedehnten Filamenten aus heißem Gas, welche die sonst leeren Zwischenräume von Galaxien überspannen. Astronomen nennen dies das warme und heiße intergalaktische Medium (warm hot intergalactic medium, WHIM).

Simulationen weisen den Weg

Erste Hinweise darauf, dass es zwischen den Galaxien große Bereiche von praktisch unsichtbarem Gas geben könnte, stammen aus Computersimulationen aus dem Jahr 1998. »Wir wollten sehen, was mit dem ganzen Gas im Universum passiert«, sagt Jeremiah Ostriker, ein Kosmologe an der Princeton University, der zusammen mit seinem Kollegen Renyue Cen eine dieser Simulationen konstruierte. Die beiden führten Simulationen von Gasbewegungen im Universum durch, die durch Gravitation, Licht, Supernova-Explosionen und alle Kräfte, die Materie im Raum bewegen, ausgelöst wurden. »Wir kamen zu dem Schluss, dass sich das Gas in Filamenten anreichern wird, die wir beobachten könnten«, sagt er. Aber zunächst tauchte keine Spur dieser kosmischen Strukturen auf.

»Es war von Anfang an klar, dass viele der Baryonen in einer heißen, diffusen Form vorliegen würden – nicht in Galaxien«, sagt Ian McCarthy, Astrophysiker an der Liverpool John Moores University. Die Astronomen erwarteten, dass diese heißen Baryonen in einem kosmischen Überbau aus unsichtbarer, dunkler Materie eingebettet sein würden, der die immensen Leerräume zwischen den Galaxien überspannt. Die Gravitation der Dunklen Materie würde das Gas zu sich ziehen und es auf Millionen Grad erhitzen. Leider ist heißes, diffuses Gas extrem schwer zu finden.

Mikrowellenhintergrund | Der kosmische Mikrowellenhintergrund ist ein Schatz für Kosmologen: Winzige Schwankungen in der Strahlungstemperatur (gelbe und blaue Flecken) verraten Experten, wie das Weltall 380 000 Jahre nach dem Urknall aussah.

Einige Forscherteams suchten trotzdem danach und fanden immerhin Teile der fehlenden Materie. Bis 2014 hatten die Astronomen rund 70 Prozent davon identifiziert. Aber 30 Prozent fehlten noch. Um die versteckten Filamente ausfindig zu machen, suchten zwei unabhängige Teams nach Verzerrungen im CMB, dem Nachglühen des Urknalls. Wenn dieses Licht aus dem frühen Universum durch den Kosmos strömt, kann es von den Regionen, die es durchquert, beeinflusst werden. Insbesondere sollten die Elektronen in heißem, ionisiertem Gas (wie dem WHIM) mit den Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung auf eine Weise interagieren, die den Photonen zusätzliche Energie verleiht (Experten sprechen vom so genannten Sunyaev-Zel'dovich-Effekt). Das Spektrum der CMB sollte dadurch verzerrt werden.

Leider zeigten die besten Karten des CMB, die der Planck-Satellit erstellt hat, keine solchen Verzerrungen. Entweder war das Gas nicht da, oder der Effekt war zu klein, um klar erkennbar zu sein. Doch die beiden Forscherteams waren entschlossen, sie sichtbar zu machen. Aus immer detaillierteren Computersimulationen des Universums wussten sie, dass sich Gas zwischen massiven Galaxien wie Spinnweben über eine Fensterbank erstrecken sollte. Planck konnte das Gas zwischen zwei Galaxien nicht sehen. Nun fanden die Forscher eine schlaue Methode, das schwache Signal millionenfach zu verstärken.

Ein Stapel von einer Million Galaxienpaaren

Zuerst suchten die Astrophysiker in Katalogen bekannter Galaxien nach geeigneten Galaxienpaaren: Galaxien, die ausreichend massereich waren und sich im richtigen Abstand befanden, um ein relativ dickes Spinnennetz aus Gas zwischen ihnen zu erzeugen. Dann gingen die Astrophysiker zurück zu den Planck-Daten und identifizierten, wo sich jedes Galaxienpaar befand, und schnitten dann diesen Bereich des Himmels mit einer »digitalen Schere« aus.

Mit mehr als einer Million Ausschnitten in der Hand (im Fall der Studie von Anna de Graaff, einer Doktorandin an der University of Edinburgh) drehten sie jeden einzelnen und zoomten hinein oder heraus, so dass alle Galaxienpaare in der gleichen Position zu sein schienen. Dann stapelten sie eine Million Galaxienpaare übereinander. (Eine Gruppe unter der Leitung von Hideki Tanimura am Institut für Weltraumastrophysik in Orsay, Frankreich, kombinierte 260 000 Galaxienpaare.) Damit wurden die einzelnen Stücke – geisterhafte Fäden aus diffusem, heißem Gas – plötzlich sichtbar.

Doch die Methode hat ihre Tücken. Die Interpretation der Ergebnisse, sagt Michael Shull, ein Astronom an der University of Colorado in Boulder, erfordere Annahmen über die Temperaturverteilung und die räumliche Verteilung des heißen Gases. Und wegen der Stapelung von Signalen, »macht man sich immer Sorgen um ›schwache Signale‹, die das Ergebnis der Kombination großer Datenmengen sind«, sagt er. »Wie man manchmal bei Meinungsumfragen sieht, kann man fehlerhafte Ergebnisse erhalten, wenn man Ausreißer oder Verzerrungen in der Verteilung hat, die die Statistiken verzerren.«

Auch wegen dieser Bedenken hielten die meisten Kosmologen den Fall der fehlenden Materie noch nicht für erledigt. Gefragt war eine unabhängige Messung des heißen Gases. Seit diesem Sommer liegt sie vor.

Gestapelte Galaxienpaare | Streuung der kosmischen Hintergrundstrahlung an heißem Galaxiengas (Sunyaev-Zel'dovich-Effekt; von Lila nach Gelb nimmt der Effekt zu): (a) für sämtliches Gas innerhalb von einer Million Galaxienpaaren; (b) nur für die umgebende Materie in Galaxien (in den so genannten Halos); (c) Unterschied zwischen Modell und Beobachtung.

Quasar als Leuchtturm

Während die ersten beiden Forscherteams die Signale aufeinanderstapelten, verfolgte ein drittes Team einen anderen Ansatz. Es beobachtete einen fernen Quasar – ein helles Leuchtfeuer, das einige Milliarden Lichtjahre entfernt ist – und nutzte ihn, um Gas in den scheinbar leeren, intergalaktischen Räumen zu detektieren, durch die das Quasar-Licht reiste. Es war, als würde man den Strahl eines fernen Leuchtturms benutzen, um den Nebel um ihn herum zu studieren.

Wenn Astronomen dies tun, versuchen sie normalerweise, nach Licht zu suchen, das von atomarem Wasserstoff absorbiert wurde, da er das am häufigsten vorkommende Element im Universum ist. Leider war diese Option nicht verfügbar. Das heiße ionisierte intergalaktische Medium ist so heiß, dass es Wasserstoff ionisiert und sein einzelnes Elektron entfernt. Das Ergebnis ist ein Plasma aus freien Protonen und Elektronen, die kein Licht absorbieren.

Also entschied sich die Gruppe, nach einem anderen Element zu suchen: Sauerstoff. Während es im Raum zwischen den Galaxien nicht annähernd so viel Sauerstoff gibt wie Wasserstoff, hat atomarer Sauerstoff acht Elektronen – viel mehr als Wasserstoff. Die Wärme des heißen intergalaktischen Mediums entfernt die meisten dieser Elektronen, aber nicht alle. Das Team unter der Leitung von Fabrizio Nicastro vom Nationalen Institut für Astrophysik in Rom verfolgte das Licht, das vom Sauerstoff absorbiert wurde, der alle bis auf zwei seiner Elektronen verloren hatte.

Sie fanden zwei »Taschen« mit heißem, intergalaktischem Gas. Mit dem Sauerstoff »spürt man das viel größere Reservoir an Wasserstoff- und Heliumgas auf«, sagt Shull, der zu Nicastros Team gehört. Die Forscher extrapolierten dann die Gasmenge, die sie zwischen der Erde und diesem speziellen Quasar fanden, auf das Universum als Ganzes. Das Ergebnis deutete darauf hin, dass sie die fehlenden 30 Prozent gefunden hatten.

Die Zahl stimmt auch gut mit den Ergebnissen der CMB-Untersuchungen überein. »Die Gruppen betrachten verschiedene Teile des gleichen Puzzles und kommen zur gleichen Antwort, was angesichts der Unterschiede in ihren Methoden beruhigend ist«, sagt Mike Boylan-Kolchin, ein Astronom an der University of Texas, Austin.

Der nächste Schritt, so Shull, ist die Beobachtung von mehr Quasaren mit Röntgen- und Ultraviolett-Teleskopen der nächsten Generation mit höherer Empfindlichkeit. »Der Quasar, den wir beobachteten, war der beste und hellste Leuchtturm, den wir finden konnten. Andere werden schwächer sein, und die Beobachtungen werden länger dauern«, sagt er. Aber im Moment ist die Sache klar. »Wir kommen zu dem Schluss, dass die vermissten Baryonen gefunden wurden«, schreibt das Team.

Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und redigierte Fassung des Artikels »The Last of the Universe's Ordinary Matter Has Been Found« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.

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