»Vesuvius Challenge«: 700 000 Dollar für die Entschlüsselung einer antiken Schriftrolle
Im Jahr 79 brach eine Katastrophe über Pompeji und seine Nachbarorte herein: Der heute noch aktive Vesuv spie Massen an heißer Asche, Gasen und Bimsstein aus, wodurch tausende Menschen starben und die Städte begraben wurden. Doch nicht alles war unwiederbringlich zerstört. Im antiken Herculaneum wurde Anfang des 18. Jahrhunderts eine römische Villa gefunden, die etwa 800 Papyrusrollen in ihrem Inneren barg. Das Problem: Das Material war so empfindlich, dass bloße Berührung es zerbröckeln ließ. Die Fundstücke auszurollen und zu entziffern, kam also nicht in Frage. Doch nun ist es Youssef Nader, Luke Farritor und Julian Schilliger im Rahmen der »Vesuvius Challenge« gelungen, etwa 2000 Zeichen einer Schriftrolle zu entschlüsseln und damit einen bislang unbekannten Text der epikureischen Philosophie offenzulegen, was ihnen ein Preisgeld von umgerechnet 650 000 Euro einbringt.
Um das Geschriebene in den Papyrusrollen sichtbar zu machen, sind einige technische Tricks nötig. Das Team um den Informatiker Brent Seales an der University of Kentucky beschäftigt sich schon seit mehreren Jahren mit den Papyrusrollen und rollt sie auf virtuelle Weise aus. Zunächst scannen die Forscherinnen und Forscher dazu die Rollen mit Computertomografen und nutzen dann ein Computerprogramm zum Segmentieren, das die einzelnen Schichten der Rolle auflöst. Eine andere Software öffnet sie anschließend virtuell, um die Schrift im Inneren offenzulegen. Allerdings wurden die Herculaneum-Texte mit kohlenstoffbasierter Tinte verfasst, die unter den mit Teilchenbeschleunigern aufgenommenen CT-Scans kaum fluoresziert. Dennoch ging Seales davon aus, dass sich die Schrift durch Unterschiede in der Textur sichtbar machen lassen sollte – mit Hilfe von KI-Modellen, die darauf trainiert wurden.
Als die Tech-Unternehmer Nat Friedman und Daniel Gross von diesen Bemühungen hörten, entschlossen sie sich, im März 2023 einen Wettbewerb auszurufen, die »Vesuvius Challenge«: Sie forderten die Welt dazu auf, die Forscher bei der Entschlüsselung der wiederhergestellten Textfragmente zu unterstützen. Bereits im darauf folgenden Herbst gab es einen ersten Teilerfolg, als Nader, ein ägyptischer Doktorand in Berlin, und der US-amerikanische College-Student Farritor ein Wort entzifferten, das »purpurfarben«, »purpurfarbene Kleidung« oder »Purpurfarbstoff« heißen könnte. Die beiden schlossen sich anschließend mit Schilliger zusammen, der in Zürich Robotik studiert und zuvor Fortschritte bei der Softwareentwicklung zur Segmentierung der Rollen gemacht hatte.
Das Trio schaffte es, 2000 Zeichen einer Papyrusrolle zu entschlüsseln und damit etwa fünf Prozent des gesamten Inhalts zu offenbaren. Der Text handle von Freude und Genuss, berichtet die »Vesuvius Challenge« auf ihrer Website, dem wohl höchsten Gut aus Sicht der epikureischen Philosophie. Der Autor beschäftigte sich mit der Frage, ob und wie die Verfügbarkeit von Gütern wie Lebensmitteln den Genuss, den sie bereiten, beeinflusst – und kam dabei zu einem klaren Schluss: »Wie auch bei den Lebensmitteln glauben wir nicht sofort, dass Dinge, die knapp sind, absolut angenehmer sind als solche, die im Überfluss vorhanden sind«, lautet die Übersetzung. Wer der Autor der Schriftrolle ist, steht nicht gesichert fest. Doch einiges deute auf den Philosophen Philodemos, der in der Villa in Herculaneum gelebt hatte, bestätigt auch der Gräzist Richard Janko von der University of Michigan.
Um sicherzustellen, dass die Ergebnisse korrekt sind, haben sowohl die Wettbewerber als auch der Ausschuss der »Vesuvius Challenge« die übersetzten Schriftstücke manuell überprüft. So konnten sie ausschließen, dass die zur Entschlüsselung genutzte KI nicht halluzinierte oder die Wettbewerbsteilnehmer etwas falsch interpretierten. Zudem wurden verschiedene KI-Systeme verwendet, um ein und denselben Textausschnitt zu untersuchen – die alle ein vergleichbares Ergebnis lieferten.
Mit diesem beeindruckenden Resultat ist der Wettbewerb nicht beendet. Das Ziel sei nun, eine Schriftrolle vollständig zu entschlüsseln, schrieb Friedman am 5. Februar 2024 auf X. Dafür werde das erste Team, das 90 Prozent der Rolle entziffere, mit 100 000 US-Dollar belohnt. Insgesamt gibt es noch etwa 16 Megabyte an Text, die darauf warten, geknackt zu werden. Doch die antike Villa im früheren Herculaneum wurde nur teilweise ausgegraben: Archäologen vermuten, dass im Untergrund noch tausende weitere Schriftrollen liegen könnten.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.